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Yalom, Irvin/Berger,Robert : Ein menschliches Herz btb Verlag, München, 2009, 96 Seiten.


Freundschaft und Grenzerfahrung

Das Beispiel über eine Altersfreundschaft ist dem kleinen Buch "Ein menschliches Herz" entnommen. Darin wird uns sehr eindrücklich, die Reifung und das Vertrauen in einer fünfzigjährigen, tiefen Männerfreundschaft vermittelt. Ein langes, traumatisches Schweigen konnte beendet werden.

Es handelt sich um den autobiografischen Erzähler IRVIN D. YALOM. 1931 wurde er als Sohn jüdisch-russischer Einwanderer in Washington, D.C. geboren. Er ist langjährig verheiratet und hat vier Kinder. Yalom ist emeritierter Professor für Psychiatrie der Universität Standford und Autor zahlreicher wissenschaftlicher Bücher und Romane und gilt als bedeutendster lebender Vertreter der existenziellen Psychotherapie. 2009 erhielt er den Internationalen Sigmund-Freud-Preis für Psychotherapie.

Sein gleichaltriger Freund ist ROBERT L. BERGER . Dieser hatte sich 1944/45 mit siebzehn Jahren allein als jüdischer Flüchtling nach Boston durchgeschlagen. Berger (im Weiteren Bob) ist verheiratet und hat zwei Kinder. Beruflich war er erfolgreich als Herzchirurg und viele Jahre als Professor an der Harvard Medical School tätig. Er hat 250 Fachartikel veröffentlicht und als erster Arzt weltweit ein künstliches Herz implantiert.

Kennen gelernt haben sich die beiden während des Medizinstudium. Irvin schildert Bob als einen emotional zurückhaltenden Mann, der möglichst alles alleine entscheidet, mit sehr lebhaften, blauen Augen und einer hervorragender Intelligenz. Irvin ist in vieler Hinsicht ganz anders. Dennoch verband sie zunehmend nicht nur das berufliche Interesse. Ihre Beziehung entwickelte sich zur Freundschaft, die auch durch Einladungen mit den jeweilige Familien und durch gemeinsame Reisen gepflegt wurde. Beruflich wählten sie verschiedene Fachrichtungen. Bob Berger, als Herzchirurg arbeitet mit organischen Herzen und Irvin Yalom, als Psychiater und Psychotherapeut, an seelischen Herzen.

Nach dem Fest zum fünfzigjährigen Jubiläum der Approbation verlangte Bob dringend ein Gespräch mit seinem alten Freund: "Etwas Schwerwiegendes passiert gerade ... Die Vergangenheit kocht hoch ... Meine beiden Leben Tag und Nacht, fließen ineinander. Ich muss mit dir reden" (S. 8).

Auslöser für Bobs seelische Verfassung mit dem Wunsch zu reden war eine unlängst fast geglückte Entführung auf dem Flughafen von Caracas. Nur sein Hilferuf "Polizei" hatte ihn gerettet. Er war völlig durcheinander. Bisher konnte Bob seine nächtlichen Albträume vom realen Leben trennen. Jetzt aber vermischten sich Erinnerungen aus der Budapesterzeit mit dem aktuellen Geschehen. Seit Beginn der Freundschaft während des Studiums hatte Bob wenig über seine jüdische Vergangenheit berichtet. Irvin reflektierte nachträglich, dass er diesem brisanten Thema ausgewichen war. Er mied bis zu diesem Zeitpunkt, sich den Schreckensbildern zu stellen und vermutet, dass bei ihm unbewusste Schuldgefühle dafür sprechen könnten. Da auch für ihn die Vergangenheit Unbewältigtes enthält (einige Familienmitglieder kamen im Konzentrationslagern um). Das Schweigen war also bis dahin ein gemeinsames unbewusstes Abkommen. Bob war mit fünfzehn Jahren als jüdischer Junge aus einer Marschkolonne ausgebrochen und schlug sich alleine in Budapest durch. Immer lauerte für ihn die Gefahr der Deportation. Zumal er durch die Tätigkeit im Widerstand ständig in aktueller Gefahr lebte, verhaftet, gefoltert oder liquidiert zu werden.

Durch die drohende Gefahr unlängst auf dem Flughafen von Caracas entführt zu werden und sein Hilferuf "Polizei ", öffnete sich sein Erinnerungsvermögen zur früheren lebensbedrohlichen Situation. In allen Einzelheiten standen plötzlich die Ereignisse der Vergangenheit vor seinen Augen. Es drängt ihn, dies seinem Freund mitzuteilen. Irvin hörte entsetzt den Schilderungen seines Freundes zu und nahm regen Anteil an den angstbesetzten Erlebnissen.

Ich bringe hier nur eine verkürzte Schilderung und weise hin zum Lesen des Buches.

Als zentrale Szene schildert Bob, wie ein altes jüdisches Paar von ungarischen SS Leuten misshandelt und abgeführt wurde. Bob selbst wurde als eventueller Jude hinzu gerufen. Er hatte aber gefälschte Ausweispapiere bei sich. Dennoch wäre es ein Leichtes gewesen, ihn, als Beschnittenen, zu identifizieren. Durch den Hilferuf "Polizei" wurde Bob durch einen ungarischen Polizisten befreit (ähnlich wie unlängst in Caracas). Die Erleichterung, am Leben zu sein, befreite ihn nicht von seinen Schuldgefühlen. Vor Augen standen ihm das Paar, vorwiegend aber das Gesicht des Mannes, ihn nicht retten zu können. Ein Leben lang, bis zu diesem Zeitpunkt verfolgten ihn die Schuldgefühle und zeigten sich in Albträumen des nachts. Sein unermüdlicher Einsatz, Herzen zu operieren und damit Menschen zu retten, sind seine unbewusste Antwort auf diese Schuldgefühle. Es war für ihn ein lebenserhaltender Einsatz. (Interessanterweise stand auf einer Anerkennungsbroschüre für ihn von der Uni Boston: "Um Leben zu retten , die nicht zu retten waren".)

Die starken Erlebnisbilder spiegelten sich auch in Bobs nächtlichem Traum wieder, den er seinem Freund zusätzlich mitteilt. Mit diesem Traum liefert er den Schlüssel zu seinem bisherigen Lebenslauf. Sein ununterbrochener Einsatz -Herzen zu retten - war sein Überlebenskampf angesichts der unerträglichen Schuldgefühle.

Bob erkennt, dass er sowohl im Traum als auch in der Realität als fünfzehnjähriger, verängstigter Junge, (der sich kaum selber retten konnte) den Mann und die Frau nicht retten konnte.

Irvin deutet die verschiedenen Aspekte des Traumes sehr einfühlsam und fasst zusammen:

Bob, Du bist unschuldig. (wörtlich: Ich erkläre dich für unschuldig)

Nach diesem ungewöhnlich, entlastenden Gespräch umarmten sich die Freunde lange, was sonst nicht Bobs Art ist. Die alten Freunde fühlten sich verbunden wie nie zuvor. Durch die Aussprache des Unbewussten, erlebten sie eine tiefere Dimension der inneren Freiheit.

An dieser Stelle stellt sich mir die Frage, ob die beiden alten Freunde nicht auch ein gemeinsames Thema begleitete. Durch ihre jüdische Vergangenheit, die zwar unterschiedlich stark mit Verletzungen und Schuldgefühlen besetzt waren, versuchten sie Herzen zu retten, die oft nicht zu retten waren. Bob rettete organische und Irvin die seelischen Herzen. Es war die hohe Kunst und Bereitschaft der Freunde, beiderseits sich vertrauensvoll zu öffnen und diese existenziellen Grenzerfahrungen zuzulassen, um das lange traumatische Schweigen zu beenden.

Christa Tschink, Berlin
Oktober 2010 email

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