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Leikert, Sebastian: Das sinnliche Selbst. Das Körpergedächtnis in der psychoanalytischen Behandlungstechnik. Brandes & Apsel 2019*


„Die“ Psychoanalyse öffnet sich mehr und mehr der Einbeziehung des Leibes in die psychotherapeutische Behandlung. Leikert legt ein anregendes Buch vor, bleibt letztlich den alten Essentials treu, was viele Psychoanalytiker:innen erleichtern mag, denn das Setting muss nun nicht mehr geändert werden und dennoch kommt der Leib mit seinen Empfindungen etwas mehr zu seinem Recht. Zwar hätte „das psychoanalytische Denken und Handeln“ bislang vorwiegend auf die sprachlichen Prozesse fokussiert, die präverbalen – oder wie Leikert lieber sagt: „kinästhetischen Momente“ - anerkannt, sie jedoch nicht systematisch erforscht (S. 14). Seine Neuerung beziehe sich auf den vor der Sprache liegenden Bereich (präverbal) und er findet, dass die Fixierung der Psychoanalyse auf das Sprachliche auch in dieser Wortwahl zum Ausdruck komme. Die Ordnung des Leiblichen jedoch ergibt sich nicht aus der Sprache mit ihrer klaren Struktur von Subjekt, Objekt und Prädikat, sondern es ist die Wahrnehmung und deren Organisationsprinzipien, worin die Ordnung zu suchen sei. Und Leikert ist der Auffassung, dass sich im „Körpergefühl“, erwachsen aus der Innenwahrnehmung (vermittelt durch die Propriozeption), mehr zeigt als die „Schatten von Bedeutsamkeit“:

„Das Körpergefühl lässt sich lesen entlang der Semantik der Muskelgruppen. Die geballte Faust der Wut, die Angst im Nacken, der Ekel in der Magengrube zeigen die Grundsprache des Affektiven, das Rohmaterial szenischer Engramme“ (S. 16).

Dem Primat der Sprache bleibt er gleichsam treu, wenn er von einer Schichtung des Selbst ausgeht, die er immer noch nicht vom Kopf auf die Beine stellt: „Sprache, Vorstellungsleben, Körperlichkeit“. Die Genese verläuft gerade andersherum: „Leiblichkeit, Vorstellungsleben, Sprache“. Darin verbirgt sich eine weitere Ausblendung, da in seiner Trias die Bewegung als explizit leiblicher Ausdruck vor jeder Vorstellung fehlt. Zwar nutzt er den Begriff des „Kinästhetischen“ und weist auf die Zusammensetzung des Begriffs aus Kinetik und Ästhetik hin. Die Kinetik reduziert er dabei auf ein „Körperselbst“, das anscheinend auf Mimik, Gestik und Körperhaltung beschränkt ist, die Ästhetik auf die Außensinne. Körperhaltung ist bereits ‚gefrorene Erfahrung‘; ein Blick auf Säugling und Kleinkind offenbart, dass der Leib als ganzer, besonders aber in fulminater Bewegung sich mitteilt. Daher sind viele Wahrnehmungen erst zugänglich, wenn derie Patient:in sich bewegt, wenn den Bewegungsimpulsen Raum gegeben und ihnen nachgespürt wird. Derie genuin psychoanalytisch behandelte Patient:in bleibt allerdings an die Couch gebunden, wenngleich das Couchsetting durchaus den Vorteil hat, dass hier die Muskelgruppen tendenziell eher entspannen können, als wenn derie Patient:in aufrecht sitzt. Immerhin möchte Leikert dem „autonomen“ Körpergedächtnis mehr Bedeutung zukommen lassen. Ob es allerdings wirklich „autonom“ ist, wäre noch zu diskutieren; und ob da etwas „repräsentiert“ ist, ließe sich ebenfalls in Frage stellen (Fuchs 2008).

Auf jeden Fall möchte unser Autor - „stärker als in der klassischen Behandlungstechnik üblich“ - in der Behandlung die Körperempfindungen von Analysand:in und Analytiker:in der Aufmerksamkeit und Reflexion zugänglich machen (S. 22). Vorrangig sind ihm dabei zwei Weisen leiblicher Existenz:

„Zum einen die Missempfindungen, die als Resultat der Hemmung oder Dissoziation die einzig verbliebene Repräsentation der abgewehrten Erfahrung ist; zum anderen die kreativen emanzipatorischen Impulse, die noch nicht in konkrete Vorstellungen übersetzt sind“ (S. 22).

Womit bereits wieder die Bewegung übergangen ist. Viele Impulse sind Bewegungsimpulse, deren Bedeutung sich überhaupt erst erschließt, wenn sie eben nicht gehemmt und gleich in Vorstellung und Denken überführt werden, sondern in Bewegung erkundet und erprobt, erst dann reflektiert und so in anderen Symbolisierungsebenen verankert, Neusprech: mentalisiert, werden. Hier kann in einer Pendelbewegung zunächst im phantasmatischen Raum eine Vorstellung gebildet werden, wie das wohl wäre, dem Bewegungsimpuls zu folgen. Oft genug erschließt sich die ganze Bandbreite der Leibengrame und ihrer Bedeutung erst im Umsetzen der Bewegung. Gerade auch, weil „die vitale Quelle des Leiblich-Triebhafen […] dem verbalen Ich fremd“ ist, selbst dann, „wenn sie nicht unbewusst im Sinne verdrängter Inhalte ist“ (S. 31), dürfen wir gerade die Bewegungsimpulse nicht ausschließen, zumal Sprache bereits die abstrakteste Ebene der Symbolisierung darstellt. „Abstraktion aber eliminiert den Reichtum der sinnlichen Erfahrung. Sprache verdunkelt die Fülle der sinnlichen Welterfahrung“ (S. 32), an deren Anfang aber eben die Umsetzung freudiger und leidender unklarer, weil noch nicht symbolisierungsfähigen Bewegung des Leibes stehen. Es ist wohl der psychoanalytische Bias, der die Motorik ausklammert. Und das, obwohl sich Leikert auf das System von Bucci bezieht, die zu den subsymbolischen Informationen des „Emotionsschemas“ die Kodierung in motorischer Form hinzu rechnet (S. 61). Die Hemmung des leiblichen Impulses findet bei Leikert insofern trotzdem statt, weil er die Erlebnisebene der leiblichen Bewegung überspringt und direkt in die Vorstellung, Szene oder Sprache geht (S. 93). Wobei selbst die Szene sich in der Vorstellung ereignet, indes sie ihre Deutlichkeit, Erfahrbarkeit und Bedeutung oft genug erst in der Inszenierung und der nicht nur empathischen, geistigen „Mit-Bewegung“ (Heisterkamp) offenbart. Dazu ist es jedoch notwendig, die Couch zu verlassen.

Leikert setzt sich nicht nur mit dem Begriff der projektiven Identifizierung als Resonanzmöglichkeit in derie Analytiker:in produktiv auseinander, sondern auch mit der historisch bedingten Verengung psychoanalytischer Erkenntnisgewinnung und appelliert an die Profession, „die Perspektivenvielfalt anzuerkennen“ (S. 143), verfällt aber selbst – dem Bias folgend – der Ausgrenzung und Verleugnung, indem er „körperorientierte“ Verfahren – an denen es einiges zu kritisieren gibt - abwertet. Nicht nur das: Selbst die analytischen Autoren, die sich schon lange mit der leiblichen Dimension im analytischen Prozess beschäftigen, erwähnt er nur am Rande. Dazu gehören Geißler und Heisterkamp, die er zwar erwähnt, jedoch längst nicht mit ihren zentralen Arbeiten. Und Tilmann Moser, das Enfant terrible der Psychoanalyse, kommt nicht einmal im Literaturverzeichnis vor. Wie es dann gehen soll, dass der Psychoanalytiker bereit sein muss, „sich aus dem Schutzraum der analytischen Reflexion in die heiße Aktualität in der Bewegung vorzuwagen“ (S. 162, Hervorhebung BK), indem mensch hinter der Couch sitzen bleibt, gehört zu den Geheimnissen der zaghaften Bewegung der „modernen“ Psychoanalyse. Und dies, obwohl Leikert zuzustimmen ist, „dass ein Prozess der tiefgehenden Umgestaltung der Persönlichkeit nur dann in Gang kommen kann, wenn das leibliche Kernselbst zentral am Prozess beteiligt ist“ (S. 171). Bevor es überhaupt zur „Wiedervergeistigung des Körpers“ (Ogden) kommen kann, muss der Leib erst einmal in seiner ganzen basalen, sich bewegenden Leiblichkeit da sein dürfen. Aber die Angst vor Ausgrenzung aus der analytischen Gemeinde ist offenbar immer noch groß. Deshalb muss Leikert auch betonen, dass „die Psychoanalyse in keiner Weise in Frage gestellt [wird], im Gegenteil, sie wird, aus genuin psychoanalytischen Prinzipien heraus erweitert“ (S. 201). Das nun ist bestimmt nicht die Erfindung Leikerts! Die alte Angst vor der Sexualisierung scheint denn auch sofort auf, wenn er fürchtet, dass Berührung „leichter zur Versuchung eines faktischen sexuellen Übergriffs führen [kann]. In jedem Fall aber begünstigt die Berührung aktuelle oder nachträgliche Fehlinterpretationen, die für den Analytiker schwerer auszuräumen sind, als dies der Fall ist, wenn die Arbeit in der Couch-Situation verbleibt“ (S. 202). Das kann passieren, kommt aber auch im klassischen Setting vor und wir haben gelernt, damit umzugehen (Reinert 2004). Und vergessen wir nicht: Das Couch-Setting schützt nicht vor sexuellen Übergriffen, besonders wenn derie Analytiker:in nicht über eine innere Haltung der Abstinenz verfügt, statt über eine äußere (Worm 2007; 2008). Gerade auch Analytiker:innen, die über keine Selbsterfahrung in der konkreten leiblichen Interaktion verfügen, sind dann auch diejenigen, die mit dem, was sie auslösen, völlig überfordert sind – wobei da ja Supervision hilfreich ist, wenn Mann sie nicht ausschlägt (Akoluth 2004; von Drigalski 2003; Kaiser 1996). Es wäre ehrlicher zu sagen: Für mich kommt Berührung in der Behandlung nicht in Frage. Das ist mir zu nahe, es behagt mir nicht, ist mir zu komplex, zu anstrengend, zu unwägbar für mich, da habe ich keine Erfahrung. Das muss ja kein Schaden sein. Auch Leikert zeigt in den Fallvignetten, dass er sehr hilfreich sein kann, auch ohne Berührung. Vergessen wir nicht: Es gibt keinen Königsweg zum Unbewussten und es gibt auch keine allgemein gültige Behandlungstechnik. Gerade der psychotherapeutische Prozess hängt in hohem Maße an der Persönlichkeit derie Analytiker:in. Und schaut mensch auf die heutige Entwicklung, dann wird mensch die Psychoanalyse in ihrer Auslotung der Tiefe menschlichen Seins noch mal sehr vermissen, falls sie denn weiter marginalisiert wird. Bei aller Kritik legt Leikert hier einen Text vor, der von der Breite des Nachspürens und -denkens zeugt, wie sie der Psychoanalyse eigen ist. Seine Verbindungen zur Musiktheorie, zur musikalischen Resonanz im Spüren und Fühlen, sind wunderbar zu lesen, auch sprachlich. Da ist es denn umso bedauerlicher, dass immer häufiger das Korrekturlesen der Maschine überlassen wird, die Endungen durchwinkt, die nur richtig sind, wenn sie ohne Sinnverständnis abgetastet werden. Auch dies ein Symbol des Verlustes der Differenziertheit in der Jetztzeit. Abgesehen davon, führt der vorliegende Text zu intellektueller Leselust.

Literaturhinweise:

Akuluth, Margarete (2004): Unordnung und spätes Leid. Bericht über den Versuch, eine misslungene Analyse zu bewältigen. Königshausen & Neumann 2004.

Fuchs, Thomas (2008): Das Gehirn ist ein Beziehungsorgan, Kohlhammer.

Geißler, Peter/Heisterkamp, Günter (2007): psychoanalyse der lebensbewegungen. zum körperlichen geschehen in der psychoanalytischen therapie, ein lehrbuch, Springer

Geißler, Peter (Hrsg.) (2008): Der Körper in Interaktion. Handeln als Erkenntnisquelle in der psychoanalytischen Therapie, Psychosozial-Verlag.

Kaiser, Helmut (1996): Grenzverletzung. Macht und Machtmissbrauch in meiner psychoanalytischen Ausbildung, Walter Verlag.

Moser, Tilmann: Der Psychoanalytiker als sprechende Attrappe. Eine Streit­schrift. Suhrkamp Verlag.

Moser, Tilmann(2018): Verbal – Präverbal – Averbal. Psychotherapie an der Sprachgrenze, Brandes & Apsel.

Reinert, Thomas (2004): Therapie an der Grenze.: Die Borderline-Persönlichkeit, Modifiziert-analytische Langzeitbehandlungen, Pfeiffer Verlag, Klett Cotta.

Worm, Gisela (2007): Der Körper lügt nicht, in: Geißler/Heisterkamp 2007, S. 259 – 289.

Worm, Gisela (2008): Möglichkeiten und Schwierigkeiten im Umgang mit dem Körper in der psychoanalytischen Praxis. In: Geißler 2008, S. 223 – 241.

*Zuerst erschienen in: Zeitschrift für Individualpsychologie, 45. Jahrgang 2020 (1).

Bernd Kuck      
Dezember 2020

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