
Adler, Alfred: Über den nervösen Charakter (1912). Hrsg. von
Karl-Heinz Witte, Almuth Bruder-Bezzel und Rolf Kühn. Alfred
Adler Studienausgabe Band 2, Vandenhoeck
und Ruprecht, 2., korrigierte Auflage, Göttingen 2008 (1997).
438 Seiten, gebunden.
Adler, Alfred: Der Sinn des Lebens (1933) und Religion und
Tiefenpsychologie (1933). Hrsg. von Reinhard Brunner und Ronald
Wiegand. Alfred Adler Studienausgabe Band 6, Vandenhoeck &
Ruprecht, Göttingen 2008. 252 Seiten, gebunden.
Alfred
Adler (1870-1937) war zwischen 1902 und 1911 der beachtlichste
Mitstreiter Sigmund Freuds, ehe er sich im Dissens trennte und seine
eigene Schule, die Individualpsychologie, gründete. Im Auftrag
der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie gibt der in
Göttingen ansässige Verlag Vandenhoeck und Ruprecht die
wichtigsten Werke dieses bedeutenden Psychologen in einer sorgfältig
edierten Studienausgabe heraus. Nachdem Ende 2007 die Bände 1
und 5 mit den Frühschriften und dem Buch Menschenkenntnis
erschienen sind, folgten im Sommer 2008 die Bände 2 und 6 dieser
auf insgesamt sieben Bände angelegten Edition. Band 2 beinhaltet
Adlers zentrales Werk Über den nervösen Charakter,
erschienen erstmals 1912, während Band 6 zwei Spätwerke
aufnimmt: Der Sinn des Lebens und Religion und
Tiefenpsychologie, beide aus dem Jahre 1933. Eines der
Hauptmerkmale dieses Unternehmens ist es, durch Textvergleiche der
verschiedenen, zu Adlers Lebzeiten erfolgten Auflagen die Entwicklung
der Theorie der Individualpsychologie nachvollziehbar zu machen.
Anhand des
programmatischen Hauptwerkes Über den nervösen
Charakter lässt sich das Vorhaben exemplarisch
veranschaulichen. Unmittelbar nach seiner Trennung von Sigmund Freud
1911 erschienen, dokumentiert es den Abschluss der inhaltlichen
Auseinandersetzung Adlers mit Freud und den Beginn einer neuen Ära,
den Beginn der Individualpsychologie als eigenständige Schule.
Im deutschsprachigen Raum hat das Werk zu Adlers Lebzeiten vier
Auflagen erfahren: 1912, 1919, 1922 und 1928. Adler hatte jede dieser
Auflagen verändert und dem jeweiligen theoretischen und
begrifflichen Stand angepasst. Die vorliegende textkritische Ausgabe
basiert auf der Originalfassung von 1912 und stellt alle Varianten
und Veränderungen in den drei folgenden Ausgaben dar. In einem
zweiten Teil werden diese Texte durch Kommentare ergänzt. Es
sind Erläuterungen zu den von Adler genannten oder zitierten
Autoren und zu einzelnen Fachbegriffen. In der Erstauflage ist die
Auseinandersetzung mit Freud noch am unmittelbarsten. In späteren
Auflagen wird Adler fast jeden Bezug zu Freud und vor allen Dingen
seinen Namen streichen.
Adlers
Grundannahmen über das Seelenleben sind in wenigen Sätzen
skizziert: Für ihn ist das Individuum eine „zielgerichtete
Einheit“, welche auf der Basis ubiquitärer
Minderwertigkeitsgefühle einen Lebensplan entwirft, welcher
dieses Minus-Gefühl überwinden und in Überlegenheit
und Geltung ummünzen möchte. Das ist der Lebensplan, die
Leitlinie, der Lebensstil oder die leitende Idee. Charakter ist das
Ergebnis dieser Umformung. Indem Adler diese Dynamik in den
Mittelpunkt stellte, grenzte er sich strikt von der Theorie Freuds
ab, der alle individuelle Entfaltung als Ergebnis libidinöser
Entwicklung ansah.
In den von
Auflage zu Auflage erfolgten Veränderungen sticht insbesondere
die Einführung des Begriffs "Gemeinschaftsgefühl"
in der 2. Auflage von 1919 hervor. Schon einige Jahre zuvor hatte
Adler immer wieder die Rolle des Menschen als Gemeinschaftswesen
hervorgehoben. Jetzt aber wurde Gemeinschaftsgefühl ein
zentraler Bestandteil seiner Theorie. Wie und warum Adler während
des Ersten Weltkrieges das Gemeinschaftsgefühl entdeckte, wird
wohl immer im Dunkeln bleiben. Meinte Adler die Erfahrung der
Gemeinschaft von Soldaten oder zielte er auf die Notwendigkeit zum
friedlichen Miteinander der Staaten? Adler äußerte sich
nie eindeutig darüber, wie er als Kriegspsychiater die
sogenannten Kriegsneurotiker und Kriegszitterer behandelt hat. Nur
indirekt erhalten wir Kunde davon durch die viermalige Erwähnung
eines Albtraumes, welcher vom Dilemma handelt, einen angstgestörten
Soldaten zurück an die Front schicken zu müssen.
Mit der
Hervorhebung des Gemeinschaftsgefühls als absolutes Ziel sowohl
für das Individuum als auch für die Gattung Mensch kommt
ein starker moralischer Zungenschlag in die Individualpsychologie,
begleitet von einer moralischen Verurteilung des sogenannten
Neurotikers. Diesem werden nun Irrtümer und Verfehlungen
vorgeworfen und überhaupt seiner Verantwortung für die
eigene Entwicklung starkes Gewicht beigelegt, während
Erfahrungen der Kindheit und des Jugendalters in den Hintergrund
treten. Irrtum und Verfehlung liegen nun darin, zu wenig
Gemeinschaftsgefühl zu haben. Was Adler damit genau meinte, ist
nicht wirklich zu eruieren. Aus seinen Fallbeispielen kann man
entnehmen, dass er erwartete, dass sich ein jeder in die Arbeitswelt
einordnet, mit seinen Mitmenschen sorgsam umgeht, beizeiten heiratet
und zu seinen Kindern freundlich ist.
Die dritte
Auflage von 1922 fällt in den Aufschwung der Wiener
Sozialdemokratie, die mit weitreichenden Reformen auch im
pädagogischen Bereich internationale Anerkennung erhielt. Die
pädagogische Erziehung der neuen Republik war maßgeblich
von Adlerianern geprägt. Die 4. Auflage 1928 erscheint auf dem
Höhepunkt der individualpsychologischen Bewegung in West-Europa
und Nordamerika. Große inhaltliche Änderungen erfolgten
nicht mehr. Die Herausgeber sind der Auffassung, dass dieses Buch von
Adler über die Jahre hinweg als programmatisches, die
individualpsychologische Schule verbindendes Werk angesehen wurde
(Einleitung, S. 13).
Einen
wirklichen Aufbau und eine nachvollziehbare Systematik hat dieses
Werk nicht. Zwar ist es formell in einen theoretischen und einen
praktischen Teil gegliedert, doch vermischen sich Praxis und Theorie in
beiden Teilen. Adlers Stil ist aphoristisch und wenig diskutierend,
eine echte Auseinandersetzung mit Freud findet nicht statt, und die
wenigen Hauptgedanken werden in nur unwesentlicher Variation ständig
wiederholt. Er entwickelt keine Begriffe und die Beispiele belegen in
der Regel nicht seine Theorie. Die Herausgeber schreiben zu Recht:
"Aus diesen Gründen ist die Lektüre des Nervösen
Charakters langatmig, manchmal sogar ärgerlich."
(Einleitung S. 15) Es gibt keine einzige Untersuchung zur Stützung
seiner Theorie, die Adler anführen oder zitieren könnte.
Schon die Grundannahme - ein in jedem Menschen waltendes
Minderwertigkeitsgefühl - ist nicht bewiesen und vermutlich
nicht nachweisbar. Die Annahme einer „freien“ und
willkürlichen Reaktion des Kindes auf seine frühen Lebens-
und Umweltbedingungen wird wohl heute niemand mehr annehmen. Die
geradezu deterministische Annahme eines Macht- und
Überlegenheitsstrebens als angeblich einzige
Kompensationsmöglichkeit des Minderwertigkeitsgefühls ist
eindimensional. Das Gemeinschaftsgefühl als kategorischer
Imperativ Adlers ist eigentlich keine psychologische Kategorie
mehr. Als philosophische Idee ist sie ansprechend, aber in
praktisch allen Dimensionen undurchdacht. Die kühne Idee vom
Gemeinschaftsgefühl als wünschenswertes Ziel aller
menschlichen Bestrebungen ist für die Beurteilung des
Alltagshandelns nur bedingt tauglich. Er ahnte es und hob das
Gemeinschaftsgefühl heraus aus dem täglichen Leben und
verpflanzt es in eine unbestimmte Zukunft einer unbestimmten
Gesellschaft mit gesichtslosen Gutmenschen. Adlers
Gemeinschaftsgefühl ist nicht von dieser Welt.
Für
Adler war es wichtig, diese Psychologie einem breiten Publikum
darzulegen; Menschenkenntnis solle kein Fach für eine kleine
Elite, sondern Grundstock eines jeden Menschen sein. Und in der Tat
ist die Individualpsychologie wesentlich eingängiger als die
Psychoanalyse, sowohl im Aufbau als auch in der Darstellung. Adler
war einigermaßen belesen und in diesem Buch werden häufig
Namen bedeutender Zeitgenossen genannt. Den Herausgebern fällt
allerdings auf, dass er oftmals nur Namen fallen ließ und
selten wirklich zitiert; die dahinter stehende Problematik
diskutierte er nie (S. 15). Einflüsse lassen sich vage
nachweisen für Friedrich Nietzsche, Immanuel Kant, Hans
Vaihinger, Avenarius und Jerusalem (1854 bis 1923), letztgenannter
ein Professor für Philosophie an der Universität Berlin.
Was Adler beispielsweise mit Nietzsche verband, bleibt rätselhaft:
Nietzsches menschenverachtender Geniekult steht in diametralem
Gegensatz zu Adlers sozialer Grundhaltung. Der Kommentar-Anhang gibt
gleichwohl gewissenhaft edierte Hinweise auf von Adler erwähnte
Personen und Fachbegriffe. Die Personen- und Sachverzeichnisse sind
sorgfältig zusammengestellt. Der Band schließt mit einer
Seitenkonkordanz der ersten Auflage von 1912, der Taschenbuchausgabe
von 1972, einer schon 1997 im gleichen Verlag erschienenen
kommentierten Erstauflage und der Studienausgabe Band 2 von 2008.
Der
Sinn des Lebens und Religion und Tiefenpsychologie in Band
6 sind Alterswerke von unterschiedlicher Qualität. Der Text Der
Sinn des Lebens bietet eine relativ umfassende Sicht auf die
zentralen Positionen des späten Adler, die man so in keiner
seiner weiteren Arbeiten findet. Die 15 Kapitel des Buches befassen
sich nicht nur mit dem Sinn des Lebens, sondern mit weiteren Themen,
die Adler schon früher beschäftigt haben: dem Lebensstil,
den drei Aufgaben des Lebens, dem Minderwertigkeits- und dem
Überlegenheitskomplex, der Neurose, den ersten
Kindheitserinnerungen, den Perversionen und den Träumen. Zudem
erfährt das zentrale Thema „Gemeinschaftsgefühl“
eine umfassende Ausdeutung.
Der Sinn
des Lebens ergibt sich für Adler aus dem Beitrag des Individuums
für das Wohl der gesamten Menschheit und für ihre
Höherentwicklung (S. 162). Die Annahmen über den Sinn des
Lebens zeigen neben einer speziellen, heute überholten
Evolutionstheorie auch eine metaphysische Orientierung. Der Mythos
könnte als Paradies-Mythos bezeichnet werden: das „wahre
Gemeinschaftsgefühl“ – ein tiefes Gefühl der
Zugehörigkeit und des Verbundenseins mit der Schöpfung und
den Mitmenschen – werde erst in einer späteren
Gesellschaft zum Tragen kommen. Adler stellt heraus, dass das
Individuum „nur dann weiterkommt, wenn es als Teil des Ganzen
lebt und strebt“ (S. 164), und er geht davon aus, dass der
Mensch nur dann richtig handelt, „ wenn er in seinem Interesse
mit der Außenwelt, mit den anderen verbunden ist“ (ebda).
Im 10.
Kapitel „ Was ist wirklich eine Neurose?“ vertritt er die
Annahmen, dass der Neurotiker mit Hilfe seines Leidens und seiner
Symptome versucht, die Offenbarung seiner Wertlosigkeit zu verdecken
(S. 101). Lieber flüchtet er in eine Krankheit, als sein
Überlegenheitsgefühl zusammenbrechen zu sehen. Adler wendet
sich damit erneut gegen die Konflikttheorie der Psychoanalyse.
Konflikte, so Adler, gebe es immer und überall. Der Rückgriff
auf innere oder äußere Konflikte trage deshalb nichts zur
Erklärung einer Neurose bei (S. 98).
Zwei
weitere Prinzipien kennzeichnen Adlers Menschenbild: das der
Ganzheitlichkeit und das der Einheit. Diese beiden Begriffe besagen
im wesentlichen, dass jeder Mensch immer er selbst ist und letztlich
immer nur ein Ziel kennt, das der Überlegenheit über
andere. So wie Adler das Konfliktmodell ablehnt, so verwirft er auch
das psychoanalytische Instanzenmodell, welches von innerpsychischen,
widerstreitenden Motiven ausgeht. Schließlich lehnt Adler
ausdrücklich auch einen Determinismus und eine Kausalität
im Seelenleben ab, führt diese aber durch die Hintertür
wieder ein, wenn er behauptet, dass mit drei oder vier Jahren
Charakter und Lebensstil feststehen, diese immer fehlerhaft oder
falsch sind und sich nicht mehr ändern (S. 205, Zeile 22 bis
39). Adler weist an einigen Stellen auf statistische
Wahrscheinlichkeiten im Ablauf eines seelischen Geschehens hin, aber
in seinen sämtlichen Schriften findet sich keine Statistik, auch
weil Adler niemals seine Aussagen empirisch überprüfen ließ
(beispielsweise zu den Auswirkungen der Stellung in der
Geschwisterreihe).
Die
Einschätzung der wissenschaftlichen Qualität dieser Arbeit
fällt folglich recht gemischt aus. Einig sind sich die Kritiker
über die mangelnde wissenschaftliche Begründung und
Bedeutsamkeit des Gemeinschaftsgefühls (Stepanski 1981, Witte
1988, Tenbrink 1998, Bruder-Bezzel 2000, Metzger 1973). Ansbacher
hingegen würdigte 1981 die Bedeutung des Gemeinschaftsgefühls
als richtungsweisendes Ideal, als evolutionäres Moment, als
pädagogisches Mittel und als präventives, diagnostisches
und psychotherapeutisches Instrument, das Adler stimmig und
fassettenreich im Sinn des Lebens dargestellt habe. Ansbacher
war es auch, der die Ausgestaltung des Gemeinschaftsgefühls
durch den späten Adler als Entwicklung der Individualpsychologie
zu einer Wertepsychologie und einer Psychologie der
Selbsttranszendierung herausgestellt hat.
Außerhalb
der individualpsychologischen Schulen haben die zentralen Annahmen
Adlers wenig Resonanz erfahren. Ohne Zweifel überwindet Adler
die Triebpsychologie Freuds durch eine Theorie der Selbst- und
Beziehungsregulation, aber die Begrenzung auf ein einziges Motiv –
das Überlegenheitsstreben – führt diese Innovation in
die gedanklich Enge. Vielleicht aus diesem Grunde konnte Adler in der
Selbstpsychologie, in der Transpersonalen Psychologie und in der
Sozialpsychologie keine große Rolle spielen. Es ist fraglich,
ob die Aktualität der zentralen Annahmen in Der Sinn des
Lebens in einer Zeit der Globalisierung und Umweltgefährdung
„unübersehbar“ ist, wie Herausgeber Reinhard Brunner
in seiner Einleitung (S.21) meint.
Und zwar
aus mehreren Gründen: Zum einen hat Adler keine Theorie der
Individualität. Die Entwicklung einer Person besteht aber doch
wohl in einem Oszillieren zwischen Einsamkeit und Gemeinschaft. Viele
Psychologen und Philosophen haben darauf hingewiesen, wie wichtig der
periodische Rückzug des Einzelnen auf sich selbst für seine
Entwicklung ist. Die Gemeinschaft und das Gemeinschaftsgefühl
erfassen allenfalls die Hälfte des psychischen Kosmos. Zum
Zweiten hat Adler keine Theorie der Differenz und des Konflikts.
Weder sieht er innerpsychische Konflikte noch Konflikte zwischen
unterschiedlichen Interessen zwischen den Menschen. Seine Utopie
peilt eine allumfassende Harmonie zwischen den Menschen an, die es so
niemals geben wird, außer in einer gleichgeschalteten Diktatur.
Drittens hat Adler keine Idee von Gesellschaft bzw. er ignoriert
zentrale Ebenen des Alltags vollständig, beispielsweise fehlen
die Arbeitswelt und die konkreten Emanzipationsschritte der Frauen
nach dem Ersten Weltkrieg völlig. Adlers Gemeinschaft ist eine
Gemeinschaft der Harmonie, die keine irritierende Individualität
kennt. Sie scheint damit dem Konfuzianismus und Buddhismus näher
als der modernen westlichen Welt. Viertens war Adlers Vorstellung von
Evolution wahrscheinlich schon damals überholt. Der „Untergang“
von Individuen oder Spezies ist möglicherweise auch, aber nie
ausschließlich eine Folge mangelnder Anpassung „an die
kosmischen Forderungen“. Man muss deshalb – sechstens –
kritisieren, dass Adler die äußeren Einflüsse und den
Einfluss des Zufalls deutlich unterschätzt. Davon unabhängig
ist Adlers Appell an die Bejahung des Lebens und die Versöhntheit
mit demselben ohne weiteres zu folgen. Dieses Ziel ist schön,
aber vage, und seine konkrete Umsetzung wird jene Konflikte und
Auseinandersetzungen mit sich bringen, die Adler beharrlich
ignorierte.
Anders als
Freud oder Nietzsche übte Adler keine kämpferische
Religionskritik, denn er sah in den religiösen Weltauslegungen
menschheitliche Erkenntnisleistungen, die nur dann zu einem
neurotischen Muster werden, wenn sie in starrer Weise gehandhabt
werden. Das Buch ist eine freundliche Auseinandersetzung über
Seelsorge und Psychotherapie. In der ersten Auflage 1933 schrieb
zunächst der Berliner Pfarrer Ernst Jahn seine Gedanken dazu
nieder. Der Therapeut könne Verkrampfungen der Psyche lösen,
doch für die Erlösung sei die Kirche zuständig.
Der neurotische Zusammenbruch des Ich ist für religiöse
Menschenführung wie für Psychotherapie die Voraussetzung
eines neuen Lebens, für den Religiösen aus Gottesgnade, für
den Therapeuten aufgrund menschlicher Vernunft. Herausgeber Ronald
Wiegand gibt einen kurzen Überblick über die Ausführungen
Jahns. Adler antwortete darauf ausführlich und darauf folgt noch
einmal eine Antwort Jahns, auf die Adler dann nicht mehr eingeht.
Diese drei Teile sind Bestandteile des eigentlichen Buches von 1933,
doch die Studienausgaben beschränkt sich sinnvoller Weise
darauf, nur den Adler-Teil in Gänze abzudrucken.
Beide
Autoren gehen sehr freundschaftlich und vorsichtig miteinander um,
doch bleiben sie in der Sache konsequent. Jahn betont beispielsweise,
dass in der Therapie der Mensch im Mittelpunkt steht, in der
Theologie jedoch Gott. Der Therapeut spende sozusagen Gnade, als
Theologe könne er diese Gnade jedoch nur von Gott empfangen.
Etwas ängstlich beobachtet Jahn die Bestrebungen der
Psychotherapie, den Menschen von seinen Hemmungen zu befreien. Für
Jahn müsse der Mensch mit Hemmungen leben, um seine Triebe im
Zaum zu halten, um gemeinschaftsfähig zu bleiben, wofür ja
auch Adler in seinen Reden von der Gemeinschaft plädiere. Doch
wenn Adler seinen Gemeinschaftsbegriff an der Urgemeinschaft zwischen
Mutter und Kind orientiert und somit den Erziehungswert der Familie
anerkennt, zugleich auf die allumfassende Gemeinschaft aller Menschen
in Harmonie hin orientiert, dann lasse er das Zwischenglied aus,
nämlich die „Volksgemeinschaft“. Das
Gemeinschaftsbewusstsein finde im "Volkstum" seinen
stärksten Ausdruck. Hier werden die Ausführungen Jahns
problematisch.
In dem
Bestreben, Jahn, den christlichen Kirchen und der Theologie nicht weh
zu tun, lässt sich Adler so manche Entkräftung religiösen
Glaubens entgehen. Wenn Gott die glänzendste Idee von
Vollkommenheit darstellt, wie kann er dann Unvollkommenes zulassen?
Die Texte sind von dem offensichtlichen Bemühen durchdrungen,
die Gemeinsamkeiten zu benennen und die Unterschiede nicht zu krass
ausfallen zu lassen. Religiosität sei ein Entwicklungsstadium
hin zu einer vernunftmäßigen Wissenschaftlichkeit. Die
Gemeinsamkeiten zwischen Individualpsychologie und Religion
bestünden, so Adler, in Hinblick auf das Ziel der Vollkommenheit
der Menschheit.
Logisch
ist Adler, wie schon weiter oben ausgeführt, nicht auf der Höhe.
Ist wirklich jeder Mensch bestrebt, zu einer idealen Gemeinschaft und
zur Vollkommenheit zu gelangen? Der Lackmus-Test dafür sind die
konkreten Handlungen, deren Wirkungen sich doch wohl aber erst im
Laufe der Geschichte und nicht aktuell bewerten lassen. Andererseits
ist die ideale Gemeinschaft bei ihm eine Utopie und niemals zu
erreichen. Die Utopie ist notwendig, aber unerreichbar, die
Hindernisse sind unbekannt, aber der Weg dorthin ist vorgezeichnet.
Und wie lebt es sich in einer Gesellschaft, die nur
Gemeinschaftsgefühl kennt? Auf alle diese Fragen bleibt Adler
eine Antwort schuldig. Adler muss konstatieren, dass es die Religion
mit ihrer Gottesidee in dieser Hinsicht einfacher hat.
Der Text
hat nichts von der argumentativen Schärfe oder geistigen
Brillanz eines Ludwig Feuerbach oder Friedrich Nietzsche, die das
Christentum und den Gottesglauben grundlegend demontierten. Adlers
Anliegen ist auch ein anderes. Er möchte die
Individualpsychologie einem Theologen erläutern und näher
bringen und greift dabei auf einige durchaus bestehende
Übereinstimmungen zurück, ohne die Unterschiede zu
verwischen. Letztlich sieht Adler in der christlichen Religiosität
einen natürlichen Mitstreiter oder Verbündeten, den man
zwar nicht in die Individualpsychologie integrieren könne, mit
dem man aber eine Zeit lang zusammen marschieren sollte. Adler
anerkennt den Gottesglauben und die Religiosität als bestehende
Tatsachen, aber er sieht darin etwas zu Überwindendes, etwas,
was durch die Individualpsychologie ersetzt werden könne und
müsse. Diese Idee ist so außerordentlich wie vermessen –
eine kaum zwanzigjährige Individualpsychologie gegen ein
zweitausendjähriges Christentum! Das Buch wird abgerundet durch
kurze Hinweise auf die von Adler erwähnten Personen in Religion
und Individualpsychologie, ferner ein Verzeichnis der zitierten
Literatur sowie ein Personenverzeichnis und ein akribisches
Sachregister.
Sympathie
und Distanz gegenüber Adler halten sich nach der Lektüre
die Waage, Bewunderung vor einem großen Leben darf nicht
Blindheit vor dessen Widersprüchen bedeuten. Was immer wir
Heutigen an Adler zu kritisieren haben – wir haben gute Gründe
dafür. Ein- und Gegenreden sind nötig, aber eben auch nur
möglich vor dem Hintergrund eines tiefen Respekts vor einer
beeindruckenden Lebensleistung.
Gerald Mackenthun,
Berlin/Magdeburg, September 2008

Verlagsinformationen
- Alfred Adler:
Persönlichkeit und neurotische Entwicklung. Frühe
Schriften (1904 bis 1912), Alfred Adler Studienausgabe Band 1:
herausgegeben von Almuth Bruder-Bezzel. Vandenhoeck und Ruprecht,
Göttingen 2007, 291 S., ISBN 978-3-525-46051-1,
Einzelband 37,90 €. – Verlagsinformationen
über Band 1 (Frühe Schriften 1904-1912):
http://www.v-r.de/de/titel/352546051/
- Verlagsinformationen
über Band 2 (Über den nervösen Charakter):
http://www.v-r.de/de/titel/352546053/
- Alfred Adler:
Menschenkenntnis (1927). Alfred Adler Studienausgabe Band
5: herausgegeben von Jürg Rüedi. Vandenhoeck und
Ruprecht, Göttingen 2007, 235 S., ISBN 978-3-525-46052-8,
Einzelband 37,90 €. – Verlagsinformationen
über Band 5 (Menschenkenntnis):
http://www.v-r.de/de/titel/352546052/
- Verlagsinformationen
über Band 6 (Der Sinn des Lebens; Religion und
Individualpsychologie):
http://www.v-r.de/de/titel/352540554/
Literaturhinweise:
Ansbacher,
Heinz (1981) "Die Entwicklung des Begriffs 'Gemeinschaftsgefühl'
bei Adler". In: ZfIP 6; S. 177-1894, hier S. 191 ff
Ansbacher
und Ansbacher (1972 b) Alfred Adlers Individualpsychologie:
Eine systematische Darstellung seiner Lehre in Auszügen aus
seinen Schriften. München und Basel
Bruder-Bezzel,
Almuth (2000) "Welchen Adler lieben wir?" In: ZfIP 25: S.
272-288
Rezension der Bände
1 und 5 unter adler1_5.html
Oder in der nächstgelegenen
Buchhandlung! So landen die Steuereinnahmen zumindest in
"unserem" Steuersäckel, was theoretisch eine
Investition in Bildung und Erziehung ermöglichen würde.
In Bonn-Bad Godesberg z.B. in der
Parkbuchhandlung

