Hacking, Ian: Multiple Persönlichkeit Zur Geschichte der Seele in der
Moderne. Aus dem Amerikanischen von Max Looser. Carl Hanser Verlag, München Wien 1996, 414 S.
In den USA tobt ein Kampf um Patienten mit gespaltener Persönlichkeit, deren
Zahl in den vergangenen zwei Jahrzehnten dort - und nur dort - sprunghaft
angestiegen ist. Der Hauptgrund für die erstaunliche Karriere dieser Krankheit
in den USA und ihrer außerordentliche Seltenheit in Europa liegt nach Ansicht
von Ian Hacking, Philosophieprofessor an der Universität Toronto (Kanada), in
der amerikanischen Obsession für den sexuellen Kindesmißbrauch. Wie ein Parasit,
behauptet Hacking in einem neuen Buch über "Multiple Persönlichkeit", habe sich
das Konzept von der mehrfach gespaltenen Seele an den Kindesmißbrauch geheftet,
beide bräuchten sich gegenseitig, um zu gedeihen.
Der Hauptanlaß für den Zerfall wird in der sexuellen Bedrängnis im
Kindesalter angesehen. Nach herrschender Auffassung konnte dies nur bewältigt
werden, indem die traumatischen Erlebnisse in abgespaltene
Persönlichkeitsanteile mit Eigencharakter "abgelegt" wurde. Unter dem Einfluß
von Psychotherapie erinnern sich Frauen plötzlich an diese oft Jahrzehnte
zurückliegenden Ereignisse.
In den USA wurden in den vergangenen 20 Jahren etwa 6 000 Menschen mit
"alternativen" Persönlichkeitsausformungen diagnostiziert - Tendenz steigend.
Aus keinem anderen Land der Erde wird eine solche Entwicklung berichtet. Um zu
erklären, wie es zu diesem seltsamen Phänomen kommen konnte, taucht der
kanadische Wissenschaftler tief und etwas langatmig in die Geschichte der
Suggestion, der Hypnose, des Somnabulismus, der Hysterie und der Schizophrenie
des vorigen Jahhunderts ein, um beim Kindesmißbrauch der 80er Jahre dieses
Jahrhunderts wieder aufzutauchen.
Hacking ist der Meinung, daß die Begriffe, die in der überbordenden
Presseberichterstattung über das Thema zur Verfügung gestellt werden,
"ansteckend wirken" und labile Menschen zur Darbietung einer
Persönlichkeitsspaltung animieren. Ihn beschäftigt also nicht die Frage, ob es
diese Form seelischer Anomalie wirklich gibt, vielmehr, welche
"Gedächtnispolitik" von Ärzten, Wissenschaftlern und Betroffenen betrieben
wurde, um diese Diagnose zum Blühen zu bringen.
Der Autor ist ein in der Wolle gefärbter Skeptiker, was die "multiple
Persönlichkeit" als Krankheitsbild angeht. Mit unerbittlicher Logik legt er
sämtliche Schwachstellen der Multiplen-Bewegung bloß. Zu denken geben peinliche
Widerrufe, wenn Frauen zugeben müssen, daß der Inzest nicht möglich war, den sie
unter Psychotherapie "entdeckt" hatten. Oder die uferlose Dissoziation einzelner
Patienten: Im Schnitt lebt jede diagnostizierte Multiple 16 unterscheidbare
Charaktere, teilweise bis zu 300.
Die multiplen Frauen berichten von satanischen Kulten, erlittenen rituellen
Vergewaltigungen, Kindestötungen sowie erzwungenen Schwangerschaften, um den
Sekten frisches Blut zuzuführen. Eine Hochrechnung ergab, daß in den USA
jährlich 50 000 Ritualmorde stattfinden, sollten die Schilderungen wahr sein.
Immer mehr Multiple behaupten, von Ufos entführt und von Marsmenschen seziert
worden zu sein. Eine Hauptzeugin der Multiplen-Bewegung warf ihren Ärzten vor,
nur zwei ihrer Unterpersönlichkeiten entdeckt zu haben, während es in Wahrheit
viel mehr seien, die zudem schon bei ihrer Geburt vorhaben waren, die aus
früheren Leben mit hinübergenommen wurden.
Die Inzest-Anschuldigung unglücklicher Menschen stürzt die betroffenen
Familien in der Regel in den Abgrund. Die Gegenreaktion ließ nicht lange auf
sich warten. Die Kritiker sprechen von "falscher Erinnerung" (false memory), was
ihnen den Vorwurf einbrachte, sie propagierten den Inzest. Trotzdem ist ihre
Bewegung inzwischen ebenso stark wie die der Multiplen.
Das führt Hacking zur Frage: Wie sicher sind Erinnerungen? In den
Schlußkapiteln listet der Kanadier sämtliche Fehlermöglichkeiten auf und
verstärkt den Eindruck, wohlwollende Therapeuten und höchst suggestionsanfällig
Patientinnen schaukeln sich mit Unterstützung einer sensationsgierigen Presse
gegenseitig auf.
Ein Umdenken scheint angebracht und bahnt sich bereits an. Die Therapie war
bislang darauf angelegt, möglichst alle alternativen Persönlichkeiten zu
entdecken und sie zwecks besserer Unterscheidung mit eigenen Vornamen zu
versehen. Selbst Teile der Multiplenbewegung scheint diese Art der
therapeutischen Ermunterung zu immer weiteren Spaltungen inzwischen fragwürdig.
Der Trend geht jetzt dahin, erläutert Hacking, ein Kern-Selbst zu suchen, zu
stabilisieren und die dissoziativen Teile zu integrieren.
Gerald Mackenthun, Berlin
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