Millet,
Catherine: Das sexuelle Leben der Catherine M., Goldmann Verlag, München
2001, 285 Seiten.
Da möchte ich also einen guten erotischen Roman lesen. In der Presse häufiger
gut besprochen, wenn auch in Frankreich äußerst kontrovers diskutiert.
Besonders wurde hervorgehoben, daß es eine Frau ist, die ihre sexuelle
Biographie schreibt, was immerhin suggeriert, daß es sich um eine andere Art
der Darstellung handelt, als der interessierte Leser von den männlichen Autoren
gewohnt ist. Also vielleicht einmal nicht ein Konvolut, in dem die Frau als
sexuelles Objekt dargestellt wird? Keine sado-maso Spiele? Auch keine
masochistische Unterwerfung der Frau (wie z.B. in der „Geschichte der O“),
sondern raffinierte Erotik?
Beginnen wir mit dem Positiven: Es ist gut geschrieben und der Leser erfährt
einiges aus den Abgründen menschlichen Sexuallebens. Der Stil wirkt nüchtern,
fast wie eine Reportage.
Ansonsten handelt es sich eher um einen Text, den man nur unter
pathologischen Gesichtspunkten studieren kann, zumindest dann, wenn die Autorin
beim Wort genommen werden will, es sich tatsächlich um eigene Erlebnisse
handelt, also um in Realität verwandelte Phantasien, wie sie dem menschlichen
Leben inhärent sind. Mit erotischer Literatur hat das aber alles nichts zu tun.
Es ist schlicht Pornographie. Und die Emanzipation der Frau erschöpft sich hier
darin, daß die Autorin aktiv sexuelle Begegnungen – nein besser ist wohl
events – aufsucht. Möglich, daß der Text schon NachahmerInnen gefunden hat,
denn inzwischen kann frau/man sich über das Internet zum Rastplatzsex
verabreden. Die sogenannten „Swingerclubs“ sind derzeit sehr in Mode, wo
also noch in halböffentlichem Raum gerammelt werden kann. Aber Erotik?
Dem Psychotherapeuten sind solche sexuellen Obsessionen natürlich keine
unbekannten Erscheinungen. Unbedingt ist es auch ein Vorteil, daß so etwas –
immer vorausgesetzt, es handelt sich tatsächlich um eine „Autobiographie“
– in der heutigen Zeit offen diskutiert werden kann, daß die Sexualität, die
nicht der jeweils geltenden sexuellen gesellschaftlichen Moral entspricht, sich
nicht in der sogenannten Halbwelt ereignen muß. Toleranz ist auch angesagt,
solange alle Beteiligten sich aus eigenem Entschluß einfinden. Aber solche Art
sexuellen Lebens möge doch bitte nicht als erotische Literatur angepriesen
werden.
Es steht jedenfalls sehr zu vermuten, daß wir es hier mit einem Menschen zu
tun haben, dessen Sexualität und sexuelle Erlebnisfähigkeit schwer gestört
ist. Am ehesten würden wir hier eine schwere narzißtische Persönlichkeitsstörung
diagnostizieren, zu der in keiner Weise im Widerspruch steht, daß die Autorin
„renommierte Expertin für zeitgenössische Kunst“ und Chefredakteurin eines
französischen Kunstmagazins ist. Was hier jedoch als sexuelle Freiheit
daherkommt, dient vermutlich mehr dem Stopfen narzißtischer Lücken. Das kann
ruhig wörtlich genommen werden, denn in den sexuellen events läßt sich die
Protagonisten buchstäblich alle körperlichen Öffnungen mit Schwänzen
stopfen, am liebsten gleichzeitig. Einschlägige Orte werden eigens zu diesem
Zweck aufgesucht. Es geht dabei nicht um Erotik, sondern am ehesten noch um
Gier, nicht einmal nur um Triebabfuhr. Und die ist unstillbar, entsprechend häufig
müssen weitere events aufgesucht werden, weil eine wirkliche Befriedigung
ausbleibt. Sexuelle Gier wird hier zwingend und damit verliert sie den Aspekt
der Freiheit, in der sich gerade zutiefst menschliche Eigenart zeitigt, ja im
eigentlichen Sinne wird die Sexualität auf die tierische Begierde reduziert.
Strenggenommen ist es selbstverständlich keine bloße tierische Begierde, denn
kein Tier würde auf diese Art kopulieren, zu solchen Varianten ist wieder nur
der Mensch fähig. Und doch zielt das ganze Unternehmen auf das Stillen eines
Verlangens ab, das nur zum kleinsten Teil im Stillen des Begehrens gründet. Das
Buch wird jedem gerecht – vermutlich hauptsächlich Männern -, der sich
aufgeilen möchte. Wer jedoch Erotik sucht, der findet am ehesten Ekel. Ekel,
nicht als Ausdruck von Prüderie, sondern Ekel als Abwehrmechanismus, der – ähnlich
wie die Scham – das Individuum davor schützen soll, als bloßes Objekt mißbraucht
oder, mit Schelers Worten, als Person mit seinen personalen Bedürfnissen mißachtet
zu werden.
Das speziell Menschliche oder sagen wir besser: die menschliche Potentialität
der Personwerdung, wird hier vertan. Daher gibt es auch keine Erotik sondern nur
Gerammel. Menschlich wird Sexualität erst, wenn das Spiel der erotischen Verführung
und des Verführtwerdens auflebt. Erotik hält Abstand zum Begehren und hat
schon gar nichts mit Gier zu tun. Sie zielt nicht auf die möglichst schnelle
Abreaktion, sondern versucht das Begehren zu halten, zu steigern, im erotischen
Miteinander die eigene wie die sexuelle Seite des anderen auszuloten und
auszukosten. Ein solches Spiel sucht die raffinierte Steigerung, während das
bloße Begehren in der Befriedigung erlischt, damit aber einen toten Punkt
ansteuert. Hier mag der Satz zutreffen: post coitum animal triste (nach dem
Geschlechtsakt ist das Tier traurig). Denn wo das Spiel der Erotik wegfällt,
wird die bloße tierisch-körperliche Befriedigung des Begehrens anvisiert, zu
der jedoch erhebliche Eskapaden und Reizsteigerungen notwendig werden, damit überhaupt
noch wenigstens so etwas wie sexuelles Begehren gespürt werden kann. Hier gibt
es dann auch kein Nachspiel, sondern der Reiz muß gesteigert und immer häufiger
wiederholt werden, damit der innere Tod, die innere Leere, das personale Nichts
nicht die Überhand gewinnt, eine Illusion von Lebendigkeit erhalten wird, die
zudem als erotische Freiheit und Freiheit von kleinbürgerlichen
Moralvorstellungen sich selbst und anderen gegenüber schöngeredet werden muß.
Nach dem Akt läuft man auseinander und sucht den nächsten Kick. Daß hier die
zwischenmenschliche Begegnung vermieden wird, die zuviel Angst auslösen würde,
wird auch darin deutlich, daß kaum je die selben Akteure wieder
zusammentreffen. Der Warencharakter der Sexualität könnte sich kaum deutlicher
zeigen: Die Ware wird konsumiert und läßt den Konsumenten unbefriedigt zurück.
Bonn, Dezember 2004
Dipl.-Psych. B.Kuck