Teusch, Ulrich: Die Katastrophen-Gesellschaft. Warum wir aus Schaden nicht
klug werden. Rotpunktverlag, Zürich 2008. 229 Seiten.
An Warnungen über die Konsequenzen einer durch Technik
bestimmten Gesellschaft gibt es keinen Mangel. Seitdem es Technik
gibt, das heißt seit der Erfindung der Schrift, des Papyrus,
des Buchdrucks und der Eisenbahn, wurde von allen Seiten verheerende
Folgen prognostiziert. Im 20. Jahrhundert versprach man sich viel vom
technischen Fortschritt, aber inzwischen sieht man die Möglichkeiten
von Technik etwas realistischer. Die Verheißung, mittels
Technik könne die Natur beherrscht und den Menschen das Reich
der Freiheit eröffnet werden, wird heute nicht mehr ernsthaft
vertreten.
Doch
der technische Fortschritt ist einfach da und erzeugt immer neue
Spitzenleistungen aus sich selbst heraus. Es ist schlicht ein Wunder,
dass Suchmaschinen innerhalb von Sekunden Hunderttausende von
Internet-Seiten nach Stichworten durchsuchen und das Ergebnis auf dem
Bildschirm platzieren. Es ist ein für den Laien unverständliches
Wunder, dass innerhalb von Sekunden mein mit einem Mobiltelefon
ausgestatteter Gesprächspartner gefunden und die Verbindung
hergestellt wird. Der technische Fortschritt in der Medizin erlaubt
die Behandlung von Krankheiten, die noch vor wenigen Jahrzehnten
unweigerlich zu Siechtum und Tod führten. Die
Materialwissenschaften arbeiten an immer leichteren und immer
stabileren Werkstoffen, die Energie sparen und die Langlebigkeit
erhöhen.
Diese
Wunder-Technik funktioniert derart zuverlässig und stabil
(sofern nicht Sabotage oder Kriege dazwischenkommen), dass
dünnhäutige Zeitgenossen jede kleinere Störung als
"Katastrophe" ansehen. In 21 Kapiteln umkreist Autor Ulrich
Teusch das Phänomen der Katastrophe und den Umgang damit.
Technische Katastrophen sind seltene Grenzfälle der
technikorientierten Gesellschaft, deshalb sollte man – was
Teusch nicht tut – deutlich zwischen Naturkatastrophen und
technischen Katastrophen unterscheiden. Technik erlaubt,
beispielsweise durch Frühwarnsysteme, einen kontrollierteren
Umgang mit Naturkatastrophen und man kann deren Auswirkungen
zumindest begrenzen. Es zeugt von atemberaubender Unangemessenheit
des Umgangs mit Naturkatastrophen, wenn bei einem Ereignis biblischen
Ausmaßes wie der Flutkatastrophe in New Orleans die Betroffenen
die Rettungskräfte und die Regierung anklagen, nicht schnell
genug gehandelt zu haben. Hinter dieser irrationalen Haltung stehen
nicht nur Verzweiflung und enttäuschte Hoffnung, sondern auch
eine maßlose Überschätzung menschlicher Möglichkeiten
angesichts von Naturgewalten.
Auch
der Umgang mit technischen Katastrophen erscheint kaum rationaler zu
sein. Man kann, wie Teusch, die bekannten Katastrophen wie
beispielsweise die von Ramstein im August 1988 als "Spitze des
Eisbergs" bezeichnen, aber dann wäre es doch angebracht,
die angeblich darunter liegenden Unglücksschichten ans Licht zu
heben. Tatsächlich ist da nicht viel. Obwohl immer mehr Menschen
Auto fahren sterben immer weniger Menschen daran. Der Kühlschrank
hat die Zahl der Lebensmittelinfektionen drastisch reduziert, Öl-
und Gasheizungen lassen niemanden frieren, ständig ist warmes
und kaltes Wasser vorhanden.
Teusch
behauptet, unser exzessives Streben (wer ist eigentlich "wir"?)
nach mehr Sicherheit schaffe permanent neue und noch größerer
Unsicherheiten. Ich denke, das Gegenteil lässt sich leicht
beweisen. Selbstverständlich macht es einen Unterschied, ob man
beim Riesenslalom mit einer Geschwindigkeit von 110 Stundenkilometern
einen Helm trägt oder nicht. Die Etablierung freiwilliger
Feuerwehren in jedem größeren Dorf in Deutschland (was es
in vielen anderen Ländern so nicht gibt), Rauchmelder, das
Mobiltelefon und griffbereite Feuerlöscher haben es vermocht,
dass es in Deutschland seit Jahrzehnten keinen Großbrand mit
mehreren Opfern mehr gab. Wir müssen also überhaupt nicht,
wie Teusch behauptet, unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung
auf den Prüfstand stellen, da Technik trotz zunehmender
Komplexität und Innovationsgeschwindigkeit meist einen echten
Sicherheitsgewinn bedeutet.
Der
Autor beklagt, dass die westlichen Gesellschaften technische Lösungen
für technisch verursachte Probleme suchen. Soll das heißen,
dass wir auf Technik tunlichst verzichten sollten? Wenn es auf der
Welt keine Großraum-Passagierflugzeuge und in New York keine
Zwillingstürme gäbe, wäre es nicht zu der
"Katastrophe" des 11. September gekommen. Aber soll das
etwa eine ernsthafte Option sein? Natürlich, die nächste
Katastrophe kommt bestimmt, aber die Wahrscheinlichkeit dafür
ist sehr gering – dank Technik.
Ein
ganz anderes Thema ist die "Fehleranfälligkeit" des
Menschen. Die Anschläge islamischer Terroristen erfolgten mit
Hilfe von Technik (Maschinengewehre, Handgranaten, Sprengstoff). Aber
ist daran „die Technik“ schuld? Wie alles, was von
Menschen gemacht ist, kann auch Technik zum Guten wie Bösen
eingesetzt werden. Von dieser anthropologischen Ambivalenz wird das
Technikproblem infiziert. Fast jeder Gegenstand eignet sich als Waffe
in der Hand eines Menschen, jeder Mensch hat die Potenz zu bösartigen
Handlungen in sich und jedes technische System kann einmal versagen.
Menschen wie Technik tragen Katastrophenpotenziale in sich und es
bedarf vielfältiger Voraussetzungen, dass diese nicht
freigesetzt werden. Daraus eine „Katastrophengesellschaft“
zu machen ist aber schlicht abwegig.
Das
Titelbild des Buches „Die Katastrophengesellschaft“
drückt das grundlegende Missverständnis des Autors
gegenüber seinem Thema aus. Dort sonnen sich Amerikaner am Ufer
von Jersey City und schauen über den Hudson River auf die
brennenden Türme des World Trade Centers. Teusch unterscheidet
nicht zwischen willentlich herbeigeführtem Missbrauch von
Technik und zufälligem Technikversagen. Damit wird sein gesamtes
Buches nutzlos.
Gerald
Mackenthun
Berlin/Magdeburg, November 2008
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