Rygaard, Niels P.:
Schwerwiegende Bindungsstörungen in der Kindheit. Eine
Anleitung zur praxisnahen Therapie, übersetzt von M.
Pritzel, Springer Verlag, Wien New York 2006, 247 Seiten.
In der Literatur wird dem Aspekt
der schwerwiegenden Bindungsstörung noch kein großer Raum
gegeben. Was tun in der täglichen Praxis mit Kindern, bei denen
schwere Bindungsstörungen vorliegen und die gängigen
psychotherapeutischen Maßnahmen nicht ausreichen?
Niels P.
Rygaard führt den Leser sorgfältig und schrittweise zum
Verständnis, daß diese Kinder nicht antisozial sind,
sondern auf Grund ihrer schweren Bindungsstörung nicht erfahren
haben, was soziale Leistung bedeutet.
In Dänemark zeigen 5 %
der Kinder schwere Deprivationsstörungen.
Was den
interessierten Leser zunächst sehr besticht, ist das
ausführliche Inhaltsverzeichnis, welches als leicht
verständlicher roter Faden sich durch das gesamte Buch zieht.
Schön wäre dazu noch ein entsprechendes
Stichwortverzeichnis.
Zunächst wird die Theorie, die
Entwicklung, die Ursachenforschung und Symptomatik von schwer
bindungsgestörten Kindern dargelegt. Sehr wertvoll sind
praxisbezogene Prüflisten für verschiedene Alterstufen,
welche dem Therapeuten helfen, gleichsam als Checklisten Risiken für
das Vorliegen einer schwerwiegenden Entwicklungsstörung
abzuschätzen. Die auf die Praxis ausgerichteten Vorgehensweisen
werden gut unterlegt mit Datenmaterial aus Genetik, Embryologie,
Neurologie und Pädiatrie.
Deutlich wird in das Zentrum der
Aufmerksamkeit für den Leser der Lernschritt einer gesunden
Kindesentwicklung ausgehend von der Objektinstabilität zur
Fähigkeit der Objektkonstanz gelenkt. Gerade für den
Therapeuten ist es wichtig, diagnostisch die Fähigkeit der
Konstanzsicherheit abschätzen zu können. Rygaard öffnet
den Blick des Lesers von der Bedeutung der Konstanzfähigkeit für
den Einzelnen hin zur Bedeutung auch im gesellschaftlcihen Kontext
(Konstanz von Persönlichkeitseigenschaften versus soziale
Konstanz).
Der gut lesbare Text wird anschaulich durch
verständliche Abbildungen und Tabellen bereichert.
Gerade im
Hinblick auf die moderne Hirnforschung wird der mögliche
Zusammenhang der Hirnentwicklung und einer schwerwiegenden
Bindungsstörung angedacht. Vielleicht stellen Noxen, körperliche
Traumata, Infektionen oder eine geringe Hirnstimulation eine mögliche
Genese zur Erkrankung dar.
Ein besonders wichtiges Kapitel ist
die Sicht auf die Not von Eltern, die auf die Bindungsstörung
des Kindes mit Gewalt reagieren. Die betroffenen Kinder sind sich der
Wirkung nicht bewusst, die sie auf die Umgebung ausstrahlen. Da diese
Kinder meist keinen inneren Konflikt wahrnehmen, greifen gängige
Therapien, wie Spieltherapien nicht. Aufreizend mögen diese
Kinder erscheinen, sie nehmen Gefahren für sich nicht wahr und
lassen sich wie gedankenlos darauf ein.
Gerade für
psychoanalytisch ausgerichtete Leser wird anschaulich dargelegt, daß
diese Kinder kein anpassungsfähiges Über-Ich aufbauen.
Ein
wichtiger Abschnitt ist adoptionsbereiten Eltern gewidmet. Für
sie kann es von großer Bedeutung sein. die klar strukturierten
Risikolisten durchzugehen. Therapeuten und Ärzten, welche mit
adoptionsbereiten Eltern umgehen sollten darauf verweisen.
Der zweite Teil des Handbuches
wird insbesondere dem therapeutischen Umgang von Kindern mit schweren
Bindungsstörungen gewidmet. Zentral dabei ist nicht eine
Psychotherapie im klassischen Sinn, sondern eine Milieutherapie, die
ausführlich und einfühlsam beschrieben wird.
Die
Möglichkeiten der Milieutherapie werden in den einzelnen
Lebensabschnitten aufgezeigt.
Aus allen Darstellungen und
Beschreibungen wird die langjährige Erfahrung des Autors im
Umgang mit Kindern mit schwerwiegenden Bindungsstörungen
deutlich, insbesondere aber auch seine emotionale Zuwendung.
Kritisch ist zu bewerten, daß
der Autor die Abtreibung anbietet als Methode, um eine schwere
Bindungsstörung nicht weiter zu vererben. Wegen der erwachsenen
Schwierigkeiten einer ausgetragenen Schwangerschaft mag dies formal
zu verstehen sein, aber ein religiös ausgerichteter Therapeut
oder Elternteil kann dies nicht ohne Widerspruch annehmen. Noch dazu
legt der Autor selbst dar, daß das Ausmaß einer Störung
nicht vorhersehbar ist.
Für Lehrer kann es von großer
Wichtigkeit sein bei auffallender Diskrepanz zwischen intellektueller
und emotionaler Entwicklung eines Kindes an eine schwere
Bindungsunfähigkeit zu denken und dies zu überprüfen.
Auch hierbei sind die Checklisten praxisbezogen und sicher anwendbar.
Wichtige Aspekte vermittelt der Autor dem Alltagsleben in der
Familie, in Pflegefamilien und Pflegeeinrichtung.
Da Kinder und
Jugendliche mit schweren Bindungsstörungen meist selbst unter
großen sexuellen Störungen leiden und für den
sexuellen Missbrauch stark gefährdet sind ist dieses Kapitel
auch wieder praxisorientiert und empathsich dargestellt.
Sehr
mutmachend weist zuletzt P. Rygaard darauf hin, daß Kinder mit
schweren Bindungsstörungen immer eine Schlacht beginnen werden,
sei es mit Eltern, Lehrern, Therapeuten und meist werden sie diese
Schlacht gewinnen, solange keine Information über ihren Notstand
vorhanden ist. Informierte Erziehungsberechtigte siegen aber zum
Schluß immer, da sie letztendlich mehr Geduld haben, emotional
stärker und klüger sind. Was auch immer das Kind sagt und
tut, es kann ohne Hilfe der Eltern nicht leben. In der Information
liegt der Schlüssel des Umgangs mit schwerwiegenden
Bindungsstörungen.
Dieses leicht lesbare, spannend
geschriebene Buch sollte Standardliteratur für Psychologen,
Psychiater, Sozialarbeiter, Schulpsychologen, Therapeuten, Eltern,
Pflegeeltern und Lehrer sein.
Dr. A. Drähne, Bonn
Dezember
2006
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