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Heinl, Hildegund/Heinl, Peter: Körperschmerz - Seelenschmerz. Die Psychosomatik des Bewegungssystems - Ein Leitfaden. Kösel Verlag, München 2004, 217 Seiten


Die sogenannte Psychosomatik der Orthopädie hat immer noch wenig Beachtung in der Behandlung der Schmerzen des Stützapparates gefunden. Das vorliegende Buch gilt in heutiger Redeweise bereits als alt, ist aber in seiner Bedeutung nicht hoch genug einzuschätzen. Die Hauptautorin Hildegund Heinl hatte ihr „Erweckungserlebnis“ mit einem jungen Mann, dessen Rückenschmerzen bislang jeder Therapie aus dem orthopädischen Spektrum trotzte. In der Untersuchung ließ sie den Patienten im Behandlungsraum auf und ab gehen und bemerkte, dass er eine krumme Haltung an den Tag legte, dabei zwischendrin immer wieder versuchte, sich aufrecht zu halten, nur um bald darauf in die gebeugte Haltung zurück zu kehren. Frau Heinl war an einen ihrer Söhne erinnert, den sie selbst häufig zu einer aufrechten Haltung ermahnte. Wie zu sich selbst sagte sie: »Ihnen hat wohl auch Ihre Mutter immer gesagt, Sie sollten sich gerade halten« (S. 20). Der Patient war darüber recht erstaunt und bestätigte die Annahme. Im Gangbild hatte sie den Eindruck, als würden Worte oder Schläge auf den Rücken des Patienten prasseln und als vollzöge der Patienten einen Wechsel zwischen Anpassung und Verweigerung. Sie zeigte ihm und ließ ihn spüren wie leicht es möglich ist, das Becken aufzurichten, wie sich ebenfalls die Wirbelsäule in die Höhe richtete und der folglich gehobene Kopf einen neuen Blick auf die Welt ermöglichte. Diese neu gewonnene Haltung möge er vor dem Spiegel erproben und betrachten, ob er sich so gefalle. Mehr tat sie nicht. Zwei Wochen später kam er in die Sprechstunde, um sich für die Behandlung zu bedanken – er war beschwerdefrei.

Diese Erfahrung ließ die Autorin nicht mehr los. Sie begann sich für die psychischen Hintergründe zu interessieren, wozu sie die Lindauer Psychotherapiewochen (1971) besuchte. Dort sprach sie mit dem Psychoanalytiker Georg Wittich, der ihr aufmerksam zuhörte und ihr etwas über Übertragung und Gegenübertragung erzählte, was ihr gleichsam Böhmische Dörfer waren. Als er dies bemerkte, äußerte er schlicht: »Sie haben ihm die Mutter vom Buckel genommen!«

Gleichsam „angefixt“ tat sie sich um, auf welche Weise sie sich psychotherapeutisch weiterbilden könne. Sie entschied sich schließlich für die Gestalttherapie, da sie deren erlebnis- und emotionsorientierten Ansatz, die Einbeziehung des Leibes in die Psychotherapie, als am geeignetsten erachtete.

»Das Tabu der Berührung, das damals in der psychoanalytischen Behandlung strenge Regel war, hat in der orthopädischen Praxis keine Gültigkeit. Die Hände sind ein unentbehrliches Instrument des ärztlichen Tuns. Den Menschen in seiner unverhüllten Gestalt, in Körperhaltung und Bewegung und seinen Reaktionen auf die körperliche Untersuchung zu beobachten ist unverzichtbar. So wird der Mensch sowohl in seiner Körperlichkeit als auch – und das ist die neue Betrachtungsweise – in seinen seelischen Ausdrucksformen wie Angst-, und Fluchtreaktionen, Zittern, Zurückweichen, Sich-Verspannen oder Erstarren wahrgenommen« (S. 22).

Für die leibfundierte psychodynamische Therapie (Heisterkamp, 1993) ist dies seit langem eine unabdingbare Herangehensweise. Die künstliche Spaltung der menschlichen Existenz in einen Körper und eine Seele verfehlt das Menschsein im Kern und ist nur zu didaktischen Zwecken statthaft.

Im vorliegenden Text werden sehr viele anschauliche Beispiele für die erfolgreiche Behandlung in der so veränderten Orthopädie angeführt. Besonders in der Nachkriegszeit kamen viele traumatisierte Patienten in die Orthopädie, in der auch allein auf den Bewegungsapparat (Nomen est Omen) bezogene Behandlungen großartige Fortschritte erzielt wurden, besonders in der Prothetik. Die Traumafolgestörungen, die tief in den Leib (verstanden als gesamthafte Existenz) eingeleibt sind, blieben allerdings unberücksichtigt. Eine Folge dieser isolierten Betrachtungsweise war etwa, dass Behandlungsformen an das Trauma erinnerten, also zum Trigger wurden, und den Status nicht besserten sondern sogar verschlimmerten. Die Berücksichtigung der lebensgeschichtlichen Engramme verkürzte die Behandlung dramatisch, da nicht lange Wege der Ausschlussdiagnostik und erfolgloser Behandlungen beschritten werden mussten, wenn sich ein Verdacht auf den Lebensbezug ergab. So führte Frau Heinl nicht nur eine Psychosomatische Sprechstunde ein, sondern bot ihren Patienten auch intensive fünf Tage Seminare an, in denen ihnen der Zusammenhang zwischen Leibsymptomen und unverarbeiteten Lebenserfahrungen transparent werden konnte. Manchmal gab es so schon überdauernde Heilung, oft war die Empfehlung einer Psychotherapie das Mittel der Wahl, um die aufgekommenen Lebenszusammenhänge durchzuarbeiten.

Hinsichtlich orthopädisch sich manifestierenden Ausdrucks hat Frau Heinl den Vorteil, dass sie etwa Schmerzbilder und medizinische Diagnosen einschätzen, und so leichter Hypothesen bildend den lebensgeschichtlichen Zusammenhang mutmaßen kann. Sie hebt dabei die Bedeutung der Intuition hervor, die nichts Mystisches an sich hat, sondern – wie wir sagen würden – mit der Beachtung der Gegenübertragung einhergeht, die sich nicht nur im Denken, sondern auch im Leiblichen ders Therapeut*in abbildet. Oft genug stellt sich eine blitzartige Gewissheit ein, die der weiteren Reflexion den Weg ebnet. Solche sich plötzlich einstellenden Gewissheiten greifen dabei auf ein großes fachliches und Erfahrungswissen zurück, das im impliziten Gedächtnis zu aktiven Verbindungen führt, die auf der unbewussten Zusammenführung dieses Wissens gründen. Hier greifen nicht nur fachmedizinisches Wissen, sondern vor allem Beziehungswissen und Wissen um die menschliche Existenz und deren gesamthafte leibfundierte Antwort auf innerweltlich Begegnendes.

»Denn ich gewinne diese diagnostischen Erkenntnisse nicht, indem ich mir bewusst Gedanken mache und die Dinge im Sinnen eines rational-logischen Abwägens durchdenke. Stattdessen kommen mir die Erkenntnisse im Sinne eines intuitiven Denkens entgegen« (S.117)1.

Das Schmerzgedächtnis wird zum physiologischen Ort wiederkehrender Beschwerden, denn der Organismus zielt auf Schmerzvermeidung, so dass der Schmerz ähnlich der Angst zum Signal wird. Die Autoren verorten das Schmerzgedächtnis neurobiologisch im Gehirn – was mutmaßlich für den Phantomschmerz zutrifft. Jedoch dürfte ansonsten immer der gesamte Leib und dessen Gedächtnis daran beteiligt sein, wenn etwa die Gewalterfahrungen am räumlichen Ort des Leibes keine sichtbaren Spuren mehr zeitigen, gleichwohl die Berührung dieser Stellen das Gefahrensignal auslöst, das sich z.B. in einem mulmigen Empfinden im Bauchraum zu erkennen gibt.

Gleichwohl ließ sich in einer Studie (Eisenberg u.a., 2003) nachweisen, dass gleiche Hirnregionen aktiviert sind, wenn soziales Ausgeschlossensein oder Organschmerz erfahren werden (S. 149).

Die Autoren stellen ebenfalls eine weitergehende Verbindung zur neurobiologischen Forschung her, die gleichsam die leiblichen Manifestationen im Gehirn verorten. Dies ist meines Erachtens noch zu einseitig, da die neuronalen Netze sich nicht auf das Gehirn beschränken, wenngleich die Informationen dort zusammenzulaufen scheinen. Bedeutsam auch für den orthopädischen Bereich: Neuronale Netzwerke sind plastisch, als noch bis ins Alter veränderbar. Das ist für den therapeutischen Zugang von zentraler Bedeutung und könnte so manche Operation überflüssig machen, die oft genug zu einer irreversiblen Schädigung führt, die das Leiden gleichsam fixiert.

Der Band schließt mit einem wertschätzenden Nachwort von C.J. Rüegg. Ein Buch, dass zur Basislektüre für angehende Orthopäden werden sollte – wenn es das nicht schon ist und für alle ganzheitliche Denkende eine Bereicherung darstellt. Es wäre sehr schade, wenn dieses Kleinod in der Masse der Neuerscheinungen der Vergessenheit anheim fiele.

Literatur:

Heisterkamp, Günter (1993): Heilsame Berührungen. Praxis leibfun­dierter analytischer Psychotherapie. Stuttgart 1993, 2. Aufl. 1999

Kuck, Bernd (2019): Denken in Szenen, in: Psychoanalyse und Körper, 36, Heft I, S. 67-77

1 Siehe hierzu auch Kuck (2019)

Bernd Kuck      
Juli 2020

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Körperschmerz - Seelenschmerz

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