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Lutz, H.: Vom Weltmarkt in den Privathaushalt. Die neuen Dienstmädchen im Zeitalter der Globalisierung. 2. überarbeitete Auflage. 227 S., Verlag Barbara Budrich (Opladen)



Prof. Dr. Helma Lutz ist Professorin für Frauen- und Geschlechterforschung an der Goethe Universität in Frankfurt/Main. Ihr Buch ist von Interesse weit über die spezifische Thematik der zunehmenden Einstellung von ausländischen »Dienstmädchen« als Haushaltsarbeiter*innen und Pflegekräfte in deutschen Haushalten hinaus. Konkret handelt es von überwiegend weiblichen, meist aufenthaltsrechtlich illegal eingesetzten Migrant*innen aus osteuropäischen, südamerikanischen und asiatischen Ländern. Diese haben weder eine Aufenthaltserlaubnis noch Arbeitsverträge, arbeiten dennoch als (billige) Putzfrauen, Kinderbetreuer*innen und Pfleger*innen alter und kranker Menschen, deren Versorgung nicht von Angehörigen geleistet werden kann. Verantwortlich für »die drei C's: cooking, cleaning, caring«, wird von ihnen neben anstrengender körperlicher Arbeit auch differenzierte Emotions- und Beziehungsarbeit innerhalb komplexer Beziehungsstrukturen gefordert. Betrachtet werden ebenso deren Arbeitgeber*innen, auch meist Frauen, die auf diese Weise eigener Erwerbsarbeit, Karriere oder anderen Lebensentwürfen nachgehen wollen oder müssen.

Das Buch beruht auf eine empirische Untersuchung: 73 qualitative Interviews und teilnehmende Beobachtungen mit 27 Arbeitnehmer*innen (davon nur ein Mann) und 19 Arbeitgeber*innen in Hamburg, Münster und Berlin. Ein wichtiges Fazit: Trotz dreißig Jahren feministischer Aktivität hat sich in der Grunddisposition haushaltsnaher Arbeit wenig geändert. Während Frauen immer mehr in den männlich dominierten, patriarchal strukturierten Arbeitsmarkt drängen, überlassen sie ihre Haushaltsarbeit nicht ihren männlichen Lebenspartnern, sondern ganz überwiegend anderen Frauen. Plus ça change, plus c'est la même chose. Andererseits findet eine grundlegende Neuordnung der Geschlechterverhältnisse statt, die auch eine tiefgreifende Krise der Männlichkeit zur Folge hat. Immer mehr klaffen die symbolischen und die realen Dimensionen von Rollenzuweisungen auseinander.

»Männer können ihren angestammten Platz als Familienernährer nicht mehr wahrnehmen und ein neuer Platz ist so lange nicht in Sicht, so lange die Geschlechtergrammatik, die das Doing Gender bestimmt, sich nicht verflüssigt. [...] [N]icht nur im ökonomischen, sondern auch im sozialen Sinn, muss genau diese Transformation erfolgen. So lange sie ausbleibt, werden Schuld- und Versagensgefühle auf beiden Seiten der Geschlechterdifferenz dominant bleiben« (S. 150).

Der Text ist flott geschrieben und berichtet stets lebensnah aus den Herkunfts- und Arbeitswelten der Untersuchten. Besonders spannend finde ich die grafische Darstellung und Dokumentation epochaler sozialer und ökonomischer Verschiebungen von familiären und gesellschaftlichen Strukturen und vom Geschlechterrollen-Verständnis. Anhand von exemplarischen Lebensläufen mit vielen wörtlichen Interview-Zitaten wird versinnbildlicht, wie sehr das (vor allem in Deutschland West) dominante bürgerliche Familienideal sogenannter »intensiver Bemutterung« als paradigmatisches kulturelles Modell einer geschlechtsspezifischen Ideologie und Praxis verpflichtet ist, das dem Lebenskonzept der gehobenen Mittelschicht entspricht. Zugleich stigmatisiert es Alleinerziehende, Arbeiter- und Migrantenfamilien, da diese aus der Sicht der Mittelschicht von der Norm abweichen. Das Phänomen der Migrant*innen-»Dienstmädchen« - oft sind es erfahrene Mütter oder/und ausgebildete Putz- und Pflegekräfte - dokumentiert, wie sehr die herkömmlichen historisch konstruierten bürgerlichen Familien- und Geschlechterrollen sich in Auflösung und Wandel befinden.

Drei zentrale Fragenkomplexe bilden den Ausgangspunkt der Untersuchung: Kommunikation, Selbst- und Fremdwahrnehmung; Arbeitsidentität; Netzwerkbildung und transnationale Lebensführung. Die Vielseitigkeit der Themenkomplexe geht bereits aus den Kapitelüberschriften hervor: (1) Die neue Umverteilung von Haushaltsarbeit. (2) Privathaushalt als Weltmarkt für weibliche Arbeitskräfte; Grenzziehungsarbeit im Privathaushalt. (3) Methoden und Ergebnisse. (4) Haushaltsarbeit - ein ganz normaler Job? (5) Ausbeutungsverhältnis oder Vertrauensgemeinschaft? Beziehungsarbeit im Haushalt. (6) Transnationale Mutterschaft und transnationale Familienführung; Chancen und Risiken des Systemwechsels; Veränderung des Doing Family durch feminisierte Migration? (7) Illegal Sein; Kampf um Sicherheit und Freiheit. (8) Migrant*innen in der Globalisierungsfalle? Neue Identitäten.

In der dialektischen Gegenüberstellung von Arbeitnehmer*innen und -geber*innen werden manche gesellschaftlichen Tabuthemen aufgeschlagen, beispielsweise das Ordnen der Dinge in verrückten Häusern; Sauberkeit, Ekel, Scham (in fremden Schlaf- und Badezimmern); was Kinder brauchen und Eltern erwarten. Aus zum Teil ganz anderen Kulturen kommend müssen Migrant*innen sich mit der Notwendigkeit neuer Identitätsfindung in der Fremde wie auch in der Unsicherheit und Gefährdung durch Illegalität zurechtfinden - ohne Arbeitsvertrag, ohne Rechtssicherheit, ohne Krankenversicherung, ohne Sozial- und Altersversicherung, ständig in der Angst, polizeilich außer Landes gewiesen zu werden.

Die Studie beschäftigt sich mit der Frage, wie die betroffenen Migrant*innen und ihre Arbeitgeber*innen mit diesen neuen Situationen umgehen und welche gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen damit verbunden sind. Der Bedarf nach haushaltsnahen persönlichen Dienstleistungen steigt von Jahr zu Jahr an, und der Weltmarkt liefert die gewünschten Arbeitskräfte. Dem Bedarf steht jedoch in der Bundesrepublik eine migrationspolitische Abgrenzungspolitik gegenüber, die diese Arbeitsleistung nicht als gesellschaftliches Desiderat betrachtet und in die Illegalität abdrängt. Die »neuen Dienstmädchen« sind ein selten beachteter, aber wichtiger Teil der sogenannten Schattenwirtschaft und durch ihre Rücküberweisungen ein bedeutender Wirtschaftsfaktor für die Entsendeländer. Doch sind sie keineswegs nur ein volkswirtschaftlicher und sozialpolitischer Faktor. Sie stellen vor allem eine ethische, menschliche Frage dar und sind eine Herausforderung an das Bewusstsein und das Gewissen des gesamten Volkes und der Volksvertreter.

Meines Erachtens liegt der besondere Wert des Buches in der Dokumentation grundlegender Verschiebungen im gesellschaftlichen Verständnis und Ausleben (engl. Doing) von Geschlechter-, Arbeits- und Familienrollen unter Berücksichtigung ethnischer Differenzen und Machtverhältnisse. Das Augenmerk bleibt stets auf dem Operativen: Doing Gender, Doing Ethnicity, Doing Family. Durch die Sensibilisierung für Veränderungen in Kernbereichen sozialen Lebens und sozialer Interaktionen bekommt man - auch und gerade als Psychotherapeut - ein anderes Gespür für die oft verwirrenden Hintergründe und Lebensumstände heutiger Patient*innen/Klient*innen: Gestresste, schuldgepeinigte, überforderte und überverantwortliche Mütter, die beruflich ihre Frau stehen wollen, ohne Kinder und Lebenspartner zu vernachlässigen; orientierungslose Väter, denen das patriarchale Rollenverständnis ersatzlos abhanden gekommen ist; junge Menschen, deren Zukunftsaussichten zunehmend prekär erscheinen.

Jenseits des besonderen Aspektes der aufenthaltsrechtlichen Illegalität sind wir gewissermaßen alle im symbolisch übertragenen Sinne »Migrant*innen« zwischen vergangenen und zukünftigen Welten infolge tiefgreifender Verwerfungen fundamentaler sozialer und wirtschaftlicher Grundverhältnisse. Umso lehrreicher ist es, konkret zu beobachten, wie die aktuellen Verschiebungen sich an den sogenannten »neuen Dienstmädchen« auswirken. Nur auf dem ersten Blick sind deren Lebenswelten so weit entfernt von den unsrigen. Das Buch bietet für Sozial-, Bildungs- und Parteipolitiker, aber auch für Psycho- und Sozialtherapeut*innen und für interessierte Laien viel zu überdenken.

Robert C. Ware      
März 2017

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Vom Weltmarkt in den Privathaushalt

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