Solomon, Andrew: Saturns Schatten. Die dunklen Seiten der Depression. S.Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2001, 575 Seiten.
Amerikanische Autoren trainieren
die Fähigkeit, Bestseller zu schreiben. Sie schauen sich an, wie jene Bücher
gestrickt sind, die den Pulitzer-Preis erhielten, und versuchen, die Masche zu
kopieren. Der Leser merkt die gewollte Absicht und ist verstimmt. Die Tendenz
von US-Autoren, mit dicken Wälzern ihren Lesern eine Botschaft einzuhämmern,
stieß schon bei "Wenn Frauen zu sehr lieben" von Robin Norwood ab.
Jetzt also eine ziegelsteinschwere Schwarte eines egomanischen Millionärssöhnchen
aus den USA, der uns aus eigenem Erleben heraus Neues zur Depression erzählen
will?
Und dann das Erstaunen: Den
Depressionen und ihren Zusammenbrüchen, dem komplizierten Zusammenspiel von
Psyche und Bios, der Sucht im Zusammenhang mit Depressionen, dem Thema
Selbstmord von Depressiven, der Gesundheitspolitik - all dem gibt Andrew Solomon
beredt Ausdruck. So präzise er schreibt, er betont immer wieder, dass es keine
allgemeingültigen Antworten zur Depression gibt, weder was Depression ist, noch
wie sie am besten behandelt werden kann. Zu schillernd und zu wenig fassbar ist
dieses Krankheitsbild, unter dem so viele Menschen leiden. Das ungeheuer breite
Spektrum menschlicher Verhaltensmöglichkeiten ist nicht in eine Formel zu
fassen. Vieles ist gerade bei der Depression einzigartig und individuell.
Ausgezeichnet übersetzt von Hans
Günter Holl und Carl Freytag entfaltet Solomon in zwölf Kapiteln wortmächtig
das gesamte Panorama der Depression, wobei keine Fußnoten den Lesefluss stören.
Anmerkungen und Quellenhinweise wurden an den Schluss verbannt. Der fast schon
in unheimlicher Weise abgeklärte Text wendet sich verdienstvoller Weise auch
der Armut zu, denn Armut und Depressionen hängen eng zusammen, was in den
allermeisten medizinischen Büchern kaum je eine Erwähnung findet, weil fast
unerforscht. Dabei ist die Quote der Depressionen unter Armen die höchste unter
allen Bevölkerungsgruppen. Diese Patientengruppe erfordert, dass man als
Therapeut aktiv auf sie zugeht (S.342ff).
Bleierne
Schwere, Appetitlosigkeit, überbordende Furcht und Angst, starke Reizbarkeit,
sprunghafte Aggressivität, fast vollständiges
Desinteresse an sich und anderen - Depression sind für den, der sie nicht
kennt, ein nahezu unvorstellbarer Zustand, der sich nur durch eine Reihe von
Metaphern umschreiben lässt. Solomon spricht von einer Kletterpflanze, die
einen Baum langsam aber sicher erwürgt.
Man fragt
sich, wie ein Mensch, der unter drei starken Schüben litt, derart wortmächtig,
aber auch forschend-distanziert über Depressionen schreiben kann. Die Antwort
liegt vermutlich in Solomons Person und Charakter. Er genießt es im Rampenlicht
zu stehen, er neigt zur Theatralik und bemerkt an sich melodramatische
Charakterzüge sowie die Fähigkeit, unter dramatischen Umständen cool zu
bleiben. Statt authentisch zu sein gibt er sich ironisch mit Anflügen von
Galgenhumor. Er war gierig nach immer neuen Erfahrungen, er nahm mit, was er
bekommen konnten, auch sexuell mit beiderlei Geschlechtern und auch was harte
Drogen angeht; er betrug sich ungeheuer leichtsinnig und suchte gefährliche
Situationen auf, sodass man von parasuizidalem Verhalten sprechen könnte. Er
probte das Fallschirmspringen und es brachte ihm unermessliche Freude über
seine Kühnheit. Zumindest von außen gesehen führte er ein perfektes, verwöhntes
Leben; finanziell kann er sich alles leisten. Nach außen trägt er ein dickes
Fell, das kaum echte Gefühle durchlässt. Und wenn, dann kommen Überheblichkeit
und Aggressivität zum Vorschein.
Das sind Selbstbeschreibungen, doch hat man als Leser kaum den Eindruck, dass er sich
seiner zugrundeliegenden narzisstischen Charakterstruktur bewußt
ist. Der Selbstmord seiner Mutter ist die große Katastrophe seines Lebens. Sie
brachte sich am Ende einer schweren Krebserkrankung mit Hilfe von Medikamenten
im Kreise Ihrer Familie um. Auch diese Szene ist äußerst beherrscht und
theatralisch (S.270). Mir selbst ist Solomon reichlich unsympathisch; das
Umschlagbild zeigt einen lauernd-kühlen Bubi, mit dem ich mich auf einer Party
nicht länger als fünf Minuten unterhalten möchte.
Er machte eine Psychotherapie und datierte den Ausbruch der
Depressionen immer neu: nach jener Trennung, nach dem Tod der Mutter, nach dem
Scheitern einer Beziehung, in der Pubertät, bei der Geburt. Keine Zeit und kein
Zustand, der nicht irgendwie mit dem Ausbruch der Depression zu tun haben könnte.
Seine Analytikerin ermunterte ihn auf Grund etwas altmodischer Ideen zum
Verzicht auf Arzneimittel. Aber vielleicht auch wahrte er ihr gegenüber etwas
zu sehr den Schein der Normalität. Später klagte er jene Zyniker an, die
leidende Patienten vor prinzipiell wirksamen, oft sogar lebensrettenden Mitteln
warnen. (82) Es stimmt, dass sich Psychopharmaka bei einigen langsam erschöpfen.
Bei manchen sind alle verfügbaren Optionen irgendwann aufgezehrt.
Der unentschiedene Streit: Psychotherapie versus
Pharmakologie
Während traditionelle Psychotherapeuten die Depression als festen
Bestandteil der Charakterstruktur ansehen und diese folglich aufzubrechen
versuchen, betrachten hartgesottene Psychopharmakologen die Krankheiten als ein
durch endokrinologische Faktoren bestimmtes Ungleichgewicht, dass sich
ungeachtet der Gesamtpersönlichkeit beheben lässt. Der Konflikt zwischen
Psychotherapie und Medikation hat moralische Ursachen und handfeste
Konsequenzen. Wer annimmt, dass sich Probleme durch den therapeutischen Dialog
beeinflussen lassen, appelliert an die Disziplin, um sie zu lösen. Sprechen die
Probleme jedoch auf Chemikalien an, so könne man selbst gar nichts dafür und
brauche daher auch keine Disziplin. "Faktisch sind Depressionen zwar in den
seltensten Fällen schuldhaft verursacht, aber in den meisten durch Disziplin zu
bessern", schreibt Solomon. "Wer sich selbst hilft, dem helfen auch
Antidepressiva; doch wer sich zu stark unter Druck setzt, macht alles nur
schlimmer, wobei stets ein gewisser Druck erforderlich ist, um sich wieder frei
zu schaufeln. Medikation und Therapie können gleichermaßen notwendig sein,
doch sollte man sich weder selbst beschuldigen noch bemitleiden." (100)
Um sich von psychischen Krankheiten zu erholen bedarf es
der Pflege. Um sich vor momentanen Rückfällen zu schützen, sollte eine
umsichtige, verantwortliche Medikation mit einer aufbauenden, der Einsicht
dienenden Psychotherapie kombiniert werden (91). Dabei kann der Therapeut dem
Patienten durch Hinweise zu Erkenntnissen verhelfen, die sein Verhalten
beeinflussen und dadurch die Lebensqualität erhöhen (101). Man brauche den
Therapeuten als eine Art Trainer, um bei der Stange zu bleiben. Depressionen
sind eine Krankheit und keine Lebensentscheidung, also müsse der Therapeut darüber
hinweghelfen. Sofern es sich um eine organische Krankheit handelt, muss die
Kasse die Kosten übernehmen. Führt man Depression jedoch auf eine
Charakterschwäche zurück, so wäre der Kranke gleichsam selbst schuld und könnte
ebenso wenig Hilfe erwarten wie bei chronischer Dummheit (368).
Der Erfolg der Pharmakologie reduzierte den Stellenwert der
persönlichen Verantwortung erheblich. Wenn Medikamente in kürzerer Zeit
beweisbar deutlich mehr vermögen als eine Psychotherapie, ist nicht einzusehen,
warum man an 50 Jahren alten moralischen Konzepten zur Depression festhalten
sollte. Solomon wendet sich gegen eine Kritik an der Pharmaindustrie, sie
schlage Kapital aus den Kranken. Seiner Erfahrung nach sind die Unternehmer
sowohl Kapitalisten als auch Idealisten - zwar gewinnorientiert, aber auch
voller Hoffnung, mit ihrer Arbeit den Menschen helfen und wichtige Entdeckungen
fördern zu können, um bestimmte Krankheiten zurückzudrängen. (13) "Mir
wird ganz schlecht", schreibt Solomon, "wenn ich nur daran denke, wo
ich heute wäre, hätte die Pharma-Industrie nicht die Medikamente entwickelt,
die mir das Leben gerettet haben." (398) Der Stimmungsaufheller "Prozac"
konnte nur in der Pharmaindustrie erfunden werden. Angeblich nehmen heute
10 Prozent der erwachsenen Amerikaner dieses Mittel.
Manche Antidepressiva wirken wie Wunder, doch wegen der
Nebenwirkungen sind sie alles andere als ein Vergnügen, und die Ergebnisse sind
keineswegs zuverlässig. Das Gehirn hat mindestens 15 verschiedene
Serotonin-Rezeptoren. Die derzeit verfügbaren Medikamente wirken einfach zu
indirekt, als dass sie gezielt eingesetzt werden könnten. Der Mensch hat 12
Milliarden Neuronen und auf jedes kommen 1000 bis 10.000 Synapsen. Es so
hinzubekommen, dass die Menschen sich immerzu wunderbar fühlen - davon ist man
noch weit entfernt.
Medikation und Psychotherapie
- sämtliche Variationen der beiden Grundthemen tauchen seit Hippokrates und
Platon, also seit zweieinhalb Jahrtausenden, abwechselnd auf, wobei kluge und
dumme Äußerungen dazu in schöner Regelmäßigkeit alternieren. Warum sollte
diese endlose Haarspalterei, wo der Körper aufhört und der Geist anfängt,
heute beendet sein? Vor 35 Jahren fasste Joseph Schildkraut alle vorliegenden
Daten für das American Journal of Psychiatry zusammen und kam zu dem
Schluss, dass Noradrenalin, Adrenalin und Dopamin das Gefühlsleben steuern. Die
Monoaminooxidase-Hemmer verhindern das Zerfallen dieser Substanzen und erhöhen
so ihr Vorkommen im Gehirn. Und Trizyklika bewirken das Gleiche, durch Hemmung
der Wiederaufnahme in den Synapsen. Die Publikation der Thesen bedeuteten den
endgültigen Bruch zwischen Psychoanalyse und Neurobiologie. Eine Synthese der
beiden Vorstellungwelten hält derzeit kaum jemand für möglich. Eine
vermittelnde Positionen nimmt den Standpunkt ein, dass man nicht wissen kann, wie die
beiden Aspekte zusammenhängen. (339)
Ursache und Wirkung
Es ist inzwischen sehr viel darüber bekannt, was im Gehirn
passiert, wenn der Mensch depressive Symptome zeigt. Dennoch ist unser Wissen über
Ursache und Wirkung noch sehr gering. Die Funktionen der Neurotransmitter und
der Synapsen verändern sich, der Stoffwechsel im Stirnhirn wird verlangsamt
oder (seltener) beschleunigt, die Schilddrüse produziert mehr Hormone, in den
Hirnregionen der Mandelkerne treten Funktionsstörungen auf, der Ausstoß des
Melatonins verändert sich, die Körpertemperatur sinkt, der Kreislauf zwischen
den Gehirnzentren wird unterbrochen, und verschiedene Gehirnlappen vermindert
durchblutet. Welches sind Ursachen, welches Symptome und welches nur
Begleiterscheinung der Depression? Sich mehrende Schübe wirken selbstverstärkend.
Ihre erstes Einsetzen knüpft gewöhnlich an auslösende Ereignisse oder Tragödien
an, sodass sie meist im Laufe der Zeit immer schlimmer und häufiger werden.
Viele Therapeuten gehen nach wie vor falsche Wege. Wenn die Schübe schon
automatisch einsetzen, welchen Sinn hat es dann noch, sich um den Stress zu kümmern,
der sie ursprünglich auslöste? Dafür ist es irgendwann zu spät. Was einmal
kaputt ist, lässt sich nur noch flicken, aber nicht mehr heilen (58). Depressiv
zu sein ist natürlich auch Stress. Die Symptome der Depression machen selbst
depressiv. Depressionen machen einsam und Einsamkeit macht depressiv. Eine
teuflische Spirale.
Verursachen Depressionen einen schlechten Schlaf, oder
machen Schlafdefizite auch depressiv? Werden Männer mit Potenzproblemen
depressiv oder ist eine Folge von Depressionen die Unlust an der Sexualität?
Einige Depressive erkranken später an Anorexie. Da Unterernährung depressive
Symptome auslöst, weiß man nicht genau, was Ursache und was Wirkung ist. Jüdische
Männer haben eine höhere Depressionsquote als nichtjüdische. Altersdepressive
sind chronisch untertherapiert, weitergehend deshalb, weil unserer Gesellschaft
das Alter als etwas wahrhaft Deprimierendes betrachtet. Achtzig Prozent der Grönländer
sollen mit Depressionen zu kämpfen haben. Aus genetischen Ursachen oder wegen
der langen Dunkelheit im Winter? Depressionen und Drogenmissbrauch hängen wie
in einem Kreislauf zusammen: Depressive versuchen, sich mit Rauschmitteln selbst
zu helfen, und deren Konsum wiederum kann auf Grund seiner schädlichen, zerrüttenden
Wirkung depressiv machen. (216) Drogenmissbrauch und Depression kann eine
Ursache, eine Folge, ein Verstärker, eine Begleiterscheinung oder ein
Parallelsymptome sein (220).
Machen wir keine Umschweife. Letzten Endes kennen wir
weder die Ursachen der Depressionen noch ihre Grundlagen, wissen auch nicht
einmal, warum bestimmte Therapien dagegen helfen, wie sie den evolutionären
Selektionsprozess überstehen konnte, warum jener sie bekommt, während dieser völlig
unberührt davon bleibt, und schließlich, welche Rolle der Wille in diesem
Zusammenhang spielt." (30)
Psychotherapie
Die
Alternative "Medikation oder Psychotherapie" jedenfalls hält er für
"einfach lächerlich" (102), obwohl seine Erfahrung mit
Psychotherapeuten nicht gerade positiv sind. Die Bizarrheit mancher Therapeuten
ist ein noch unaufgearbeitetes Kapitel in der verborgenen Geschichte der
Psychotherapie. Therapeut und Patient, so viel ist sicher, müssen einander
vertrauen und dieser muss davon überzeugt sein, dass jener sein Handwerk
versteht und ihm helfen kann. Der Patient sollte lernen, die Depression als eine
überhand nehmende äußere Beeinträchtigung zu verstehen. Man klärt die
verschiedenen Symptome ab und benennt sie. Der Kranke fügt sich in seine Rolle
und plant den Verlauf der Besserung; er erstellt ein Verzeichnis seiner gegenwärtigen
Beziehungen und definiert gemeinsam mit dem Therapeuten, was er von den
jeweiligen Personen erwartet und bekommt. Dieser hilft ihm auch, die geeigneten
Strategien zu ersinnen, um das Gewünschte zu erhalten.
Solomon erarbeitete mit
seinem Therapeuten den Gram, die Rollenkonflikte mit Freunden und Verwandten
(zum Beispiel, was jeder gibt und erwartet), ferner belastende private und
berufliche Umbruchphasen (wie etwa Scheidung oder Verlust des Arbeitsplatzes)
und Einsamkeit. Anschließend legten beide klare umrissene erreichbare Ziele
fest und kamen überein, wie lange sie daran arbeiten wollen. Diese Therapieform
sorgt für wohlgeordnete, überschaubare Lebensstrukturen. Er bevorzugt dabei
Bergsteigermetaphern: wir planen den Aufstieg, sind im Basislager und denken darüber
nach, was wir an Gepäck brauchen und wie eine Seilschaft zusammengestellt
werden kann. Sollte man aufbrechen oder vielleicht noch etwas warten? Man
umkreist den Berg und sucht den einfachsten und besten Aufstiegsweg. (185)
"Das Entsetzliche
an der Depression und insbesondere an ihrer Angst und Panik ist, dass der Wille
nichts dagegen vermag: Gefühle kommen absolut grundlos auf." (244)
Psychologen haben gleichwohl nicht unrecht, wenn sie sagen, das beste Bollwerk
gegen Depressionen sei Willensstärke. Um nicht in den gefühllosen Strudel des
Nihilismus gezogen zu werden, bedarf es eines guten, individuell abgestimmten
Medikamentencocktails, therapeutischer Begleitung und eines Willens, sich aus
dem Sumpf befreien zu wollen. Viele Depressive haben einen zähen Lebenswillen,
der therapeutisch gelenkt und gesteigert werden kann. Man kann sich nicht
aussuchen, ob man depressiv wird. Man kann sich nicht aussuchen, wann man es
wird von wann es einem wieder besser geht, aber es gibt eine Art Wahl, was man
mit der Depression anfängt, insbesondere, wenn man auf dem Weg der Genesung ist"
(443).
Solomon probierte auch so genannte Alternativverfahren aus, u. a. EMDR, die
Desensibilisierung und Wiederverarbeitung durch Augenbewegung. "Es ist ein
machtvolles, sehr empfehlenswertes Verfahren." (142) Abenteuerurlaub in der
Wildnis und Fallschirmspringen empfand er als eine Selbstoffenbarung und
Erweiterung der eigenen Grenzen. Er probierte New-Age-Angebote aus, die er im
Grunde abgelehnt, doch merkte er, dass die Einbindung des Mysteriösen in
geregelte Abläufen eine enorme Kraft entfalten. Er berichtet über seine
Erlebnisse mit Menschen in Kambodscha, Senegal und Grönland, um über den
Tellerrand der westlich-industrialisierten Welt zu schauen. Depressionen seien
nicht die ureigene Domäne der modernen westlichen Mittelschichten. Wir hätten
keinen besonderen Anspruch auf diese Krankheit. Jedes Zeitalter erfordert neue
psychologische Theorien. Was für die Menschen im späteren 19. Jahrhundert und
zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Wien und London gestimmt haben mag, muss nicht
unbedingt für die Menschen in der Mitte des 20. Jahrhunderts zutreffen und
vielleicht überhaupt nie für die Menschen in Peking.
Was ist Depression?
Vielleicht beschreibt man
Depressionen am besten als einen Kummer, der uns unfreiwillig befällt und sich
dann verselbständigt. Wenn Gram eine den Umständen angemessene Melancholie wäre,
so wäre Depression ein völlig maßloser Gram. Eine Depression als Krankheit
ist die übersteigerte Form von etwas ganz Alltäglichem, nicht etwas völlig
Exotisches. Eine Depression ist bei jedem anders ausgeprägt. Depressionen können
mit oder ohne Auslöser auftreten, können die gesamte Familie betreffen oder
auch nicht, sie können bei eineiigen Zwillingen parallel auftreten oder auch
nicht, sie können lebenslang dauern oder spontan wieder aufhören. Einige
Depressive sind unter ungünstigsten Umständen aufgewachsen, andere nicht.
Einige reagieren auf ein bestimmtes Antidepressivum, andere nicht. Einige
reagieren überhaupt nicht auf Medikamente, dafür aber auf Elektroschocks, und
einige reagieren selbst darauf nicht (404). "Depression" ist etwas so
allgemeines wie "Husten", der auch alles Mögliche bezeichnet -
Husten, der auf Antibiotika anspricht (Tbc), Husten bei Änderung der
Luftfeuchtigkeit (Emphysem), neurotischer Husten oder Husten bei Lungenkrebs
(405). Jede Form bedarf anderer Behandlung, weil er auf anderen Ursachen beruht.
Es lässt sich nicht übersehen:
Dieses Buch wurde mit einem gehörigen Geldvorschuss geschrieben, um Aufsehen zu
erregen und um bekannt zu werden. Die Außergewöhnlichkeit der Depression
generierte ein außergewöhnlich gutes Buch. Es ist überaus lesenswert und von
hohem Nutzen nicht nur Depressive und ihre Angehörigen. Ungewöhnlich ist die
Mischung aus Historie, Sozialanalyse, Anthropologie und eigener Erfahrung, zurückhaltend
ergänzt durch Geschichten von Leidensgenossen. Das Werk ist ebenso gründlich
wie feinspürig. Andrew Solomon verschafft dem Leser einen erstaunlichen und
mitreißenden Einblick in eine dunkle Seite der Seele. Die tiefe Kenntnis des
Leids wird zur Grundlage der Begeisterung für die Freude.
Gerald Mackenthun
Berlin, Oktober 2001
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