Rattner, Josef/Danzer, Gerhard: Selbstverwirklichung. Seelische Hygiene und Sinnsuche im Dasein, Würzburg 2006, 237 Seiten, Königshausen & Neumann.
Lesen würde da schon ein bisschen weiter helfen. Hier kann der Mensch seine Persönlichkeit ebenfalls entwickeln, wenngleich sich die tiefenpsychologischen Autoren natürlich bewusst sind, dass Engen und Einseitigkeiten der Leser, ihre unbewussten Konflikte, den Lektürefrüchten Grenzen setzen. Gelungene Lektüre setzt ja bereits den offenen Menschen voraus, der gleichsam tote Buchstaben lebendig machen muss. Erst eine grundsätzliche Offenheit schafft den Zugang zum Lerninhalt. Die reichhaltige Lektüre ist natürlich nicht mit Allerweltstexten des Massengeschmackes möglich. Hier ist es gut, sich Mentoren anzuschließen, um in der Auswahl der Lektüre der Geisteswelt auf der Höhe der Zeit zu begegnen. Da kann man getrost den Anfang mit diesem Text machen. „Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins davon zu Geld und kaufe damit dieses Buch“ (Lichtenberg).
In einem weiteren Aufsatz wird für die Sammelleidenschaft eine Lanze gebrochen. Die von der Psychoanalyse behauptete anale Grundhaltung ist doch arg reduktionistisch, wenngleich sie hier und da zutreffen mag. Wie jeder Reduktionismus läßt auch der psychoanalytische die Phänomene verarmen. Rattner schildert die Sammlerleidenschaft in ihrer Vielschichtigkeit als „Ich-Protese und Selbstwertsteigerung“ (45), wobei er u.a. die Goethesche Freude am Sammeln zum Beleg nimmt. Freud selbst ist ein weiteres Beispiel. Zwar darf er wohl im psychoanalytischen Sinne als Analcharakter angesprochen werden; seine Antikensammlung steht zugleich in engem Zusammenhang mit seiner Arbeit an den historischen Ursprüngen der Einzelseele wie auch der Menschheit.
Ebenso differenzierte Würdigung finden die Sammler Stefan Zweig und Honoré de Balzac.
Als weitere Möglichkeit der Selbstverwirklichung, worin die vornehmste Aufgabe des Menschen gesehen wird – schließlich ist er vermutlich bis auf weiteres das einzige Lebewesen mit Selbstbewusstsein und damit „Lichtung des Seins“ (Heidegger) – wird die Entwicklung zum Generalisten gesehen. Dem steht allerdings oft genug die Eitelkeit vieler Menschen entgegen. Sich einem neuen Feld zu öffnen geht immer mit einem gesunden Kleinheitsgefühl einher, der Einsicht der eigenen Unwissenheit. Dem sucht sich der eitle Mensch zu entziehen. Nicht etwa, weil dem Menschen die Eitelkeit naturhaft zueignet, wie etwa La Rochefoucauld und viele nach ihm meinen. Vielmehr besteht die reale Erziehungspraxis in unserer Kultur immer noch in der Erniedrigung des Kindes, wodurch ein künstliches Minderwertigkeitsgefühl in ihm erzeugt wird. Fest im Unbewussten verankert, wird ihm ein kompensatorisches Größenselbst entgegen gestellt, welches die brüchige Person zusammenhalten soll. Kohut hat darauf seine ganze Narzißmustheorie gegründet. Gefährlich ist diese Haltung, weil sie für Nationalismus, Konfessionalismus und Rassismus empfänglich macht.
Es folgt schließlich ein kleines Kompendium der großartigen Weite kultureller Sphären, in denen jeder nach seinen Interessen teilhaben, um nach Kräften sein Welt- und Menschbild am „Weltgeist“ (Hegel) zu schulen und letztlich seine Eitelkeit (i.e. Ichhaftigkeit) überwinden könnte.
Im Aufsatz „Psychologie der Hingabefähigkeit“ (s. 85f) begegnet der lesende Mensch faktischer Ganzheitspsychologie. Ausgehend von dem viele Menschen beseelenden Wunsch nach Hingabefähigkeit in der Sexualität, wird eine Zusammenhangsbetrachtung entfaltet, welche den verkürzten Ansatz von Sexualtherapien als kleine Pünktchen im Kosmos menschlicher Werdensnotwendigkeiten erscheinen lässt, möchte jemand auf diesem Felde wirklich etwas für sich erreichen.
Immanuel
Kant sah drei Möglichkeiten, die Schwierigkeiten des Lebens zu
mildern: Die eine ist der Schlaf, eine weitere die Hoffnung und die
dritte das Lachen. (96) Damit ist eine weitere Möglichkeit der
Selbstverwirklichung genannt: der Humor. Aber ebenso bieten die Kunst
und die Philosophie große Möglichkeiten, wobei die
Beschäftigung auf diesen Feldern immer mit einer inneren
Notwendigkeit, einem wahrhaften inneren Bestreben zu tun hat, nichts
mit Ausschmückungen der dem Schein verhafteten Existenz. Kunst
und Philosophie können wesentlich zur Menschwerdung beitragen.
Etwa die Kunst, indem sie den Blick für das Schöne und
Ästhetische schult – sicherlich nicht der einzige Auftrag
oder das einzige Anliegen der Kunst. Aber Rattner geht es immer um
die Orientierung am Wertvollen. Denn der Blick zieht einen dorthin,
worauf er ruht (v. Gebsattel). Und wer das Wertvolle fördern
will, der klebt nicht am Kotigen, sieht es aber gleichwohl.
Ebenso
kann die Philosophie – jenseits des Katheders – zur
Selbstkenntnis des Menschen beitragen. Zwingend ist dies natürlich
nicht, wissen wir doch von „kunstliebenden“
Menschverächter und Akrobaten der philosophischen Höhenflüge,
deren Flugbahn wenig oder keine Mitmenschlichkeit und
Selbsterkenntnis berührte. Kann hier die Tiefenpsychologie
hilfreich sein, so ist sie ebenfalls kein Garant. Ohne die
Grundforderung ethischer Maxime: „Sei Du selbst! Werde, der Du
bist!“, die sich der Adept gleichsam als innerste Angelegenheit
vorgibt, wird keine der menschlichen Weisheiten im Einzelnen zu einem
ethischen Verhaltenskodex führen. Wie lächerlich wirken da
Anleitungen aus der Abteilung Lebenshilfe der Buchhandlungen.
Alles
in allem hohe Anforderungen. Aber die Menschwerdung ist eben nur ein
Fakultativum. Hier hat die Frage von Wiglaf Droste ihre Berechtigung:
„Stumpft der Mensch vom Gaffen ab?“
Und doch: Dieses
Pensum birgt die Gefahr, dass vor solch hohen Ansprüchen kaum
jemand bestehen kann. Drum werden in den Texten auch nur Tote
bewundert. Entweder gibt es nach Meinung der Autoren keine lebenden
bedeutenden Menschen oder sie werden erst nach ihrem Ableben als
solche erkannt; so ist es zumindest bei den Künstlern gang und
gäbe. Es wäre aber wohl eine dankbare Aufgabe, in Zeiten
der mangelnden Vorbilder, lebende Menschen zu portraitieren. Aber
vielleicht gelingt es besser im zeitlichen Abstand, die Größe
eines Menschen zu erfassen.
Wer
Weisheit sucht, der findet sie z.B. in der Frühzeit der
chinesischen Philosophie des Konfuzius. Im Kern sei es Konfzius um
den edlen Menschen gegangen, der hauptsächlich damit befasst
ist, sich zum wehrhaften Mitmenschen, bei dem Reden und Taten eine
Einheit bilden, zu entwickeln.
Goethes Lebens- und
Entwicklungsweg wird nachgezeichnet, vor allem, um vor dem Giganten
nicht zu kapitulieren, sondern das Werden des Menschen zu studieren,
dessen Lebensentwurf über weite Strecken als gelungen angesehen
werden kann. Goethe fand den Weg in das kompensatorische Tätigsein,
da er ganau wußte, „dass Grübeln und Lamentieren
immer weiter in die Verstrickung hinabzuführen pflegen.“
Er lernte, seine persönlichen Schwierigkeiten „durch
nützliche Arbeit für die Gemeinschaft kompensatorisch zu
überwachsen (...).“ (131)
„Spezielle Formen der Selbstrealisation“ zeichnet auf dem Boden der Wertphilosophie eine etwas andere Motivationstheorie für den Menschen, die an Kurzbiographien von Kierkegaard, Schopenhauer und Nietzsche exemplifiziert wird. Sie hatten gegen erhebliche Widerstände der Majorität anzukämpfen, die sich mit Vorliebe der Realisation niederer Werte hingeben, dabei jedoch nicht versäumen, die Bezieler höchster Werte (i.S. Nicolai Hartmanns) zu bekämpfen.
Die
Aufsätze „Humor als Lebensanschauung“ und „Das
Leben als Kunstwerk“ visieren ebenfalls Entwicklung und
Entfaltung der Person an. Dabei ist das Erringen einer humorigen
Einstellung zum Leben selbst schon Ausdruck der Lebenskunst.
Idealismus im schönsten Wortsinne, als Entfaltung oberster
Werte, damit die Person werthaltig werde bzw. danach strebe.
Weitere
Bespiele gelungener männlicher und weiblicher Lebensentwürfe
runden den Text ab.
Das alles will so gar nicht in unsere Zeit, in die Spaßkultur passen. Hier ist nichts leicht zu haben und doch ohne den „Geist der Schwere“ übermitelt. Der gesamte Text kann als Exemplifizierung und Anleitung zu Nietzsches Ausspruch gelesen werden: „Nicht nur fort, sondern hinauf sollt ihr euch pflanzen!“
Bernd Kuck, Bonn, April 2007
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