Rifkin, Jeremy
(2010): Die empathische Zivilisation: Wege zu einem
globalen Bewusstsein. Campus Verlag, Frankfurt/New York, 468 Seiten.
Original: The Empathic Civilization: The Race to
Global Consciousness in a World in Crisis. Tarcher Publishers, New
York 2009.
Die
Irrtümer, denen Rifkin unterliegt, sind grandios in Vielfalt und
Umfang. Er fragt, ist es ein menschlicher Trieb, aggressiv,
gewalttätig und konkurrenzorientiert zu sein? Oder ist er nicht
vielmehr sozial und hilfsbereit, eben empathisch? Die Antwort lautet:
Wir sind einfach beides. Rifkin aber glaubt, als erster die Empathie
für die weitere Entwicklung der Menschheit gefunden zu haben.
Er
hat recht, wenn er sagt, für die Zukunft der Menschheit sei
entscheidend, was dominiert: Konkurrenz und Streit oder Kooperation
und Gemeinschaftsgefühl. Es gelingt einzelnen Individuen
(Propheten, Helden oder Staatsmännern) einen starken Sinn für
die friedliche Zusammenarbeit auf globaler Ebene zu entwickeln. Es
ist aber falsch anzunehmen, wie Rifkin es tut, dass die Evolution dem
Prinzip der zunehmenden Empathie folgte. Es ist richtig, dass
Säugetiere miteinander kooperieren können. Rifkin ignoriert
aber, das sie ebenso miteinander konkurrieren. Männchen schlagen
sich um die Weibchen, die Alten fressen den Jungen das Futter weg.
Rifkin übersieht, dass der Mensch, um zivilisiert leben zu
können, einen Teil seiner Natur überwinden oder ausschalten
muss. Es ist sehr die Frage, ob das Soziale der "primäre
Trieb" bei Säugetieren, Kleinkindern oder sogar Babys ist.
Falsch
ist auch seine Annahme, dass Nationalstaaten wie erweiterte Familie
funktionieren. In großen Gesellschaften ist die Verwandtschaft
und Bekanntschaft nicht mehr gegeben; zunehmend begegnen wir
Fremden. Gegenseitige Begegnungen erfolgen auf anonymer Ebene, das
ist etwas grundsätzlich Anderes, als der Zusammenhalt in
Familien, wo jeder jeden kennt. Die Empathiefähigkeit, das
Einfühlungsvermögen ist tatsächlich Voraussetzung, um
immer komplexere Gesellschaften zu organisieren. Gleichzeitig ist zu
beobachten, dass ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung
mit dieser Komplexität überfordert ist. Offensichtlich hat
Empathie eine Reichweiten-Grenze, die Rifkin ebenfalls übersieht.
Dass die familiärer Empathie nicht auf die gesamte Menschheit
ausgedehnt werden kann, sondern noch weitere seelische und geistige
Fähigkeiten bedürfen, haben schon Ferdinand Tönnies,
Helmuth Plessner und auch Henri Bergson vor 80 bis 100 Jahren
dezidiert erforscht und beschrieben. Es ist ein nicht zu
entschuldigendes Manko, dass Rifkin diese wichtigen Soziologen nicht
kennt.
Kategorien
wie Einflussnahme, Macht und wirtschaftliche Interessen kommen bei
ihm gar nicht vor. Ohne Zweifel gibt es erfreuliche und
zukunftsweisende globale Trends, die über eine zunehmende
Vernetzung und gesteigerte Mobilität den kulturellen Austausch
fördern, und damit zum gegenseitigen Verständnis und zur
Toleranz beitragen.
Schon
vor 100 Jahren hat der Wiener Alfred Adler das Gemeinschaftsgefühl
zum beherrschenden Gefühl des Menschen ausgerufen, was Rifkin
kaum am Rande erwähnt (S. 300 f.). Entgegen Adler haben
Philosophen der Empathie nicht die alles überragende Rolle in
der Menschheitsgeschichte zugeschrieben, eben weil sie kein absolut
dominantes, alle anderen Affekte übertrumpfendes Gefühl
ist. Natürlich gibt es täglich Hunderte Zeichen der
Aufmerksamkeit und des Mitgefühls. Aber was beweist das?
Jedenfalls nicht, was Rifkin behauptet, dass nämlich die
empathische Veranlagung des Menschen noch nicht richtig untersucht
worden sei (S. 21).
Das
Buch ist eher eine unangenehm aufdringliche Selbstinszenierung
Rifkins, als ein Buch, dass unser Denken verbessern hilft. Rifkin
soll, so heißt es, eine Art Universaltheorie entwickelt haben,
die alles, was man über die menschliche Natur zu wissen glaubt,
über den Haufen wirft? Selten so gelacht.
Gerald Mackenthun, Berlin
1. März 2010
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