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Martin, Nastassja: An das Wilde glauben. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2021, 137 Seiten


„Es gibt etwas Unsichtbares, das unser Leben auf das Unerwartete zutreibt“ (S. 115) schreibt die Anthropologin Nastassja Martin, und es zieht sie in die Berge und Wälder nach Kamtschatka einer vulkanischen Halbinsel in Nordostasien. Sie bevorzugt das Leben in kalten, beinahe menschenleeren Regionen und lebt hier bei ewenischen Rentierzüchtern. Sie ist 29 Jahre alt, als sie hier über die Hochsteppe streift und vor ihr plötzlich ein Bär auftaucht, der sofort zum Angriff übergeht und ihr das Gesicht zerreißt – „erst krachte der Kiefer dann der Schädel“. Es gelang ihr, mit einem Eispickel auf den Bären einzuschlagen. Dieser lief verletzt davon. Die Autorin wurde von Ewenen und russischen Chirurgen gerettet; weitere chirurgische Eingriffe wurden in Frankreich fortgesetzt. Nach ca. 5 Monaten kehrt sie zu ihrer „ewenischen Familie“ zurück, um mit ihnen über diese „archaische Begegnung“ zu sprechen, eine der wichtigen Etappen ihres langsamen Heilungsprozesses. Für die Ewenen ist sie eine „miedka“, eine vom Bären Gezeichnete und ist fortan halb Mensch halb Bär, eine Art Zwischenwesen.

Nastassja Martin befindet sich „am Kreuzungspunkt der Erfahrungsknoten, die sich durch Beziehungsschemata nicht erfassen, nicht strukturieren lassen. Das ist unsere gegenwärtige Situation, die des Bären und meine eigene“ (S. 100) .

Eine Situation, von der alle Welt spricht, die aber niemand begreift. „… genau deswegen stolpere ich (…) über vereinfachende, triviale Interpretationen (…) weil wir einer semantischen Leere gegenüberstehen, einem Außerhalb des Blickfelds“ (ebd.).

„Das Ereignis ist nicht: irgendwo in den Bergen von Kamtschatka greift ein Bär eine französische Anthropologin an. Das Ereignis ist: Ein Bär und eine Frau begegnen sich und die Grenzen zwischen den Welten implodieren. Nicht nur die physischen Grenzen zwischen einem Menschen und einem Tier, die bei ihrem Zusammenstoß Breschen in ihrem Körper und ihrem Kopf aufreißen. Es ist auch die Zeit des Mythos, der die Realität einholt“ (S. 125).

In dieser tagebuchartigen Erzählung, in dem die Autorin versucht den „archaischen“ Zusammenstoß physisch und mental – also leiblich – in ihr Leben zu integrieren, werden die Leserin, der Leser mit hineingezogen und vertraut mit einem Denken, das sich mit der Wildnis verschwistert. Auch ich ließ mich tief hineinziehen – und das alles auf knapp 140 Seiten. „Ich denke an all die Menschen, die in dunklen, unbekannten Zonen der Alterität vorgedrungen und von dort zurückgekehrt sind, verwandelt und nunmehr fähig, dem, was kommt, aus einer ‚verschobenen Perspektive‘ zu begegnen“ (S. 128). Hier nimmt die Autorin Bezug zu den Bildern in der Höhle von Lascaux.

„Und wie betreibt man Anthropologie?“ fragt Darja, die ewenische Freundin, „ich weiß nicht, wie man es betreibt.“ „Ich weiß, wie ich es mache. (…) ich höre zu. Ich nähere mich, ich bin ergriffen, ich entferne mich oder laufe davon. Ich komme wieder, ich begreife, ich übersetze…“ (S. 134/135). Nastassja Martin verlässt den Wald als „Befreite“ und kehrt auf unbestimmte Zeit nach Frankreich zurück. Sie setzt sich an ihren Tisch mit den Feldnotizbüchern neben sich: „Es ist Zeit. Ich beginne zu schreiben“ (S. 137). Und wir können eintauchen, uns hineinziehen lassen in dieses ganz persönliche Dokument und bereits während des Lesens selbst eine Verwandlung erfahren.

Ingritt Sachse      
Juli 2021

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An das Wilde glauben

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