Hrdy, Sarah Blaffer: Mutter Natur. Die weibliche Seite
der Evolution. Berlin Verlag, Berlin 2000. 773 S., mit zahlreichen Abbildungen
und Index.
"Die Mutterliebe stellt keine Bedingungen, sie ist allbeschützend
und allumfassend. Da sie keine Bedingungen stellt, entzieht sie sich jeder
Kontrolle, und man kann sie sich nicht erwerben (...) weil sie alle Kinder
der Mutter Erde sind."
Dieser Satz aus Erich Fromms bekanntem Buch Die
Kunst des Liebens durchzieht wie ein roter Faden das monumentale Werk
Mutter Natur der amerikanischen Anthropologin Sarah Blaffer Hrdy.
Immer wieder kommt sie in ihren weit ausholenden Forschungen zur Mütterlichkeit
auf Fromms Bemerkung zurück, freilich um in aller Deutlichkeit darzulegen,
dass sie mehr Wunschvorstellung denn Tatsachenbehauptung war.
Wie Fromm nahmen mehrere Männergenerationen an, dass es
für Mütter nichts Natürlicheres gebe, als sich aufopferungsvoll
um den Nachwuchs zu kümmern, während der Mann in der Wildnis
Tiere jagt oder im Großstadtdschungel die Brötchen verdient.
Spätestens als vor 20 Jahren die französische Soziologin Elisabeth
Badinter die Annahme eines unbedingten Mutterinstinkts als Phantasiegebilde
bezeichnete und postulierte, Mutterliebe sei ein soziales Konstrukt, in
das Mütter oftmals entgegen ihren eigenen Interessen hinein gedrängt
werden, kam die These von der allliebenden Mutter ins Rutschen. Und tatsächlich
sprechen Kindstötungen und Vernachlässigung von Säuglingen
gegen die Hypothese eines von vorn herein festgelegten natürlichen
Mütterverhaltens.
Wie so oft in der Geschichte der Wissenschaft erwuchs auch
hier Fortschritt durch objektive Beobachtung, die an die Stelle von Wunschdenken
rückte. Das Erforschen von Kindstötungen bei Primaten war lediglich
der erste Schritt für Hrdy, die "weibliche Natur" und vor allem Mutterschaft
zu begreifen. Eine geradezu explosionsartige Zunahme von Freilanduntersuchungen
durch Wissenschaftler aus immer mehr Fachrichtungen enthüllte ein
nie geahntes Ausmaß an Variabilität in der Naturgeschichte von
Müttern. Hrdy selbst forschte und beobachtete 30 Jahren lang in sieben
Ländern.
Kindstötung
Kindstötung ist kein angenehmes Thema. Es gab und gibt
Fälle von Müttern, die nicht instinktiv für ihre
Kinder sorgten. Das ist ein erstes Argument gegen die Annahme, Mütter
seien für die Kinderaufzucht genetisch programmiert. Die Evolution,
betont Hrdy, brachte Mütter nicht hervor, damit sie die Art erhalten.
Das Produkt der Evolution waren Mütter, die ihren Aufwand in möglichst
viele überlebende und sich ihrerseits fortpflanzenden Nachkommen stecken.
"Die Selektion fördert demnach nicht etwa Verhaltensweisen, die dem
Wohl der Gruppe dienen, sondern solche, die dem Individuum zu einem überdurchschnittlichen
Fortpflanzungserfolg verhelfen - selbst wenn dies auf Kosten anderer in
der Gruppe geht." (S.49/50)
Kindstötungen im Tierreich (bei Languren bspw.) sind ein anschauliches
Beispiel für ein Verhaltensmuster, das in der Evolution eindeutig
nicht entstanden ist, um der Arterhaltung zu dienen. Dem Wohl der Gruppe
sind Kindstötungen zweifellos nicht dienlich. Ob Kindstötungen,
die kürzlich wieder von Bosniern berichtet wurden, auf ein genetisches
Erbe gründen, ist umstritten. Schimpansen, Gorillas und Languren kennen
sie, nicht aber die Bonobos, doch beide haben 98 Prozent des Erbgutes mit
Menschen gemeinsam. Der Unterschied liegt im sozialen: Bonobos-Weibchen
gehen enge Allianzen ein - eine Abschreckung für kindertötende
Männchen.
Kindstötungen bei Primaten wie bei Menschen sind weit
verbreitet. Laut Hrdy haben wir es mit einer Art Geburtenkontrolle zu tun.
"Mütter töten ihre eigenen Säuglinge, wenn keine anderen
Formen der Geburtenkontrolle zur Verfügung stehen und wenn Mütter
einerseits zu keiner festen Bindung bereit waren, andererseits aber keine
Möglichkeit hatten, die Betreuung es ungewollten Kindes an andere
zu delegieren - an Verwandte, Fremde oder soziale Einrichtungen." (Hrdy,
S.342)
Kindstötung ist also eine verzweifelte Notlösung für
eine ungewollte Geburt, aber sie ist eine Lösung mit einem rationalen
Kern, jedenfalls aus Sicht von Mutter Natur und Vater Evolution. Neugeborenentötung
ist damit eher ein adaptives als ein pathologisches Verhalten (Hrdy, S.339).
Findelkinder
Das zweite unangenehme Thema ist die Vernachlässigung und das Aussetzen
von Babys, oft verbunden mit einer Präferenz für ein bestimmtes
Geschlecht. Der Historiker John Boswell (New York 1988) befasste sich ausführlich
mit dem Aussetzen von Kindern in Europa. Es handelte sich um eine weit
verbreitete Praxis schon unter frühen Christen. Während der ganzen
Zeit wurden Kinder in großer Zahl weggegeben oder ausgesetzt. Die
Mehrheit der Frauen, die während der drei nachchristlichen Jahrhunderte
in Rom lebten und mehr als ein Kind großzogen, haben mindestens eines
ausgesetzt. Das summierte sich auf 20 bis 40 Prozent der geborenen Kinder.
Boswell ist überzeugt, dass die Sterblichkeit unter den ausgesetzten
Kindern nicht höher war als unter den normalen Kindern.
Hrdy ist anderer Meinung. Die Ausgesetzten wurden zwar großgezogen,
aber meist als Sklaven oder Prostituierte verkauft. Ab dem 15. Jahrhundert
verbessert sich die Datenlage und belegt eine enorme Sterblichkeit unter
den weggegebenen Kindern. Von 15 000 Babys, die in den 18 Jahren von 1755
bis 1773 im größten Findelhaus der Toskana abgeliefert wurden,
starben zwei Drittel vor ihrem ersten Geburtstag. Auch in anderen Ländern
wurden Findelkindhäuser errichtet, in denen Tausende von Babys anonym
abgegeben wurden, allein 15 000 in vier Jahren in einem Londoner Haus.
Die Sterblichkeit war so hoch, weil es nicht genügend Ammen gab, die
die Kinder säugen konnten. Die Findelhäuser wurden Zentren für
Pocken, Syphilis und vor allem Ruhr. Die Kinder starben an Hunger oder
an Durchfall.
"Mir wurde langsam klar, dass es sich hier um etwas handelte,
das nicht nur Zehntausende betraf, wie ich lange angenommen hatte, sondern
Millionen von Babys. Ich war wie betäubt." (Hrdy, S.350)
Das Ammenwesen bedeutete, dass junge Mütter kaum oder
nicht stillten und sehr rasch nach der Geburt erneut empfängnisbereit
waren. Die Väter besonders der Oberschicht kamen in den Genuß
eines in der Menschheitsgeschichte nie dagewesenen Fortpflanzungserfolgs,
für die Ehefrauen war es eher eine Tortur. Emma Darwin brachte zehn
Kinder zur Welt, berufstätige Frauen brachten üblicherweise 12
bis 16 Kinder zur Welt. In der Unterschicht ging die hohe Geburtenrate
mit einer hohen Säuglingssterblichkeit einher. In den Findelhäusern
rund um Paris erreichte die Sterblichkeitsrate 85 Prozent. "Wenn Mutterliebe
etwas Instinktives ist, dann sollten alle normalen Mütter liebevoll
sein. Wenn aber die große Mehrheit der Mütter im Frankreich
des 18. Jahrhunderts sich dafür entschied, die eigenen Säuglinge
nicht großzuziehen, sondern ihre Betreuung an ungeeignete Ammen zu
delegieren, so waren dies zu viele Mütter, um das ganze noch als Abweichung
von der Regel abzutun." (Hrdy, S.356/357)
Selektive Liebe
Zwischen dem Stereotyp der instinktiv und bedingungslos liebenden
Mutter, wie sie sich Erich Fromm und viele andere Männer vorstellten,
und den Müttern im wirklichen Leben lagen Welten. Die bedingungslose
Hingabe ist für Affen- und Menschenaffenmütter charakteristisch,
während die Fürsorge der menschlichen Mutter eher selektiv ist.
"In Bezug auf Kindstötung und Vernachlässigung durch die Mutter
ähneln Menschen nicht so sehr anderen Primaten, sondern eher den Vögeln
und den Säugetieren, die mehrere Jungen zugleich haben." (Hrdy, S.513).
Was mag der Grund dafür sein, dass Mütter zu Mörderinnen
werden oder den Mord Neugeborener zulassen oder ihre Kinder selektiv lieben?
Mütter gehen Kompromisse ein, die ihren eigenen Lebenserhalt, die
Bedürfnisse verschiedener Kinder und ihre eigenen künftigen Fortpflanzungspläne
in Einklang bringen. Bei der Fortpflanzung entscheiden ökologische
Begrenzungen über Qualität und Quantität der Nachkommen.
Frauen wägen (unbewußt) ab zwischen der Anzahl der Nachkommen
und der Chance, sie auf hohem Niveau durchzubringen. Menschen in besseren
sozialen Verhältnissen weisen tendenziell eine niedrigere Geburtenrate
auf. Sie müssen nicht "auf Vorrat" Kinder produzieren in der Hoffnung,
eines werde schon am Leben bleiben, wenn die Chancen steigen, dass eines
der wenigen sicher durchkommt und selbst ein gebärfähiges Alter
erreicht. Dieses Verhalten mag im Widerspruch stehen zu konventionellen
Erwartungen, reiche Eltern können unbesorgt mehr Kinder in die Welt
setzen und durchbringen, es steht aber nicht im Widerspruch zu evolutionären
Vorstellungen.
Allomütter
Eine der Hauptverbündeten der Mütter und ein Hauptelement
im Abwägungsprozess sind die sogenannten "Allomütter", das sind
all jene Personen außer Mutter und Vater, die Hilfe leisten, um Nachkommen
aufzuziehen. Unter anderem mit der Rolle der Allomütter bei Primaten
beschäftigt sich Hrdy, die 1946 in die texanische Oberschicht hinein
geboren wurde. In jener Schicht, schreibt sie, war es schon seit Generationen
nicht mehr üblich, dass Babys von ihren Müttern versorgt wurden;
ihre Mutter übertrug die Erziehung an andere, an Kindermädchen.
Der britische Arzt und Psychoanalytiker John Bowlby zeigte,
dass Babys genetisch programmiert sind, eine zuverlässige Bindung
an eine feste Bezugsperson zu suchen und zu halten.
>
"Die sichere Beziehung
zu einer oder mehreren vertrauten Personen spielt eine wesentliche Rolle
bei der seelischen Entwicklung der Menschen, wie es auch bei allen anderen
Primaten der Fall ist." (Hrdy, S.13) (Hrdys Eltern wußten noch nicht,
dass Babys eine feste Bindung brauchen.)
Bowlby betrachtete eine Mutter mit ihrem Baby als eine harmonische
Einheit und kannte noch nicht das Konfliktpotenzial zwischen mütterlichen
und kindlichen Interessen (Fromm auch nicht); sie haben gemeinsame und
zugleich widersprüchliche Interessen. Ein grundlegender Konflikt ist
die Entwöhnung, die Uneinigkeit in der Frage, wie intensiv und wie
lange eine Mutter ihrem Nachwuchs die Brust gibt. Bowlby revolutionierte
aber die Ansichten über die Mutter-Kind-Beziehung. Die fundamentalen
Überlebensinstruktionen für einen Säugling lauten nicht
nur "Binde dich an Mutter", sondern auch "Gefalle ihr". Wenn eine Bindung
nicht zustande kommt oder Bindungen eine nach der anderen zu Bruch gehen,
wenn ein bestimmtes Maß an Zuwendung unterschritten wird, ist das
Ergebnis oftmals, aber nicht immer, verheerend. Die neue Post-Bowlby-Denkweise
aber läßt viele Mütter verblüfft fragen, wie man nur
so naiv sein konnte, die Mutter-Kind-Zweiheit im idealisierten Licht einer
harmonischen Einheit zu betrachten.
Mütter mussten immer schon das beste aus dem Vorhandenen
machen und mit dem wechselnden Ausmaß an verfügbarer väterlicher
oder alloelterlicher Hilfe zurechtkommen. Heute können sich viel mehr
Mütter erlauben, jedes Baby zu lieben, dass sie auf die Welt bringen.
Das ist besonders dann der Fall, wenn sie den Zeitpunkt der Geburt selbst
festlegen und wenn sie alloelterliche Unterstützung erwarten können,
um zumindest einen Teil ihrer eigenen ehrgeizigen Pläne zu verfolgen.
Das bedeutet, dass Mütter nicht die reinen Engel sind, die ihre Babys
vorbehaltlos lieben. Mütterliche Gefühle haben Nuancen, je nachdem,
welche Kompromisse sie schließen müssen.
"Im Laufe der Zeit
habe ich gelernt, wie flexibel elterliche Gefühle beim Menschen sein
können. Was es auch immer mit Mutterinstinkten auf sich hatte, so
automatisch, wie die meisten Leute glauben, sind sie jedenfalls nicht."
(Hrdy, S.16)
Was heißt "instinktiv"?
Aber was heißt "instinktiv"? Jedenfalls gibt es kein
"Mütterlichkeits-Gen", doch wenn man ein bestimmtes Gen in Mäusen
ausschaltet (fosB-Gen), haben diese nach der Geburt kein Interesse, sich
um den Nachwuchs zu kümmern, der dann eingeht. Damit aber aus einem
Gen und dem von ihm codierten Protein ein komplexer Handlungsablauf wird,
bedarf es einer dialektischen Wechselwirkung zwischen Gen und Umwelt. Befruchtung,
Schwangerschaft, veränderte Hormonlage, Geburt, Anwesenheit von Jungen,
das gegenseitige Erkennen und Akzeptieren in einem oft schmalen Zeitfenster
durch Geruch oder Aussehen (Prägung) sind notwendige Schritte und
Vorbedingungen, um eine genetisch vorgesehene Fürsorglichkeit hervorzurufen.
Aussehen, Duft und Fell von Primatenjungen wirken unwiderstehlich auf Weibchen,
sobald sie empfängnisbereit sind. Davor und danach ignorieren sie
Kleinkinder oder greifen sie an. Die bedingungslose Einsatzbereitschaft
bei Affenmüttern setzt ein, wenn die Babys es schaffen, sich mit allen
Vieren an sie zu klammern. Das fosB-Gen ist also nicht verantwortlich für
Fürsorglichkeit, sein Fehlen bedeutet aber, dass in der Abfolge der
Wechselwirkungen ein wesentlicher Schritt ausbleibt.
Männchen kümmern sich bei kaum einer Säugetierart
im gleichen Maße um den Nachwuchs, wie es die Weibchen tun. Warum?
Immerhin tragen sie genetisch gleich viel zum Nachwuchs bei. Väter
kümmern sich am ehesten dann um ihren Nachwuchs, wenn sie sicher sein
können, dass er von ihnen stammt, wenn das Kind ihnen vertraut ist,
wenn ein Baby in unmittelbarer Nähe in Lebensgefahr ist und wenn er
eine tragfähige Beziehung zur Mutter hat. Umgekehrt heißt das,
Väter verschwinden, wenn sie ihrer Vaterschaft nicht sicher sind.
Das setzt eine sexuelle Beziehung zur Mutter voraus und eine Abschätzung,
ob sie zeitlich als Mutter des selbst gezeugten Kindes in Frage kommen. Nur bei einer Handvoll
Primaten kann sich das Männchen wirklich sicher sein, dass er der
Vater ist, alle anderen leben mehr oder weniger promiskuitiv mit sexuell
aktiven Weibchen. Für jedes Kind, das ein Schimpansenweibchen zur
Welt bringt, paart es sich im Durchschnitt 138 mal mit 13 verschiedenen
Männchen.
Angesichts der realen Lebensgeschichten läßt sich
nur schwer die Illusion aufrecht erhalten, die lebenslange monogame Familie
sei naturgegeben. Monogamie ist laut Blaffer Hrdy ein Kompromiss mit Vorteilen
vor allem für die Kinder. Indem die Männer ziemlich sicher sein
können, dass die Kinder von ihnen sind, helfen sie ein bisschen mit,
damit steigt die Überlebensrate des Nachwuchses und die Lebenserwartung
der Partner ist höher. Die Frage, ob eine Frau mono- oder polygam
ist oder wird, hängt von den Alternativen ab, die sie hat. Mätresse
eines reichen Mannes zu sein ist möglicherweise die Alternative dazu,
monogame Ehefrau eines ärmlichen Niemand zu werden und mit Kindern
am Hals eine unsichere Existenz zu führen.
Beim Menschen können bestehende Unterschiede in der Betreuungsintensität
durch bewußtes Bemühen minimiert werden, ebenso wie bestehende
Unterschiede verstärkt werden. Dass Mütter eine intensivere Bindung
eingehen liegt, wie Hrdy meint, an zweierlei: der angeborenen schnelleren
Reaktionsweise der Mütter auf das Kind (Hrdy, S.253) und der Laktation,
der Milchproduktion nach der Geburt. Mütter reagieren und handeln
schneller, wenn das Baby sich rührt, der Vater kommt seltener zum
Zuge, und so entwickelt das Baby eine primäre Bindung an die Mutter
(254), was vorher schon durch die Laktation angebahnt wurde und später
gefestigt wird. Die lange Verfügbarkeit von Muttermilch bis zu vier
Jahre nach der Geburt und das Saugen ist ein ziemlich verläßlicher
Garant jener langen Nähe, die zur Herstellung einer festen und verläßlichen
Bindung nötig ist. Die Laktation erfordert es, dass ein Weibchen in
der Nähe der Jungen bleibt. Die Laktation enthüllt sich Hrdy
als Schlüsselelement für die Evolution von Tieren, die sowohl
sozial als auch intelligent sind.
Das sich hingezogen Fühlen zu einem Baby ist in der westlichen
Welt so weit verbreitet, dass angenommen wurde, es handele sich um ein
Instinkt. Tatsächlich ist das Verhältnis der Mütter zu ihren
Säuglingen komplizierter, wie allein schon Kindstötungen und
Vernachlässigungen zeigen. "Instinktiv" bzw. "biologisch" sind die
hormonellen Umstellungen während der Schwangerschaft, die Veränderungen
während und nach der Geburt, die Reaktionsschleifen der Laktation
und des Säugens sowie die kognitive Fähigkeit des Kindes, rasch
eine enge Beziehung zu einer Person (meist der Mutter, wegen des Stillens)
aufzubauen und einen Kreis von Menschen als Verwandte zu erkennen. "Aber
fast keine dieser biologischen Reaktionen erfolgt automatisch." (S.435)
Die Biologie wird verkompliziert durch kulturelle Erwartungen, Geschlechterrollen,
Ehr- und Schamgefühle, Präferenzen bezüglich des Geschlechts
des Kindes sowie der Vorstellung der Mutter von der Zukunft. Die wahrscheinlichen
Kosten und der potenzielle Nutzen einschließlich der zu erwartenden
allomütterlichen Unterstützung in einem familiären Netzwerk
sind Faktoren, die in die Frage einfließen, wieviel die Mutter "investieren"
wird. Für die Zuwendung der Mutter zum Baby bedeutet es dabei ein
Unterschied wie Tag und Nacht, ob der Vater in der Nähe war oder die
Familie verlassen hatte, ob die Mutter auf sich selbst angewiesen war oder
sich an ihre Familienangehörigen wenden konnte, ob es jemand gab,
der als Babysitter zur Verfügung stand, oder nicht.
Mütterliche Schuldgefühle
Es darf also nicht verwundern, wenn sich Gefühle der inneren
Zerrissenheit, des Ungenügens und der Schuld einstellen. Auf Frauen,
die ehrgeizig sind oder einfach nur arbeiten müssen, lasten Selbstzweifel.
Wer gab meinem Kind Geborgenheit, wenn ich außer Haus war? Habe ich
meinem Kind die Liebe gegeben, die es braucht? Wie werden die langfristigen
psychologischen Folgen der Trennungen sein? Sie rühren ständig
an Problemen, für die es keine optimale Lösung gibt. Simone de
Beauvoir warnte vor der Versklavung der Mütter, vor einer Rolle, in
der sie einfach bloß Gefangene der Bedürfnisse ihres Kindes
sind, wo talentierte Frauen ihre Karriere in einem anspruchsvollen Beruf
aufgeben, und nicht, wie die Prinzessin Alcharisi in dem Roman Daniel
Deronda von George Eliot, ihr Kind weggeben, um ihr künstlerisches
Talent zu entfalten.
Andererseits ist es offenkundig, dass sich Kinder prächtig
entwickeln können, die von berufstätigen Müttern aufgezogen
werden. Bowlbys Bindungstheorie gilt nicht absolut, wenngleich nichts gegen
seine Grundthese einzuwenden ist, dass Menschen- und andere Primatenkinder
nach der Geburt eines besonderen Schutzes bedürfen. In ihrem Wunsch,
im Arm gehalten zu werden und sich in der Gewißheit zu aalen, dass
sie geliebt werden, sind menschliche Kinder fast unersättlich. Aber
was bedeutet das für die Mütter? Es gibt wenig Beispiele in der
Natur, die dem weiblichen Geschlecht die Rolle einer Vollzeithausfrau und
-mutter vorschreiben würde. Man weiß heute viel mehr über
Jäger- und Sammler-Völker, bei denen die Kinder von Geburt an
mehrere Betreuer haben, zu denen sie enge Beziehungen entwickeln. Menschliche
Allomütter sollte man sich nicht als weißhaarige alte Damen
beim Kaffeekränzchen vorstellen, sondern als zähe und gewiefte
Frauen, die einfach über mehr Erfahrung verfügen und mehr Pflanzen
und Knollen anschleppen als andere, um Enkel und weibliche Verwandte mit
zu versorgen.
"Was eine Mutter zur Mutter macht, ist nicht irgendeine magische
'Mutteressenz', sondern die Tatsache, dass sie (zwangsläufig) zugegen
ist, wenn das Kind zur Welt kommt, dass sie hormonell auf diese Rolle vorbereitet
ist, dass sie sensibel auf kindliche Signale reagiert und dass sie mit
dem Baby verwandt ist. Diese Faktoren erhöhen ihre Bereitschaft, dem
Kind all das zu geben, was es zur Befriedigung seiner Bedürfnisse
benötigt. Sobald die Milch einschießt, wird das mütterliche
Verlangen, das Kind zu ernähren, noch stärker. (...) Diese Faktoren
machen es am wahrscheinlichsten, dass die Mutter die primäre Betreuungsperson
des Kindes wird. Aber sie stellen keine unwiderrufliche Vorschrift dar."
(Hrdy, S.567)
Hrdy zerstört die bequeme Illusion konservativer Männer
von der natürlichen Hingabe der Mütter an ihre Kinder, ebenso
wie sie Feministinnen widerspricht, die die Notwendigkeit einer stabilen,
dauerhaften Anwesenheit der Mutter geringschätzen. Abtreibungsgegnern
hält sie entgegen, dass Kindstötung und selektive Aufzucht primitive
Formen der Geburtenkontrolle sind, die bei "Mutter Natur" auf Verständnis
rechnen kann, eine moderne Gesellschaft aber ächtet. Frauen haben
ihren Mutterinstinkt nicht verloren, sondern sie stellen komplizierte Überlegungen
an, wie es mit ihnen und ihren Kindern wohl in der Zukunft aussehen wird.
Je stärker die Gleichberechtigung der Geschlechter ausgeprägt,
je besser der Zugang zu Verhütungsmitteln geregelt und je solider
die allomütterliche Unterstützung ist, desto weniger brauchen
Babys Angst zu haben, als unerwünschte oder unerträglich Beschwernis
ausgesondert zu werden.
Dieses Werk kann mit vollem Recht als grundlegend und bahnbrechend
bezeichnet werden. Mutter Natur ist geeignet, radikal die gängigen
Ansichten zur Mutterschaft und der Mutter-Kind-Beziehung zu verändern.
Es ist eines jener herausragenden Bücher, die einen dazu zwingen,
alles zu überdenken, was einem zuvor an Wissen ans Herz gewachsen
war. Ausgezeichnet formuliert als auch tadellos übersetzt bestätigt
Hrdy erneut die offenbar uneinholbare Führungsrolle angloamerikanischer
Autoren in der Wissenschaftspublizistik; aus dem deutschen Sprachraum ist
kein vergleichbares Buch bekannt.
Gerald Mackenthun, Berlin
November 2000
direkt bestellen
Mutter Natur. Die weibliche Seite
der Evolution
Oder in der nächstgelegenen
Buchhandlung! So landen die Steuereinnahmen zumindest in
"unserem" Steuersäckel, was theoretisch eine
Investition in Bildung und Erziehung ermöglichen würde.
In Bonn-Bad Godesberg z.B. in der
Parkbuchhandlung