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Lütz Manfred: Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg? Erfahrungen eines berühmten Psychotherapeuten. Herder 2020, 192 Seiten, 20,- €


Must probieren! Schon der Titel reizt zum Widerspruch – wegen seiner Anbiederung an den jugendlichen Sprech. Vor allem wird er Otto Kernberg nicht gerecht, der eine tiefe Liebe zur Sprache hat – auch zur deutschen, trotz seiner Erfahrungen nach dem Nazianschluss Österreichs.

Im Widerspruch dazu steht die altbackene Begründung, warum zur besseren Lesbarkeit die männliche Form gewählt wird. Dabei beruft sich Herr Lütz auf Jürg Willi, der einen abenteuerlichen Satz formulierte, den mensch tatsächlich so nicht lesen mag. Und das alles zu einem Gespräch mit einem verdienten Mann der Psychotherapie, der sich durch Findigkeit und Originalität auszeichnet.

Soweit sich Herr Lütz auf das Fragenstellen beschränkt, ist es ein großartiges Buch, worin Otto Kernberg sehr Persönliches mitteilt, uns teilhaben lässt an seinem Lebensweg, der nun wirklich nicht als einfach bezeichnet werden kann. 1928 in Wien geboren, 1939 Flucht aus Österreich nach Italien und buchstäblich mit dem letzten Schiff nach Chile. Freimütig teilt Otto Kernberg auch mit, dass er als vier-, fünfjähriger an Anorexie litt und wenn er überhaupt etwas aß, dann nur, wenn sein Vater auf dem Tisch tanzte. Da gibt es witzigerweise eine Ähnlichkeit zu Conrad Lorenz. Der aß nur, wenn er dabei auf dem Rücken eines Brauereipferdes sitzen durfte. Bei Lorenz hatte dies allerdings eher mit Verwöhnung zu tun, und sein Vater machte dem Spuk dann bald ein Ende. Otto Kernbergs Beziehung zu seiner Mutter war eher nicht so innig, die zum Vater intensiver, der mit ihm ausgedehnte Erkundungen durch Wien unternahm und häufig ins Kino ging. Mit Einzug der Nazis, der kleine Otto brüllte auch „Heil Hitler“, war angesteckt von der Masse, nahmen die Repressionen gegen Juden schnell zu. Otto musste die Schule verlassen, sollte auf eine jüdische Schule gehen. Die Eltern schulten ihn nicht um, sondern schickten ihn zur adlerianischen Kindertherapeutin (Helene Bader), bei der er schon wegen seiner Magersucht in Behandlung war. Dort lernte er Englisch, denn der Plan war, ihn mit einem Kindertransport nach England zu schicken. Daraus wurde nichts. Als schließlich Ottos Mutter von einem SA-Mann gezwungen wurde, das Trottoir zu waschen, einige Schaulustige sich daran ergötzten, stand der Beschluss fest, Österreich zu verlassen. Als Otto Kernberg später Wien 1953 wieder erstmals besuchte, stand er auch vor dem Mahnmal gegen den Naziterror, darin ein Teil den „waschenden Juden“ darstellt, was ihn neuerlich zu tiefst erschütterte.

Die Flucht führte ihn also als elfjährigen Knaben nach Chile. Dort wurde er von spielenden Kindern sehr freundlich aufgenommen und zum Spiel eingeladen, was den gegensätzlichen Eindruck, des Guten im Menschen bestärkt haben mag. Dies alles ist sehr interessant zu lesen, zumal Otto Kernberg ein wunderbarer Erzähler ist, auch wenn es um seine psychotherapeutische Arbeit geht, zu der er immer wieder anschauliche Beispiele einstreut.

Im Ganzen kommt der Text fast ohne Fachjargon aus. Das macht das Buch auch für Laien gut lesbar; u. a. erfährt mensch, wann eine Verhaltenstherapie angezeigt ist, wann eine Psychoanalyse. Warum hier an den „gebildeten Metzger“ als Zuhörer gedacht ist? Das mutet eigenartig scharf an Arroganz vorbei rutschend an, ist eine Formulierung von Herrn Lütz. Otto Kernberg wäre da wohl nicht drauf verfallen. Er imponiert als sehr differenzierter, höflicher Mensch, dem solche Dünkel fernliegen.

Im Interview geht es auch um den Trend zur Pathologisierung normaler Lebensschwierigkeiten. Otto Kernberg wird so auch zur Donald Trump befragt, zu dem er sich allerdings diagnostisch nicht äußern möchte, da er ihn ja nicht untersucht hat. Als Bürger jedoch bezeichnet er ihn als »eine unmoralische, kleinkarierte, arrogante Person, einen Mann, der kenntnislos, ungebildet und impulsiv reagiert. Er zeigt eine exzessive Aggressivität im Politischen, außerdem lügt er wie gedruckt, und wenn er geht, hat er dieses verachtend Großartige. Ich halte diesen Mann politisch für gefährlich « (S. 40).

Eigenartig oder doch merkwürdig sind seine Äußerungen zur Multiplen Persönlichkeit (dissoziative Identitätsstörung), zumal er phänomenologisch genau den plötzlichen Wechsel in der Affektlage bei einer sogenannten Borderline Persönlichkeitsstörung beschreibt, die ihm die Augen für diese Störung geöffnet haben. Das Buch enthält auch erstaunlich wenig analytische Reflexion seiner frühen Erfahrungen. Etwa das Trauma des Anblicks der gedemütigten Mutter, den er eigentlich als dissoziativ beschreibt. Ebenso die Tatsache, dass er den ersten Besuch nach dem Krieg in Wien (1953) nur in volltrunkenem Zustand ertragen konnte. Zugleich die äußerst aggressive Phantasie, über Wien eine Neutronenbombe abzuwerfen, die bekanntlich alles Leben vernichtet, die Gebäude aber stehen lässt. Hier gleichsam der Durchbruch der Wut auf die Menschen, die damals ungestraft verräterisch und bösartig sein konnten. Durch diese Phantasie würde er sein geliebtes Wien und seine Streifzüge mit dem geliebten Vater quasi wieder herstellen. Diese – sehr verständliche – Aggression brach sich noch einmal Bahn, als er in Chile durch einen antisemitischen Universitäts“kollegen“ attackiert wurde. Aber Vorsicht: keine Ferndiagnose. Ich finde es gleichwohl sehr spannend, zu verstehen, wie ein herausragender Mensch mit derart ungeheuerlichen Erfahrungen umgeht. Hat ihn wohl das Phänomen der Spaltung derart tief beschäftigt, weil er selbst abspalten musste, um zu überleben, seine Eltern über das Erlebte nie sprachen, selbst nicht in Chile, wo sie in Sicherheit waren. Das lässt sich nicht damit verstehen, dass sie in Nazi-Österreich das Kind schützen wollten. Und ich finde es wichtig, zu beeindruckenden Menschen nicht nur bewundernd aufzublicken, sondern dabei das eigene Denken nicht einzustellen. Das war wohl auch eine Maxime Otto Kernbergs, der sich zu allen möglichen Verkrustungen innerhalb der psychoanalytischen Gesellschaften äußerst kritisch geäußert hat.

Kritisch äußert sich Otto Kernberg zu den häufigen sexuellen Übergriffen durch Psychoanalytiker und schildert einen haarsträubenden Fall, bei dem alle Kollegen Bescheid wussten, dass ein Lehranalytiker mit der Frau eines Ausbildungskandidaten schlief und sie stillschweigend darüber hinweg gingen. Dass heute betroffene Patienten von der Ethikkommission nur darüber aufgeklärt werden, welche rechtlichen Möglichkeiten sie haben – die meisten machen davon keinen Gebrauch -, erscheint unzureichend, zumal ein solcher Übergriff für die Patientinnen (es sind in der Mehrzahl Frauen) kaum allein verarbeitbar sein dürfte. Fragwürdig auch die Einstellung, dass Sex mit „Scheidungsopfern“ weniger bedenklich sei, „keine speziellen moralischen Implikationen“ aufweisen“ würde (S. 61).

Herr Lütz hat sich ja in jüngster Zeit behauptend dazu geäußert, dass es genügend Therapieplätze gäbe, wenn die Therapeuten keine "Wohlfühltherapien" durchführen würden. Otto Kernberg ist eher der Auffassung, dass es »oft an den finanziellen Mitteln [fehlt], alle zu behandeln, die es brauchen« (S. 67).

Geradezu peinlich wird es, wenn Herr Lütz seine missionarische Ader anschwellen lässt und Otto Kernberg davon überzeugen will, dass seine offene Haltung religiösen Fragen gegenüber unbedingt mit Herrn Lütz‘ Gottesvorstellung überfrachtet werden sollte. Otto Kernberg ist ein höflicher Mensch, der in dieser Frage allerdings etwas arg zurückhaltend wirkt. War er früher Atheist, so hält er heute an seinen jüdischen Wurzeln fest. Da seine Eltern eher einen formal korrekten religiösen Alltag lebten, mit ihm auch keine Fragen der Religion diskutierten, vermute ich mal, dass er hierin eine Form der Rückbindung für sich aufrecht erhält. Dabei ist dies nicht die einzige Möglichkeit und zwischendrin erscheint es eher so, dass er die Rückbindung in tiefgehenden zwischenmenschlichen Beziehungen findet. Weniger in einem personalen Gott, mehr noch in künstlerischen Werken, in denen es etwa dem bildnerisch gestaltenden Menschen gelingt, menschlich Fundamentales zur Darstellung zu bringen, worin individuelles Erleben in allgemein Menschliches transzendiert werden kann. Darin finden sich dann Menschen verbunden. Otto Kernbergs erste Frau war der Ansicht, dass Gott sich nicht für die Menschen interessiert. Er hat das Ganze angestoßen und sich dann selbst überlassen. Dass das Wunderwerk der Natur einen intelligenten Schöpfer voraussetze, ist für den aufgeklärten Menschen als Projektion anzusehen. Nur ist es eben unendlich schwer, sich mit dem Zufallsgeschehen der Evolution abzufinden. Der Atomphysiker Hans Peter Dürr („Geist, Kosmos und Physik. Gedanken über die Enheit des Lebens“, 2013) meinte belegen zu können, dass das Universum am ehesten noch mit dem Begriff „Geist“ zu beschreiben sei, aus dem alles andere hervorgeht und in dem alles mit allem zusammenhängt. Materie ist dann sozusagen »sklerotisierter Geist«. Albert Camus nannte es das Absurde, dem der Mensch die Sinngebung entgegensetzen muss, um nicht zu verzweifeln. Manche brauchen dafür einen Gott, den sie anbeten können. Auch für die Frage nach Gut und Böse braucht es keine göttliche Vorstellung. Der Mensch als erster freigelassener der Natur (Herder) hat eben die Möglichkeit in beide Richtungen. Und sein Geöffnetsein für die Angst und den damit verbundenen phantasmatischen Vorstellungen lässt ihn Großartiges hervorbringen, aber auch Abgründiges. Otto Kernberg sieht denn auch die Liebe als grundlegend, damit der Mensch für das Gute eintritt.

Wenn Herr Lütz Adolf Hitler nicht als pathologischen Fall betrachtet, widerspricht ihm Otto Kernberg. Weil er neben dem Bett seiner kranken Mutter schlief und sie pflegte, hat er deshalb tatsächlich einen Rest von Liebe? Wieso sieht Otto Kernberg hier die Spaltung nicht, die dies ermöglicht, wo er doch andererseits von einem Folterer berichtet (aus dem Buch „Die Schule der Gottlosigkeit“ von Aleksandar Tišma), der seine Frau anrief, um sich nach seinem kranken Baby zu erkundigen und anschließend seine „Arbeit“ als Folterer wieder aufnahm. Wer weiß: Hätte Otto Kernberg durch die Arbeit mit der Adlerianerin in Kindertagen eine Affinität zum Adlerschen Gedankengut behalten, vielleicht wären es ihm dann keine böhmischen Dörfer, wenn der Mensch aus existenziellem Minderwertigkeitsgefühl einen Drang zu Macht und Herrschaft entwickelt. Die Kulturleistung bestünde dann darin, keinen Menschen zu demütigen, schon gar nicht durch körperliche oder andere Formen der Gewalt. Allerdings eine Menschheitsaufgabe, bei der uns noch keine Gottesanbetung geholfen hat. Herr Lütz hingegen muss Hitler mit dem Bösen gleichsetzen, ihn so von der Pathologie befreien, sonst könnte er sich ja auf einen Krankheitsstatus berufen und würde der Rache des Gesetzes entkommen sein. Otto Kernberg hält ihn für krank und böse und trotzdem moralisch verantwortlich.

»Das Böse ist aus meiner Sicht beides: Es ist eine Pathologie, die behandelt werden muss, aber es kann sich als unabhängige Kraft sozial entwickeln, und eine allgemeine Epidemie des Bösen hervorrufen, die dann nicht mehr zu behandeln, sondern zu bekämpfen ist« (S. 136).

Wie dies bereits Karl Kraus formuliert hat: In Friedenszeiten diagnostizieren wird sie – in Krisenzeiten regieren sie uns.

Insgesamt ein wunderbares Buch, jedenfalls da, wo derie Leser*innen etwas aus Leben und Wirken Otto Kernbergs erfahren. Nebenbei noch ein leibanalytisches Aperçus: Auf dem Umschlag sind beide Gesprächspartner in wechselnden Rollen von Analysand auf der Couch und Analytiker dahinter abgebildet. Otto Kernberg liegt dort eher tiefenentspannt mit geöffneter Fußstellung und verschränkten Fingern auf dem Bauch. Herr Lütz hingegen muss nicht nur die Beine kreuzen, sondern auch den Kopf angestrengt hoch halten und mit einer Hand gestikulieren. Da Leibausdruck vieldeutig ist, möge sich derie geneigte Leser*in selbst etwas dazu denken.

Lütz_Kernberg

Lütz_Kernberg

- Ah, noch eines ist zu erwähnen: Otto Kernberg begreift sich ja weiterhin als dem Judentum zugehörig und seine verstorbene Frau war ebenfalls jüdischen Glaubens. Das hindert Herrn Lütz aber nicht, vor ihr Todesdatum ein christliches Symbol zu setzen.

Bernd Kuck      
Mai 2015

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