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Sommer, Volker (2008): Darwinisch denken. Horizonte der Evolutionsbiologie, 2. korrigierte. Auflage, Hirzel Verlag Stuttgart 2008, 174 Seiten.


Als aufgeklärter Mensch hat man sich daran gewöhnt, dass die Abstammungslinie des Menschen weit ins Tierreich hinein verfolgt werden kann. Die darwinische Kränkung der Menschheit, nicht die Krone der Schöpfung zu sein, ist überwunden. Oder doch nicht? Wenn Evolutionsbiologen wie Volker Sommer daran gehen, deutlicher die Ähnlichkeiten zwischen Tier und Mensch heraus zu arbeiten, dann regt sich doch innerer Widerspruch. Mag ja sein, dass wir unsere Wurzeln im Tierreich haben, aber wir sind doch die einzigen Lebewesen, die Kultur haben und stehen damit doch weit über den anderen Säugetieren. Wer sich aber wie Sommer der "kulturellen Zoologie" verschrieben hat, macht mit dem darwinschen Denken ernst und sieht nicht nur in der evolutionären Entwicklung morphologisch ein Kontinuum, sondern auch in der kulturellen Entwicklung. Danach versteht er unter Kultur nicht nur Gesellschaften, die Kunst, Sprache, Wissenschaft und Technik hervorgebracht haben, sondern definiert Kultur als "sozial weitergegebenes Verhalten". Der Vorteil dieser weit- und übergreifenden Definition liegt darin, dass nun andere Lebewesen nicht mehr als weniger wertvoll oder gar minderwertig angesehen werden dürfen, sondern als Stufen der Evolution unsere Vorgänger, aber auch unsere Mitlebewesen sind. Das macht Sommer an vielen Beispielen deutlich, auch die Anmaßung, die darin liegt, dass der Mensch alles aus seiner Perspektive betrachtet und den anderen Lebewesen kurzerhand geringere Intelligenz bescheinigt, sieht er mit Skepsis. Die Frage ist eher, ob es nicht eine soziale Intelligenz gibt, die in einem bestimmten Lebensraum entstanden ist und dort auch sehr erfolgreich zum Einsatz kommt. Jeder "hochzivilisierte" Mensch, der - wie der Feldforscher Sommer - sich in den Urwald begibt, wird sehr schnell mit seinen Grenzen konfrontiert und wird einsehen müssen, dass er nicht gut gerüstet ist für diese Lebensumwelt. Und dennoch: Ist es nicht der Mensch, der im evolutionären Prozess jenes Lebewesen ist, dass den höchsten Grad an Anpassungsfähigkeit und Lernfähigkeit zugestanden bekommen hat? Die Frage ist nur, was er damit anfängt.

Die Wurzeln reichen tief. So räumt Sommer mit dem Mythos auf, dass Schimpansen possierliche Tiere sind (wie schon vor ihm Jane Godall, auf die er sich auch bezieht, und Frans de Waal). Sie führen regelrechte Feldzüge gegen rivalisierende Gruppen, töten Affenbabys und können täuschen. Schon bei den Raben finden Täuschungsmanöver statt. Sie trauen keinem Kollegen und sind durch und durch "Machiavellisten". Alles Verhalten steht unter dem Gesetz, den eigenen Genen einen möglichst großen Vorteil für die Reproduktion zu verschaffen. Dabei gibt es unterschiedliche Wege, die "die Evolution" beschritten hat. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Mensch am erfolgreichsten, hat er doch in nahezu allen Gegenden der Welt seine Zelte aufgeschlagen.

Sommer liefert viele Beispiele für Verhalten in der Tierwelt, das als kulturelle Leistung verstanden werden können. Hier einige Beispiele:
Indische Languren (eine Affenart) im Nordwesten des Landes, in Rajasthan, kuscheln sich unabhängig von der Witterung beim Ruhen eng aneinander. Bei denen in der Nähe der Stadt Jodhpur wird Abstand gehalten, auch wenn es eisig kalt ist. Auch gibt es durchaus soziales Verhalten im Sinne der gegenseitigen Hilfe. Etwa der „Gorilla-Silberrücken“, der seine Gruppe langsamer wandern ließ, damit eine alte, schwach gewordene Gefährtin mithalten konnte. Oder die Gorilladame Binti, die einen in ihr Gehege gestürzten jugendlichen Zoobesucher vorsichtig aufhob und in Sicherheit brachte. Oder die Schimpansin Washoe, die Gebärdensprache gelernt hatte und einen Neuling wild gestikulierend auf eine Schlange aufmerksam machte. Ferner rettete sie unter Lebensgefahr einen anderen vor dem Ertrinken. (S. 29) So macht er die Verbindungen zwischen den Lebewesen deutlich, reiht den Menschen verbindlicher ein in die evolutionäre Entwicklung. Ebenso macht er deutlich, dass die Vorstellung eines Schöpfers nicht sehr hilfreich ist, wenn auch manch Religiöse Trost daraus beziehen.

Auch aus der Neurophysiologie werden mehr und mehr Befunde dafür geliefert, dass die Verbindungen zwischen Mensch und Tier sehr vielfältig sind. Aber wie weit reicht die Determinierung? Gibt es wirklich keinen Unterschied zwischen der Gier des Schimpansen, der immer auf die größere Menge Rosinen zeigt, obwohl er dann immer die kleinere erhält, er einfach nicht versteht, welches System des Versuchsleiters dahinter steht? Der hat ihm doch versucht klar zu machen, dass er, nicht der Konkurrent, just die größere Menge erhält, wenn er schön bescheiden auf die kleinere zeigt. Doch wieder nur ein Experiment aus der Perspektive des Menschen ersonnen? Trifft dann eben doch Nietzsches Gedanke zu, wonach das Tier an den Pflock des Augenblicks gekettet ist, nach dem Motto: Die Rosinen die ich jetzt habe, habe ich; was weiß ich, was nachher ist.
Erst die Zukunft wird zeigen, ob der Mensch seine Gier nach immer mehr durch Vernunft regulieren kann oder sich weiterhin nur von kurzfristigen Interessen leiten lässt. Folgt er bloß dem inneren blinden Drang, seine Gene möglichst erfolgreich im Sinne der Vermehrung weiter zu geben, könnte er so erfolgreich werden, dass er sich selbst die Lebensgrundlage entzieht.

Sommer kann den inneren Zusammenhang und die evolutionäre Kette sehr anschaulich und kurzweilig verdeutlichen. Auf diese Weise macht er bewusst, dass jede Überheblichkeit zum Entzug der eigenen Grundlagen führen könnte. Wie problematisch der von den Biologen entwickelte Art-, Spezies- oder Rasse- Gedanke ist, zeigt er in der Nachzeichnung der Begriffsbildung von den Anfängen der Systematisierung über den Sozialdarwinismus bis zum Faschismus. Merkwürdig unkritisch scheint er mir gegenüber der Gentechnik zu sein. An der "Ökobewegung" kritisiert er die Möglichkeit zu einer Spielart des Totalitarismus, wenn Forschungen verboten werden sollen. "Die Natur" habe schließlich nicht anders experimentiert. Aber hatte sie das gleiche Tempo? Wissen wir wirklich, was da losgetreten werden kann? Wäre es an der Zeit, sich zu beschränken? Schon heute wissen wir nicht, was wir eigentlich täglich an Chemiecocktail zu uns nehmen. Schließlich beklagt sich Sommer, dass in England (wo er einen Lehrstuhl für evolutionäre Anthropologie inne hat) das Bier nicht nach deutschem Reinheitsgebot hergestellt wird.

"Inwieweit sich aber in den verschiedenen Gehirnen äquivalente oder grundver­schiedene mentale Lernprozesse abspielen (Versuch-und-Irrtum, Imitation, Einsicht), wissen wir nicht." (S. 29) Gleichwohl scheint der Mensch das einzige Lebewesen zu sein, dass die größte Möglichkeit zu Einsicht und Verantwortung hat. Aber es ist eben nur eine Potentialität, zu der ihm sicherlich auch Plessners postulierte exzentrische Positionalität ein weiterer Baustein ist. Nur ob er diese Potentialität auch nutzten kann - wir wissen es nicht.

Ein anregendes Buch, das den Bogen sehr weit spannt. Wenn es schlecht ausgeht, dann nutzt der Mensch seine Vernunftmöglichkeit nicht. Dann erweist er sich als "Irrläufer der Evolution" (Arthur Koestler) und sein Erfolg, sich am weitesten über den Globus ausgedehnt zu haben führt bloß dazu, dass er mit dem Aufzehren seiner Lebensgrundlage nicht nur als eine Gruppe der Lebewesen ausstirbt, sondern eine riesige Menge an anderen Lebewesen mit in den Abgrund zieht. "Es gilt darum der paradoxe Imperativ aus den anarchischen Nachwehen der bundesdeutschen Studentenrevolte: 'Du hast keine Chance - aber nutze sie!'" (S. 139)

Bernd Kuck, Bonn email
Januar 2012

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