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Kornbichler, Thomas: Wahn und Würde des Menschen. Acht Gespräche mit Josef Rattner, Berlin 1992, Verlag Volk und Welt.


Ein Schüler der Tiefenpsychologie interviewt seinen Lehrer. Der Pionier der Großgruppentherapie in Deutschland, Josef Rattner, umgreift im Gespräch einen weiten Horizont. Aus der Perspektive der Tiefenpsychologie unternehmen die Interviewpartner Streifzüge durch Geschichte, Politik, Philosophie, Religion, Erziehung und Psychologie, wobei Rattner einen kulturkritischen Ton anschlägt, der gleichwohl nie zur Hybris den anderen Wissenschaften gegenüber wird. Im Gegenteil bietet Rattner den Dialog mit den Nachbardisziplinen an, wenn er auch findet, daß die Geisteswissenschaften durchaus noch mehr von einer "Verstehenden Tiefenpsychologie" lernen könnten.

Aus dem weiten Spektrum seien einige Aspekte herausgegriffen.

Die LeserInnen finden Überlegungen zum Nationalsozialismus und seiner Vorgehensweise, wie es ihm gelungen ist, die Massen für sich einzunehmen. Dabei befleißigten sich ihre Protagonisten bestimmter Methoden, die noch heute für die Demagogen gelten und ihre Gefährlichkeit ausmachen. Eine der Voraussetzungen für das Hochkommen des Demagogen ist natürlich die Vorgeschichte, aber auch die Dummheit der Massen. In Krisenzeiten sind sie noch immer für leichte Lösungen zu haben gewesen. So läßt sich etwa der Erfolg der Nazis aus dem Appell an die Dummheit und Dumpfheit der Massen verstehen, denen man eine "Heilung" der Depression nach dem ersten Krieg durch Größenwahn anempfahl. Dabei sind die fortschrittlichen Kräfte den Reaktionären gegenüber im Nachteil, da sie nicht an so breite Schichten des "objektiven Geistes" (Hegel) anknüpfen können: Gewohnheiten, Vertrautes, Traditionalismus, nationale Egoismen, Rasse, Kampf, Krieg, Primitivismen aller Art. Darin liegt ein Rezept, das noch alle Demagogen befolgt habe

Ein Ausweg aus dem Dilemma wäre denkbar, wenn wir uns tatsächlich auf den Weg zu einer Bildungsgesellschaft machten. Allerdings ist hier nicht an ein Spezialistentum gedacht, sondern eher an Bildung von Geist und Seele in einem sokratischen Sinne. Dabei gelten dann Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit mehr als Worthülsen. Immerhin haben wir seit Freud die wissenschaftlichen Mittel - so wir sie zu nutzen verstehen -, um die Hintergründe menschlichen Handelns zu beleuchten. Verstünde die Allgemeinheit mehr von tiefenpsychologischer Ganzheitsbetrachtung, fiele es leichter, von jeglicher Personvergottung Abstand zu nehmen. "Der Status der Menschheit läßt nicht zu, daß wir irgend etwas besonders großartig finden außer Wissenschaft, Kunst und Philosophie, das sind die wirklichen Leistungen des Menschengeistes."

Beim Stichwort "Vergottung" ist bereits die Brücke zu Kirche und Religion geschlagen. Rattner kann deutlich machen, daß die Kirchen noch immer den Steigbügel für die Staatsmacht gehalten haben, egal welcher Couleur. Ja, man muß der Kirche vorwerfen, daß sie präfaschistisch ist (Deschner). Es muß sogar die Frage aufgeworfen werden, ob nicht die ganze Lehre, die sie vertritt, aus den grauen Vorzeiten menschlichen Philosophierens stammt, anderen Philosophien nicht mehr das Wasser reichen kann. Es liegt sogar Konformismus im Wesen der Religion, lehrt sie doch Stillhalten und Fügung in den Willen Gottes, über den seine Stellvertreter angeblich bestens informiert sind. Drum mutet das Vorhaben Eugen Drewermanns, die Kirche reformieren zu wollen, eigentümlich naiv an, wenn auch Rattner den "Löwenmut" bewundert.

Neben einer kritischen, aber immer toleranten, Einstellung zur Religion, wird auch das Versagen Martin Heideggers im Nationalsozialismus angesprochen. Heidegger verdankt die Existenzphilosophie sehr viel und hat befruchtend auf die Tiefenpsychologie gewirkt. Am bekanntesten ist sein Einfluß auf die Daseinsanalyse, dessen Begründer, Medard Boss, eine lange Freundschaft mit Heidegger verband. Daß Heidegger dennoch nicht standhalten konnte, obwohl er doch gerade vehement gegen das "Man-Selbst" polemisiert hat, sucht Rattner einerseits in der Persönlichkeitsstruktur des Philosophen, andererseits in Elementen seines Philosophierens zu begründen. Dabei meidet er den Psychologismus, verweigert aber auch die Glorifizierung und ist sich bewußt, selbst der "Gnade der späten Geburt" anheim gegeben zu sein. So erscheint Heidegger z.B. als "Anlehnungstyp", der sich erst an Husserl, dann aber an den verrückten Zeitgeist anlehnte. Das erben wohl auch die Daseinsanalytiker, die im Grunde konformistische Kleinbürger ge

Brandaktuell, man verzeihe das makabre Wortspiel, ist die Analyse des potentiellen Faschisten, der, im Vorurteilsdenken verhaftet, seine mangelnde Geistigkeit und voyeuristische Medienhörigkeit im Primitivismus der Gewalt auslebt. Wir ernten, was ehedem in unseren Bildungseinrichtungen versäumt wurde. Wer will schon auf die Demokratie verzichten. Reif jedoch wäre am ehesten ein Mensch mit Persönlichkeitsbildung, die auf einer philosophischen Haltung zum Leben gründet. Beim derzeitigen Bildungsstand stellt die Demokratie eine Überforderung für viele dar und trägt in sich die Gefahr des Faschismus, der neuerdings durch den "ungebildeten Stimmbürger" manifest werden könnte.

Wie wichtig eine tiefenpsychologisch inspirierte Geschichtsbetrachtung wäre, wird in dem Interview über "Geschichtsanalyse und Tiefenpsychologie" ausgeführt. Beachtliche Befruchtungsmöglichkeiten bieten sich in der Biographik, ebenso für die gesamte Geschichtsschreibung, in die sowohl die Persönlichkeit des Historikers einfließt, wie auch Geschichte u.a. Spiegel der Menschheitsnöte ist, wozu die Tiefenpsychologie einiges zu sagen hat. Bisher gibt es Geschichtsschreibung meist als Geschichte von Herrscherhäusern, von Kriegen und Ausweitung der Machtsphäre. Noch wenig zur Geschichte der Liebe oder des Ehrgeizes und so gut wie nichts zur Geschichte der Solidarität unter den Menschen, dem eigentlichen Kulturfaktor. - Der Gedankenfluß geht immer leicht dahin. Ohne spürbare Mühe bewegt sich das Gespräch von der Biographik zu einer denkbaren Geschichte des Gefühls, von der Geschichtsschreibung zur tiefenpsychologischen Analyse des Historikers, die dieser absolvieren sollte, um unbewußte Zusammenhänge aufzuspü

Der Agnostiker Rattner spart natürlich das Thema Religion nicht aus, an dem sich die Geister scheiden. Die Thematik klang schon in den Interviews zum Faschismus an, wird aber noch eigens Gesprächsgegenstand. So steht und fällt für Rattner der Wert einer Psychotherapie damit, ob für sie das Weltanschauliche unantastbar bleibt oder nicht. Dabei kann er als Therapeut keinen absoluten Wahrheitsanspruch erheben. Gesundheitskriterium ist ihm immerhin, ob der Mensch über diese Themen den Dialog zuläßt. Kritisch prüfend geht Rattner mit den Tiefenpsychologen um, wobei Freuds Atheismus die meisten überragt. Selbst der später Adler suchte in den religiösen Kreisen Mitstreiter, wobei er längst nicht so eindeutig Stellung bezog wie Freud. Medard Boss bemüht sich um Toleranz, macht aber aus seiner Sympathie fürs Religiöse keinen Hehl. C.G. Jung und Viktor E. Frankl hingegen werden von Rattner zur Gegenaufklärung gerechnet.

Solche weltanschaulichen Therapiegespräche sind schon deshalb wichtig, weil sich Neurose und Weltanschauung inniglich in einander verweben. So nennt Rattner Strukturelemente der Neurose auf religiösem Untergrund: Infantilismus, Realitätsabwendung, Sexualstörung, Narzißmus, Masochismus, Angst und ontologische Unsicherheit, Konformismus, Gehemmtheit, Zwangsneurose, Ressentiment und schließlich den Willen zur Macht.

Wie die LeserInnen immer dazu stehen mögen. Hier wird zum Selberdenken aufgefordert. Für die Denkergebnisse soll jeder dann selbst die Verantwortung übernehmen. Tabus haben in der Psychotherapie keinen Platz, sonst ist das Denken sofort wieder blockiert, was der Zielsetzung eines humanistischen Therapeuten zuwiderläuft.

Mit gleichem Elan und Engagement tritt Rattner im letzten Interview für einen "Mut zur Erziehung" ein. Jegliche Erziehungstätigkeit muß aber eine Selbsterziehung des Erziehers beinhalten. Erziehung ist ein dialektischer Prozeß, keine Einbahnstraße. Das sollte selbstverständlich sein. Ernsthaft betrieben, minderte diese Einsicht die Angst vor erzieherischer Einflußnahme, wie sie aus den Zeiten falsch verstandener antiautoritärer Erziehungsdebatte und halb und falsch verstandener tiefenpsychologisch inspirierter Pädagogik nachhängt. Hier schließt sich der Kreis, hängt doch von der Erziehung viel ab. Ob wir später Präfaschisten vorfinden oder weltoffene, selbstbewußte Bürger, kann nicht losgelöst von einer körperlich oder verbal gewalttätigen Erziehung betrachtet werden, die die Würde des Menschen schon frühzeitig mißachtet.

Im ganzen Buch atmet man den Geist der Aufklärung und den schönsten Idealismus, `geerdet' durch die tägliche Arbeit mit dem Patienten.

Dipl.-Psych. B.Kuck

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