Rhue,
Morton: Ich knall euch ab! Mit einem Nachwort von Klaus
Hurrelmann Ravenburger Buchverlag, 148 Seiten.
Es ist ja viel gesprochen worden, überall war die Empörung und
das Entsetzen groß. Selbst unser Bundeskanzler sprach von einem
"unfassbaren Ereignis". Solche Bemerkungen von einem öffentlichen
Repräsentanten sind eigentlich in hohem Maße ärgerlich, da sie zur
Mystifizierung beitragen, als wären solche Ereignisse wie der Amoklauf in
Erfurt oder in Littleton tatsächlich unverständlich. Grausig sind sie allemal,
aber unfassbar eben nicht. Zwar mag es sein, dass dies in üblichen Kategorien
nicht leicht auszudrücken ist, dass auch psychologische Theorien nicht so recht
greifen wollen, weil es immer einen nicht so leicht auflösbaren Rest gibt.
Jedenfalls gibt es viele Schüler, die keine Frustrationstoleranz haben, die in
einem zerrütteten Elternhaus aufgewachsen sind - oder auch in einem der
"Normalpathologie", jenen unauffälligen, angepassten Bürgern, als
die auch erwachsene Amokläufer imponieren - und trotzdem wird nicht jeder zum
Amokläufer.
Das komplexe Zusammenspiel ist mit bloßen allgemein gültigen Begriffen
nicht leicht zu fassen. Vor allem wird nicht wirklich transparent, was in einem
Menschen vorgeht, wie groß seine Verzweiflung ist, dass er zu einer solchen Tat
greift, die ihn wenigstens einmal, posthum, aus der Position des Nichts
heraustreten läßt. Wie groß der Haß ist und wie er sich entwickelt, das kann
am besten in Einzelfallstudien erfaßt und erkannt werden. Hier entsteht dann
wirklich Betroffenheit, die zugleich einen Aufruf beinhaltet, unsere doch so
beziehungsgestörte Welt ein wenig zu verbessern, indem der einzelne sich selbst
zum Mitmenschen entwickelt. Derart berührt werden wir am ehesten durch
phänomenologische Studien. Und der Phänomenologie in der Psychologie am
nächsten steht nun einmal die Literatur, der Schriftsteller, der eben die
feinen Töne zu erfassen vermag und dem auch noch die nachvollziehbare
Darstellung gelingt.
Morton Rhue hat schon einmal eine Probe seiner Kunst vorgelegt. In "Die
Welle" schildert er, wie ein Experiment, indem eine engagierte Lehrerin
ihren Schülern klarmachen will, wie die Vermassung in totalitären Systemen
zustande kommt, wie nahezu jeder gefährdet ist, von solchen subtilen Systemen
vereinnahmt zu werden, scheitert. Es scheitert dahingehend, dass es zu gut
gelingt. Tatsächlich entwickeln sich totalitäre Strukturen, die plötzlich ein
Eigenleben entwickeln. Was Experiment war, erfaßt die "Probanden" wie
die Experimentatorin und wird zur Realität an einer Schule.
In gleicher Weise gelingt es Morton Rhue in "Ich knall euch ab!",
dem Leser begreiflich zu machen, wie eine derart entmenschlichte Brutalität
zustande kommt. Geht im Prozeß, wie schon von Dostojewski in
"Raskolnikow" geschildert, eine Entmenschlichung der zukünftigen
Opfer voraus, so erfahren zuvor die Täter eine Ausgrenzung und
Entmenschlichung, die es ihnen nicht mehr möglich macht, sich der Gemeinschaft
zugehörig zu fühlen. Gesellschaftliche Aspekte kommen hinzu:
Beziehungslosigkeit, Egozentrismus, Modeterror,
Gewaltvideos, Ausgrenzung all dessen, was nicht im Mainstream liegt. Rhue
gelingt es auch in diesem Roman, die Leser in die Gefühlsstrukturen der
Protagonisten einzuführen. Die Distanzierung und die bloße Schuldzuweisung an
andere will nicht so recht gelingen.
Bernd Kuck, Bonn, 10.7.2002
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