Rattner, Josef/Danzer, Gerhard: Liebe und Ehe. Zur Psychologie der Zweierbeziehung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2001
Die höchste psychische Ausformung ist für sie die Personwerdung,
der sie umfangreiche Teile des Buches widmen. Person ist eine höhere
und wertvollere Form des Menschseins, ein sich stetig weiterentwickelndes
Wesen. Das könne vor Sturheit und Stagnation schützen, den hauptsächlichsten
Störfaktoren von Zweierbeziehungen. Viele ihrer Äußerungen
zur Person und zur Zweierbeziehung legen nahe, eine enge Beziehung und
intensive Nähe ohne zeitliche Dosierung zu suchen. Liebe ist ihrer
Ansicht nach eine innige Zuwendung zum Du, ein mehr oder weniger konstantes
Zueinanderhinfließen vom Ich zum Du. Derartige idealistische Forderungen
können leicht überfordernd wirken, und ob sie in dieser allgemeinen
Formulierung praktikabel sind, scheint doch ein wenig fraglich. Das gerade
das ewige Zusammensein auch stabile Ehen belasten und fundamental erschüttern
kann, wird von den Autoren nicht berücksichtigt.
Verheiratete leben länger als Geschiedene, Verwitwete oder Singles.
Die Qualität einer Liebesbeziehung oder einer Ehe kann ganz entscheidend
zum Gesundheitszustand oder zur Krankheit eines Menschen beitragen. Ein
weiteres Kapitel beschäftigt sich deshalb mit Ehe und Psychosomatik.
Damit sollen die körperlichen Voraussetzungen und Konstitutionen eines
Menschen keineswegs übergangen werden. Vertreten wird gleichwohl die
Meinung, dass eine psychosomatische Erkrankung gegen den Partner oder gegen
andere Personen des näheren Umgangs gerichtet sind. Krankheiten würden
häufig mit Dissonanzen größeren Ausmaßes zwischen
beiden Partnern einher gehen. Verfolgt wird die über 100 Jahre alte
Vorstellung, dass Alkoholkrankheiten durch lebensgeschichtliche Ereignisse
(Stress) sowie durch Charakter und Weltanschauung ausgelöst und kodifiziert
werden.Den Anschluss an den neueren Stand der Psychosomatikforschung, die
eine "Schuld" der Erkrankten verneint, haben die Autoren noch nicht erreicht.
Wer den von den Autoren formulierten hohen Anforderungen an eine monogame,
lebenslange Ehe nicht gerecht wird, gerät schnell unter Neurose- oder
gar Psychoseverdacht. Kant, Schopenhauer, Lichtenberg, Sartre, Binswanger
Goethe, Medard Boss, Konrad Lorenz - wenn die Messlatte sehr hoch gelegt
wird, kann niemand mehr dem Standard genügen.
Von mehr Farbe und Lebendigkeit als die theoretischen Ausführungen
ist die Darstellung von vier Ehebeispielen aus der Kultur, beginnend mit
der Ehe von Johann Wolfgang Goethe und Christiane. Was in einem früheren
Aufsatz leicht missbilligend konstatiert wurde, dass sich nämlich
mancher hochstehende Mann eine einfache Frau wählt, um den Rangunterschied
zu zementieren, wird hier wohlwollend zur Kenntnis genommen. Ihre Ehe war
gewiss nicht von Schwierigkeiten frei, aber ebenso gewiss ist, dass Christiane
und Johann Wolfgang sich aufrichtig liebten. Immerhin hatte ein Ministerpräsident
eine Blumenbinderin zur Frau genommen und nach langer „wilder Ehe" geehelicht.
Auch hatten wir bereits gesehen, dass Danzer und Rattner dem Seitensprung
kritisch gegenüber stehen. Goethe hatte nur einmal Gelegenheit dazu
und war auch nicht abgeneigt, doch versagte ihm sein Geschlechtsorgan den
Dienst. Bei Goethe wird der Seitensprung als Abenteuer bezeichnet, „dass
nun einmal in den Wechselfällen des Lebens nicht zu umgehen war".
(174)
Wenn man von einer katastrophalen Paarbeziehung reden will, dann von
einer Tolstoi-Ehe. In jungen Jahren lebte Tolstoi ein wildes und beinahe
lasterhaftes Leben, seine sexuellen Erfahrungen holte er sich bei Prostituierten.
Der Dichter konnte die Finger nicht von hübschen Bäuerinnen lassen,
so dass es zu hässlichen Eifersuchtsszenen mit seiner Ehefrau Sophie
kam. Nach einigen erträglichen und manchmal sogar glücklichen
Ehejahren verwickelte sich Tolstoi nach seiner religiösen Wendung
in unendliche Streitigkeiten mit seiner vernünftig denkenden Frau.
Wie schon bei Goethe und Tolstoi fiel Katja Mann die Rolle der Unterstützerin
und Verwöhnerin zu. Auch sie stand dem Haushalt vor, pflegte und erzog
die Kinder, unterstützte ihren Mann bei seinen literarischen Arbeiten,
und so wuchs durch die Tatkräftigkeit der Frau Thomas Mann in die
Rolle einer ethischen Instanz hinein. Da sich mit Thomas und Katja zwei
recht unterschiedliche Charaktere zusammen fanden und Thomas Mann noch
eine latente Homosexualität pflegte, kann auch dieses Ehepaar nicht
dem hohen Ideal von Rattner und Danzer genügen. Thomas Mann war unspontan
und er „wohnte nicht im Leibe", was er hinter einer großbürgerlichen
Fassade verbarg. Aus dieser Spannung der Persönlichkeit ergab sich
eine produktive Dramatik, die er in ein großartiges Lebenswerk überführen
konnte. Während Goethe durch Liebeleien seinen Eros zu immer neuen
Höhenflügen anspornen konnte, war Thomas Mann produktiv dadurch,
dass er nicht durch erotische Liebeleien abgelenkt wurde.
Von außerordentlichem Interesse ist die „geistige Ehe" zwischen
Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, die ihre Beziehung als eine „notwendige"
definierten, die „zufällige Abenteuer" nicht ausschließen sollte.
In ihrer letztendlich unerschütterlichen Geistesgemeinschaft gab es
keine Sexualität. Sartre war auf vielerlei Art süchtig, nicht
nur nach Ruhm und Liebe, sondern auch nach Alkohol, Nikotin, Aufputschmittel
und Schlafmittel. Beauvoir war in dieser Hinsicht weniger extrem, und sie
war auch nicht die Zuarbeiterin und Unterstützerin des Mannes, sondern
gleichwertiges Gegenüber. Gemessen wiederum am „Person"-Konzept der
beiden Autoren kommen die beiden französischen Existenzialisten nicht
an dieses Ideal heran, erwerben aber die Bewunderung von Rattner und Danzer
durch ein immenses Werk, das durch ein starkes und humanitäres Ethos
geprägt ist.
Etwas mehr innerhalb der bürgerlichen Norm gestaltete sich das
Eheleben der drei Gründer der Tiefenpsychologie Freud, Adler und Jung.
Freuds Weltbild war patriarchalisch und einige seiner Äußerungen
über „die Frau" sind abstoßend. Das überrascht, denn im
psychoanalytischen Umfeld arbeiteten eine Reihe von intelligenten Frauen,
deren Leistungen Freud anerkannte und denen gegenüber er sich als
wahrer Gentleman zeigte. Doch Martha Freuds Rolle war ganz darauf ausgerichtet,
ihrem Mann den Haushalt zu führen, die Kinder zu erziehen und ihm
den Rücken frei zu halten.
Das kann man von Raissa Adler nicht behaupten, die stark an der Politik
und wenig an der Psychologie Interesse hatte. Auch Adler lebte ganz seinen
Psychologie, und seine politisch ambitionierte Frau musste sich um den
Haushalt und die Kinder kümmern. Raissa war sicherlich Adlers einzige
Liebe, doch wurde vor wenigen Jahren bekannt, dass der Gründer der
Individualpsychologie nebenbei mindestens eine Liebesaffäre hatte.
Darüber nachzudenken, wie der entschiedene Monogamist Adler zu einer
Liebesbeziehung kam, halten Rattner und Danzer für moralistisches
Getue. Doch blättern wir zurück zu den Ausführungen der
beiden Autoren zum Seitensprung, so lesen wir dort, dass vielen dieser
Charaktere das Lügen und Verheimlichen (der Nebenbeziehung) ein fast
existenzielles Bedürfnis ist. Der Betreffende trennt sich innerlich
von seinem Partner und schafft sich eine imaginäre Überlegenheit
über den Ahnungslosen. Die Autoren tadeln auch sonst die Abschweifungen
von einer dauerhaften Zweierbeziehung, doch bei Adler drücken sie
ein Auge zu.
Zum Schluß hin behandelt das Autoren-Duo Werke der Weltliteratur,
in denen mit psychologischem Gespür allgemein menschliche Probleme
abhandelt werden, darunter „Madame Bovari" von Flaubert sowie „Nora" und
„Hedda Gabler" von Ibsen. Die gegenseitige Zerfleischung der Eheleute ist
mit dem Begriff der „Strindberg-Ehe" zu einem geflügelten Wort geworden,
wobei Strindberg offenbar von eigenen Erlebnissen ausgehen konnte. In „Der
Vater" dramatisiert er den Kampf zwischen Mann und Frau. Hier treibt eine
Frau den Mann in den Wahnsinn. Daraus lässt sich nicht unbedingt etwas
für die eigene Ehe ableiten, aber das Drama der Nachbarn interessiert
uns meistens mehr als das eigene. Auch „Effi Briest" wurde von Fontane
wunderbar erzählt, doch wie in den anderen Beispielen rühren
die Konflikte aus einer patriarchalischen Kultur her, die zwar nun nicht
völlig überwunden ist, deren Konfliktpotenzial heute aber so
nicht mehr existiert. Einen starren männlichen Ehrenkodex wie vor
100 Jahren finden wir heute nur noch in den orthodoxen-islamischen Gesellschaften.
Man hat ein wenig den Eindruck, als ob Rattner und Danzer eine vormoderne
Gesellschaft beschreiben. Kein einziges der Ehe- und Literaturbeispiele
stammt aus den letzten 60 Jahren. Gewiss ist wahr, dass auch heutige Ehen
mehr Humanismus und Gemeinschaftswerte benötigen; mit mehr Menschenkenntnis
und einem ethischen Standpunkt - über den die Autoren ohne Zweifel
verfügen - würde es auf unserem Planeten wohnlicher zugehen.
Doch ihr Bezug zur bunten und lebendigen Gegenwart scheint manchmal etwas
dünn zu sein. Man muss sich nur einmal die jungen, selbstbewussten
türkischen Mädchen in einer deutschen Großstadt anschauen,
um zu sehen, dass sich die Zeiten gewaltig gewandelt haben.
Und warum immer wieder der Rückgriff auf die orthodoxe Psychoanalyse,
deren Befunde selbst die Autoren als entweder falsch oder überholt
ansehen? Warum immer noch die Verbeugung vor Freud? Auch bleiben die Autoren
oftmals im Ungefähren: "Vermutlich ist ein Teil der Impotenz und der
Frigidität auch von der Biologie her zu verstehen", heißt es
beispielsweise. Solche Formulierungen lassen alles offen, tun niemandem
weh. Einige Wiederholungen fallen auf, so wird immer wieder auf Freuds
Sexualtriebtheorie zurückgekommen oder auf die Formulierung Max Schelers,
der Mensch könne sich in Werte „hinauflieben". Auffallend ist die
idealistische Gesinnung der Autoren, die sich manchmal in bedenkliche und
unbewiesene Annahmen verliert, wie beispielsweise die, dass niemand wahnsinnig
werden könne, wer in Arbeit, Liebe und Sprache zu den Mitmenschen
findet.
Im Großen und Ganzen handelt es sich jedoch um eine einzigartige
Zusammenstellung in einem ganz eigenen, unverwechselbaren Stil, der getragen
ist von der Vorstellung, dass die monogame Langzeitehe die letzlich einzige,
dem Menschen gemäße Partnerschaftsform ist, an die hohe Anforderungen
gestellt werden, damit sie als gelungen bezeichnet werden kann. Das Buch
bietet viele Anregungen, hat einen breiten Horizont und ist in einem flüssigen
Stil geschrieben, der das Lesen zur Freude macht. Das gilt vor allem für
die Fallgeschichten und literarischen Beispiele.
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