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Taylor, Steven (2019): Die Pandemie als psychologische Herausforderung. Ansätze für ein psychosoziales Krisenmanagement. Psychosozial-Verlag, 185 Seiten, 19,90 Euro


Im Vorwort zur deutschen Übersetzung schreibt Taylor:

»Im Frühjahr 2018 begann ich mit der Arbeit an der englischen Fassung dieses Buches. Es wurde im Oktober 2019, einige Wochen vor dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie in Wuhan, China, veröffentlicht. Ich wusste, das sich eine Pandemie ankündigte, aber erwartete sie nicht schon so bald. (S. 9)«

Eingeflossen sind hier Erfahrungen aus früheren Pandemien, wozu auch die historischen Beleuchtungen gehören, die bis in das Mittelalter zurückgehen, und z. B. aus Berichten über die Pest stammen.

Es gilt leider nach wie vor, dass psychologische Gesichtspunkte im Umgang mit solchen Krisen kaum oder gar keine Rolle spielen. Grundsätzliche Versäumnisse werden auch aktuell, besonders von der Politik und den Medien, wiederholt. So haben öffentliche Gesundheitsbehörden nur wenige Ressourcen für den Umgang mit den bedeutsamen psychologischen Faktoren, wie sie besonders in den gefühlsbezogenen Reaktionen (Ängste, seelische Not, Vereinsamung; Nicht-Einhaltung von Regeln, Verschwörungstheorien, Fremdenhass, Impfgegnerschaft) auftreten, bislang in allen Pandemien aufgetreten sind und auch jetzt wieder auftreten (S. 15).

Taylor legt differenziert dar, wann von einer Pandemie gesprochen wird und wie sich die Infektionen ausbreiten. Zwar hat die WHO bereits 2005 und 2008 Informationsrichtlinien herausgegeben, die vor allem Transparenz und klare Handlungsfolgen empfehlen. Jedoch wurde sich auch diesmal nicht daran gehalten. Besonders das Hin und Her, die Profilierungssucht einzelner Politiker in den Bundesländern, war wenig förderlich, hauptsächlich auf Angst machen gegründet. Zwar ist Angst als Hinweis auf etwas potentiell Gefährliches hilfreich. Übersteigt sie jedoch ein gewisses Maß (Toleranzfenster), wird sie kontraproduktiv und schlägt ins Gegenteil um, da mögliche Handlungskompetenzen zunichte gemacht werden, das Erleben in Hilflosigkeit kippt. Glücklicherweise haben inzwischen einige Medien einen wichtigen Hinweis befolgt: Auftauchende Verschwörungstheorien nicht bloß als Spinnerei abzutun, sondern den vermeintlichen Argumenten fundierte Argumente gegenüber zu stellen (siehe auch: https://correctiv.org/faktencheck/).

Allerdings sind bestimmte Gruppierungen gegen Argumente verschlossen, da Gefühlsgründe leitend sind. Dies ist nicht nur in Bezug auf grundsätzliche Charaktereigenschaften der Ängstlichkeit oder des Neurotizismus und geringer Angsttoleranz von Bedeutung. Viele Menschen sind heute im Internet oder den sozialen Medien unterwegs, wobei sich zwei größere Gruppen nachweisen lassen. Die einen suchen ständig nach Informationen (»Monitoring«), andere blenden Gefahren aus (»Blunting«) und verweigern Schutzmaßnahmen, wie sie in Hygieneempfehlungen vermittelt werden. Weiterhin lassen sich Gruppierungen ausmachen, die zu unrealistischem Optimismus tendieren, verbunden mit einem irrationalen Gefühl der Unverletzlichkeit. Psychodynamisch würden wir von narzisstischen Persönlichkeitsstörungen sprechen, wie auch von schweren Persönlichkeitsstörungen. Diese Menschen zeigen selbstschädigendes Verhalten, das sie auch in der Pandemie praktizieren, indem sie jeglichen Selbstschutz unterlassen. Nebenbei erfahren wir noch, dass ein großer Teil der Menschen Mindeststandards der Hygiene nicht einhalten, indem sie sich etwa nach dem Toilettengang die Hände nicht waschen. Interessanterweise hat die doch auch von einem großen Teil der Bevölkerung eingehaltene AHA-Regel (Abstandhalten-Hygieneregeln einhalten-Alltagsmaske tragen) zu einer Verringerung von normalen Erkältungskrankheiten beigetragen.

Das »Verhaltensimmunsystem« (S. 87) reagiert nicht nur, indem als krank wahrgenommene Menschen gemieden werden, sondern auch die Ekelreaktion führt zum Vermeidungsverhalten, was ungünstigerweise dazu führen kann, dass erkrankten Menschen weniger Hilfe zuteil wird. Selbst Menschen, die in der Pflege oder der Behandlung von Covid19 Erkrankten tätig sind, stoßen u. U. auf Ausgrenzung und Kontaktvermeidung. Die im Zusammenhang mit Pandemien verwandten Begriffe sind ebenso problematisch, da sie Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit begünstigen, etwa »asiatische Grippe« oder »spanische Grippe« (S. 93).

In Pandemien tauchen regelhaft Verschwörungstheorien auf, die die Ursache der Pandemie auf Pläne mächtiger Akteure zurückführen. Dazu gehören auch profitorientierte Industrien, besonders die Pharmaindustrie, die wesentliche Informationen zurückhalten würden, um ihre Medikamente auf dem Markt zu platzieren. Dabei sind die »Belege« für solche Behauptungen in der Regel vage: »Forschungen an der Harvard University haben gezeigt, dass...« (S. 98). Dabei fehlen meist grundsätzliche Fähigkeiten und Ressourcen, wissenschaftliche Aussagen sinnvoll zu bewerten. Misstrauen, die Neigung, an paranormale Phänomene zu glauben, die narzisstische Selbstüberschätzung, Sorgen über die eigene Sterblichkeit, Leichtgläubigkeit im Verbund mit fehlender kritischer Medienkompetenz, Mangel an Intelligenz und schlechte Bildung im Verbund mit der Unfähigkeit zu analytischem Denken, sowie die Ablehnung gängiger wissenschaftlicher Theorien (z. B. der Evolutionstheorie), indes Pseudowissenschaften als Ratgeber dienen und schließlich die Überzeugung, Gebete würden gegen unheilbare Krankheiten helfen, finden sich in den Gruppierungen der Verschwörungstheoretiker. »Verschwörungstheorien entstehen in Zeiten der Unsicherheit und stellen die Grundlage dafür dar, dass Menschen bedrohlichen Ereignissen einen Sinn abgewinnen können« (S. 100).

Sozialpsychologische Faktoren stellen Gerüchte dar, die sich in den sozialen Medien verbreiten. Persönliche Erfahrungen (Trauma-Belastungen) und Beobachtungslernen tragen zu wesentlichen Teilen dazu bei, dass sich Ängste steigern und in der Folge eine Öffnung für Verschwörungstheorien stattfindet. Leider ist die Berichterstattung in den Medien, die Themen reißerisch aufbereiten, um so ihre Auflagen zu steigern, nicht unerheblich an der Desinformation beteiligt. Die ständige Präsenz eines Themas in den Medien kann zu Verdruss und Erschöpfung führen, was wiederum die Bemühungen zur Eindämmung der Infektionsausbreitung untergraben kann.

Taylor gibt Hinweise, wie die Kommunikation verbessert werden kann, um den Schutz aller zu gewährleisten und eine Ausbreitung der Pandemie zu verhindern, die z. T. vernachlässigt werden:

»Die Krisen- und Risikokommunikation und Programme, die auf die Einhaltung von Regeln durch bestimmte Gemeinschaften abzielen, müssen auch mit einer starken Sensibilität für die jeweilige Kultur durchgeführt werden. Dazu gehört die Ausbildung des Personals für die Risikokommunikation im Bereich der interkulturellen Kompetenz, die Weitergabe von Informationen in verschiedenen Sprachen und die Beteiligung der Leitungsinstanzen kultureller Gemeinschaften an der Planung und Verbreitung von Informationen« (S.124).

Hinsichtlich der Akzeptanz für Impfungen ist nicht allein eine sachkundige Aufklärung notwendig (z. B. ist die Behauptung, Impfungen würden Autismus hervorbringen inzwischen vielfach widerlegt), sondern ebenso die Berücksichtigung der »psychologischen Reaktanz«. Darunter versteht mensch die Reaktion auf Regeln, Regulierungen oder Überzeugungsversuche, die als Einschränkung der Autonomie und Wahlfreiheit erlebt werden. Dazu gehört etwa die Angst vor Pflichtimpfungen, denen Taylor nicht grundsätzlich ablehnend gegenübersteht, etwa bei medizinischem Personal, dass besonders exponiert ist.

Taylor ist kognitiver Verhaltenstherapeut und so hält er einige Ansätze bereit, die in akuten Fällen psychologischer Ängste durch ein Screening eine schnelle Unterscheidung bei Hilfesuchenden ermöglicht, ob sie lediglich kurzer Interventionen oder auch einer längeren Therapie zugeführt werden sollten. Überängstliche Menschen belasten natürlich das Gesundheitssystem, indem sie mit überbewerteten Symptomen, die Ressourcen ambulanter Dienste blockieren.

Taylor schließt mit Empfehlungen für künftige Pandemien und für weitere Forschungen.

Ein wichtiges Buch, dass im Grunde allen politischen Entscheidern ans Herz zu legen ist.

Ein gesellschaftlicher Aspekt scheint mir jedoch zu kurz zu kommen. In der aktuellen Pandemie fallen uns nicht nur Versäumnisse auf die Füße, wie sie Folge der Kommerzialisierung der Pflege und überhaupt des Gesundheitssystems sind, d. h. grundsätzliche Paradigmen des Kapitalismus und Neoliberalismus. Das Kaputtsparen im Gesundheitssystem, im Bildungssystem und die Verlagerung wichtiger Produktionszweige in Billigländer, die Verflechtungen von Industrieinteressen und Politik (Verweigerung eines Lobbyregisters; das Lobbyisten Gesetzestexte schreiben, die wortwörtlich Eingang in beschlossenes Recht finden; Freihandelsabkommen, die demokratische Strukturen unterlaufen) und die zunehmende Verelendung der Massen durch die Umverteilung der Vermögen von unten nach oben, inklusive der laxen Besteuerung von Wirtschaftsgewinnen. Diese fehlende Regulierung liefert den Stoff für Verschwörungstheorien, an denen oft ein Fünkchen Wahrheit haftet, allerdings in wesentlich komplexeren Verknüpfungen. Das latente Gefühl, von »den Herrschenden« betrogen und belogen zu werden, schafft sich Luft, wenn notwendige Einschränkungen zur Eindämmung der Pandemie verlangt werden. Und als wenn es eine aktuelle Bestätigung bräuchte: Die TAZ meldet in ihrer Ausgabe vom 19./20.12.2020:

»Wirtschaftsminister Altmeier hat ein brisantes Braunkohlegutachten zurückgehalten: Die Zerstörung von sechs Dörfern dient allein den Profitinteressen der Energiekonzerne.«

Bernd Kuck      
Dezember 2020

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Die Pandemie als psychologische Herausforderung

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