Spitzer, Manfred: Nevensachen. Perspektiven zu Geist und
Gesellschaft, Schattauer Verlag, Stuttgart 2003, 354 Seiten.
Der vorliegende Text gliedert sich in elf Kapitel und ist
im wesentlichen eine Zusammenstellungen aus in der Zeitschrift
"Nervenheilkunde" erschienenen kleinen Artikeln, die der Autor in
seiner Eigenschaft als Schriftleiter des psychiatrischen Teils dieser
Zeitschrift verfasst hat. Am besten ließe sich der Text mit den Worten
zusammenfassen: So kurzweilig kann Hirnforschung sein. Dabei folgte der Autor
der Annahme, dass Geschichten bisweilen eine ziemliche Macht entfalten. So
konnte in einer Studie nachgewiesen werden, dass das Aufschreiben traumatischer
Erlebnisse bei Patienten mit Asthma oder rheumatoider Arthritis zu einer
klinisch relevanten Symptomreduktion führte. Überschätzen muss man
Geschichten deshalb nicht, denn wir wissen aus Hypnoseexperimenten, dass die
Probanden eine ausgeführte Handlung, die ihnen zunächst nicht bewusst zugänglich
ist und auf einen posthypnotischen Befehl zurückgeht, mit einer mehr oder
weniger sinnvollen Begründung versehen. Ähnliches geschieht, wenn man einem
Split-brain-Patienten die Aufforderung "walk" als Wortbild in die
rechte Hemisphäre projiziert. Seine Begründung für das Verlassen des Raumes
ist eine reine Erfindung der sprachproduzierenden linken Gehirnhälfte.
In dieser kurzweiligen Form geht es über mehr als 300
Seiten weiter. So erfahren wir etwa wie Skinner in einer Expertenrunde den
Psychoanalytiker und Sozialpsychologen Erich Fromm konditionierte.
Der Leser würde jedoch weiter fehlen, wenn er annimmt es
handle sich hier um eine Anekdotensammlung. Vielmehr wird in kurzer Darlegung
sehr viel Sachinhalt transportiert. Etwa zur Neuroplastizität unseres Gehirns,
wodurch es u. a. einem Dirigenten möglich wird, auch seitlich aufgestellte
Schallquellen deutlich zu differenzieren, was einem normalen Musikfreund ebenso
wenig gelingt wie einem Pianisten. Und ebenso wie die Neuroplastizität solche
Spezialisierung möglich macht, ist sie für den schon von Freud beschriebenen
Vorgang der Verdrängung verantwortlich, wie überhaupt für die enorme Lernfähigkeit
des menschlichen Gehirns. Das beginnt bereits im Mutterleib ab der 20. Woche und
kann heute mit "harten Daten" belegt werden. Nachgewiesen ist ebenso,
dass Mütter mit schwerwiegenden Lebensverhältnissen während der
Schwangerschaft ein erhöhtes Risiko aufweisen, ein Kind mit Missbildungen im
Bereich des kranialen Neuralohres zu bekommen. Am deutlichsten ist dieser
Zusammenhang, wenn Frauen während des ersten Drittels der Schwangerschaft, der
Zeit der Organogenese, ein älteres Kind unerwartet verloren haben.
Schon länger ist bekannt, dass aller Wahrscheinlichkeit
nach der Schlaf u.a. dazu dient, Inhalte des Kurzzeitgedächtnisses in das
Langzeitgedächtnis zu überführen. Wer nun wissen will, ob seine Großmutter
damit Recht hatte, dass der Schlaf vor Mitternacht der Beste ist, kann hier
nunmehr einen wissenschaftlichen Beleg finden. Vor allem was die Schlafhygiene
angeht, ist der Prüfling gut beraten, wenn er vor Mitternacht schlafen geht,
vorausgesetzt er hat vorher gelernt.
Fast wie nebenbei erfährt der geneigte Leser, dass wir
nicht nur über vier, sondern über fünf Geschmacksrezeptoren auf der Zunge
verfügen. Unglücklicherweise handelt sich dabei um einen Rezeptor für
L-Glutamat, eine Aminosäure, die sehr vielen Lebensmitteln als Geschmacksverstärker
hinzugefügt wird.
Spitzer nimmt auch Stellung zu gesellschaftlichen Phänomenen.
So führt er Langzeitstudien an, die zeigen, dass die Einführung des Fernsehens
durchaus mit einer Erhöhung der Gewaltbereitschaft in der Bevölkerung
einhergeht. Und wer immer noch nicht glauben will, das aggressive Videospiele
verheerende Folgen haben können, sei auf den vorliegenden Text verwiesen.
Ebenso interessant sind Überlegungen auf hirnphysiologischer Grundlage
hinsichtlich der Lernsituation in Schulen und Universitäten. Wer es schon immer
geahnt hat, das Lernen und Emotionalität einen wichtigen Zusammenhang haben,
der wird einer Veränderung des universitären und schulischen Lernapparates,
wie sie der Autor entwirft, nur zustimmen können.
Im letzten Kapitel sind einige heuristische Überlegungen
zur Evolution und Psychopathologie zusammengefasst. So wird die These
diskutiert, ob die Schizotymie (die man heute allgemein als
Schizophrenie-Spektrum-Störung bezeichnet) unter bestimmten evolutionären
Bedingungen einen Vorteil darstellt (wie etwa die Sichelanämie gegenüber der
Malaria); z. B. könnte sie zum Vorteil gereicht haben, wenn eine Gruppe aus Gründen
des Überlebens sich teilen musste und dazu einen Anführer brauchte, der
gleichsam unbeirrbar seinen Weg verfolgt. Ob allerdings die Zwangserkrankung auf
einen genetischen Defekt zurückgeht, bleibt noch zu erweisen, stellt sich doch
immer wieder die Frage inwieweit eine genetisch veränderte Maus, die sich
"zwanghaft" das Fell abwetzt bzw. ausreißt mit dem Menschen
gleichzusetzen ist. Zur Zeit jedenfalls ist die Hirnforschung die große
Hoffnung all derer, die weitgehend die Verantwortung für ihre Lebenseinstellung
an andere Umstände delegieren wollen. Wobei zu erwähnen ist, dass der Autor
des vorliegenden Textes sein Thema zu differenziert angeht, als dass diese
Hoffnung wirklich Nahrung erhält.
Bonn, September 2003
Bernd Kuck
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