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Grubner Angelika: Die Macht der Psychotherapie im Neoliberalismus. Eine Streitschrift. mandelbaum kritik & utopie, Wien, Berlin, 2. durchgesehene Auflage 2018


Die Psychologie und die Psychotherapie, überhaupt die Psy-Wissenschaften, sind mehr und mehr in Gefahr, ihren im Prinzip emanzipatorischen Charakter einzubüßen, wenn sie ihn nicht schon eingebüßt haben. Die Psychotherapie als Agentin der neoliberalen Gesellschaftsform, die in ihren Krankenkassen etablierten Strukturen vorrangig die Arbeitsfähigkeit wieder herstellen soll, indes ein Großteil der nun Patienten gerade an den Strukturen dieser Arbeitswelt scheitern. Innerhalb, besonders außerhalb, der Psychotherapie auf Krankenschein geht es mehr und mehr um die Selbstmodifikation und Selbstopimierung. So sollen die Menschen wieder "fit-2work" gemacht werden oder durch die "permanente Aufforderung zur Aktivität und Selbstoptimierung, wie sie in neoliberalen Zeiten immer und überall zu hören und zu lesen sind" (S. 10) sich an die Erfordernisse der Arbeitsstrukturen anpassen. Die Individualisierung und Subjektivierung des Menschen im neoliberalen Kapitalismus ist soweit pervertiert, dass 'Versagen' allein zum Problem des Einzelnen geworden ist. Erfolg oder Misserfolg sind die Folge persönlichen Einsatzes oder zu geringer Anstrengung und persönlicher Faulheit. Der Vorwurf an die Psychotherapie, der sie schon einmal in Zeiten linker Gesellschaftskritik ereilte, sie würde innerhalb des Systems ohne gesellschaftskritische Reflexion mit agieren, wird wieder erhoben und begründet. Soziale Notlagen werden allzuleicht und selbstverständlich als persönlich verursacht dargestellt und aufgefasst. Im öffentlichen Diskurs ist der arbeitslose Mensch selbst Schuld, denn wer sich nur ausreichend bemüht, der findet auch Arbeit. Im psychotherapeutischen Diskurs wird das Scheitern allein auf individuelle "Störungen" reduziert, auf die fehlende Nutzung brachliegender Ressourcen, die nun mittels psychotherapeutsicher Techniken aufgespürt und aktiviert werden sollen, um so die Arbeitsfähigkeit wieder herzustellen oder sich im Arbeitsalltag besser durchsetzen zu können.

"Solche Ausdruckformen, die sich in Symptomen, Leidenszuständen aber auch in Selbstoptimierungswünschen entfalten, nicht mit gesellschaftspolitischen Verhältnissen zusammenzudenken, halte ich - kurz gesagt - für unverantwortlich" (S. 13).

Das wirft die Frage auf, ob es hinreichend ist, sich auf behandlungstechnische Spezialisierungen hin zu orientieren und dabei machttheoretische und philosophische Fragestellungen zu vernachlässigen. Wem nutzt eine solche Vereinseitigung, wie sie in der Psychotherapieszene zu beobachten ist? Ebenso problematisch ist die zunehmende Medizinalisierung der Psychotherapie, die symptomorientierte Krankheitsbilder und Behandlungen kreiert und nicht mehr wirklich die Bedingungen untersucht, an denen die Menschen erkranken. Virchow verweigerte sich noch einer solchen Betrachtung, als ihn die preußische Regierung 1848 nach Schlesien sandte, um die Ursachen eine Typhusepidemie zu bekämpfen. Er machte deutlich, dass es die "zivilisatorische Verwahrlosung", also die Lebensbedingungen der Bevölkerung ist, die die Epidemie begünstigt. "Wo die Medizin zu spät kommt, wird eine politische Medizin gebraucht" (Meyer-Abich, 2010).

Die Psychotherapie ist in die Ambivalenz verstrickt, dem leidenen Menschen zu helfen, einerseits in der gesellschaftlichen Situation ein möglichst gutes und gesundes Leben zu führen, "andererseits aber sind deren Problemlagen oftmals in den neoliberalen Machtverhältnissen zu suchen, die, und das ist ein zu überprüfendes Apriori dieser Arbeit, der Psychotherapie zum Aufstieg verholfen haben" (S. 16). Um diese These zu begründen stellt die Autorin die Entwicklung neoliberalen Denkens und deren schleichende Infiltration aller Lebensbereiche dar (siehe hierzu auch die kurze dreiteilige historische Übersicht in "Perspective Daily"). Ferner die machttheoretischen Überlegungen Foucaults, in denen transparent wird, dass die Subjektivierung niemals im leeren Raum stattfindet. Wir werden in eine bestehende Gesellschaft hineingeboren und in ihr sozialisiert. Daher sind "Störungen" der Gesundheit immer auch auf dem Boden gesellschaftlichen Seins zu reflektieren. Er äußerte sich bereits skeptisch gegenüber der Psychoanalyse, die, trotz ihrer ursprünglich gesellschaftskritischen Haltung, nicht frei ist von "historisch situierbare[n] Machtstrukturen und Diskursmuster[n]" und habe den "Begriff der Macht [...] vollkomen unangetastet" (S. 19) gelassen. Dies gilt gleichermaßen für das Verständnis der "Psyche" wie des Geschlechts, die ohne ihre Einbettung in den gesellschaftspolitischen Kontext unverständlich bleiben.

Hinsichtlich des weitverbreiteten Neoliberalismus muss konstatiert werden, das reale Macht, wie sie im Währungsfonds oder der Europäischen Zentralbank existiert, nur schwach demokratiepolitisch legitimiert ist. Handelsabkommen lassen ebenfalls eine solche Legitimierung vermissen, ja durch die Schaffung außergerichtlicher Schiedsstellen wird zusätzlich die Gerichtsbarkeit demokratischer Staaten ausgehebelt (siehe auch die Verfassungsklage, innitiiert von Marianne Grimmenstein). Der Staat soll nach neoliberaler Vorstellung verschlankt werden und lediglich die Rahmenbedingungen schaffen, damit sich die Kräfte des Marktes frei entfalten können. Das ist bereits in der Politik angekommen, wenn die Bundeskanzlerin Angela Merkel von einer marktkonformen Demokratie spricht, die es zu gestalten gelte (so im Podcast des DLF, siehe http://www.nachdenkseiten.de/?p=10611).

Neoliberales Gedankengut ist bis in die Sprache der Psychotherapie vorgedrungen: "Zahlt sich das für sie aus?", "Welchen Preis müssen sie dafür zahlen?", "Wo liegt da ihr Gewinn?", "Welcher Nutzen ergibt sich aus diesem Tun?" (S. 48). Techniken der "Achtsamkeit", sportliche Betätigung, Yoga, Waldbaden, alles lässt sich vernutzen um seine Stressresistenz zu steigern. Die Stress erzeugenden Strukturen werden dabei nicht mehr reflektiert. Was ansich hilfreich ist und einem gesunden Egoismus in der Selbstfürsorge angehört, wird zu einer egozentrischen Selbstoptimierung, bei der Anteilnahme, Einfühlungsvermögen, Verständnis und soziale Verantwortung auf der Strecke bleiben oder gar in Managementschulungen zur Maskerade verkommen, deren Ziel der Förderung der Selbstausbeutung der "Mitarbeiter*innen" dient (siehe hierzu das interessante Filmprojekt "Wer rettet wen?" oder "Der marktgerechte Mensch"). Die Verlogenheit vermeintlicher Freiheit, wie sie etwa bei den Scheinselbstständigen oder sog. Kleinunternehmern propagiert wird, ist lediglich der Ausfluss neoliberalen Denkens, bei dem der Mensch dem Markt dient - nicht umgekehrt; die Mitglieder der Gesellschaft werden zu "Humankapital". Und so resümiert Frau Grubner:

"Mein psychotherapeutischer Alltag zeigt mir täglich, dass Menschen ihre Lebenssituation und die damit verbundenen Probleme in keiner Weise mit gesellschaftspolitischen Regulierungen, sondern ausschließlich mit ihrem persönlichen Versagen in Verbindung bringen" (S. 54).

Foucaults Analysen der gesellschaftlichen Machtstrukturen können hier nicht in der Kürze dargestellt werden - das würde nicht hinreichen. Grubner gibt seinen Analysen breiten Raum und gewinnt so ein Theorem, das sie auf die etablierte Psychotherapie anwenden kann und auf deren gesellschaftspolitische Blindheit. Bis in die Ausbildung hinein, die zunehmend privatisiert wurde und wird, reichen diese Strukturen. Ob allerdings die Lösung darin besteht, die Psychotherapiewissenschaft an den staatlichen Universitäten zu lehren, bleibt zu problematisieren. Schließlich sind sie bereits neoliberal durchseucht, indem ihnen von staatswegen die Mittel beschnitten werden und sie Fremdmittel bei der Industrie einwerben müssen.

Foucault plädiert für Kritik und Widerstand. Die Kritik kann in der Praxis derart aussehen, dass sie sich zum Ziel setzt, "'nicht so, nicht dermaßen, nicht um diesen Preis regiert zu werden"' (S. 119) [Könnte das Motto des Deutschen Psychotherapeuten Netzwerks sein]. Das wird sich nicht so ohne weiteres auf die Praxis der Psychotherapie, vor allem auf die Beziehung Psychotherapeut*in/Patient*in übertragen lassen. Hier eröffnet sich ein weiteres Dilemma der Psychotherapeut*innen: Wie können die Patient*innen einerseits informiert, also im besten Sinne aufgeklärt werden, ohne andererseits die Abstinenzregel zu verletzen. Derzeit ist dies gerade in der BRD ein Problem, dass sich in dem Drang des Bundes(krankheits)ministers Spahn offenbart, der mit aller Macht versucht, die Praxen der Niedergelassenen, die Kliniken und Apotheken zu vernetzen, um so äußerst sensible Patientendaten zentral zu speichern und ein Eldorado für Hacker mit krimineller Energie zu schaffen. Dabei werden die Patient*innen nicht informiert, so dass die meisten Bürger*innen nicht wirklich wissen, was auf sie zukommt. Hier formiert sich immerhin Widerstand durch die Behandler*innen, wofür sie sogar bereit sind eine prozentual steigende Strafgebühr auf ihren Umsatz mit den gesetzlichen Krankenkassen zu zahlen. Hinsichtlich der Patient*innen gibt es nun ein höheres Gut, über dessen Verletzung sie durch Psychotherapeut*innen und Ärzt*innen aufgeklärt werden müssen. Hier geht es um den Schutz der Patient*innen - die Fürsorgepflicht der Behandler*innen wiegt hier schwerer als eine falsch verstandene Abstinenz. In einer falsch verstandenen Abstinenz offenbart sich eine implizite Staatsgläubigkeit, die in Foucaults Begriff der "Gouvernementalität" ihre analytische Begründung findet. Es ist die Analyse "der Macht als Feld strategischer Beziehungen zwischen Individuen und Gruppen" (S. 93), zwischen Regierung und Regierten, wobei die Strukturen derart tief in die Gesellschaftsglieder einsickern, dass sie schließlich selbst glauben, was ihnen oktroyiert wurde. Eine der Folgen ist z. B. die Selbstzensur. In Foucaults Worten:

"'Ich verstehe unter 'Gouvernementalität' die aus den Institutionen, den Vorgängen, Analyse und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken gebildete Gesamtheit, welche es erlauben [sic], diese recht spezifische, wenn auch sehr komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als wichtigste Wissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat'" (ebd.).

Was von der Regierung als Digitalisierung und Fortschritt verkauft wird, ist eigentlich eine Vernetzung mit der Möglichkeit, den neoliberalen Akteuren in Politik und Wirtschaft Zugang zu den Gesundheits- bzw. Krankheitsdaten der Bürger*innen zu verschaffen. Versicherungen, Kreditinstitute und andere Akteure sind schon sehr an den Daten interessiert, die offiziell nur der Forschung zugänglich gemacht werden sollen. Jedoch ist schon heute die Forschung längst nicht mehr unabhängig von der Industrie. Krankheitsdaten werden bereits im Darknet gehandelt (Tagesanzeiger Zürich, Zugriff 22.9.2020). Mit der sogenannten ePatientenakte werden den Patient*innen die Hoheit über ihre Daten abgeluchst - mit fehlendem Nutzen für Patient*innen und Behandler*innen. An erster Stelle steht die Logik des Marktes,

"die mit der Regierung verschmilzt und so zum zentralen Dreh- und Angelpunkt neoliberaler Regierungskünste avanciert. Damit geht eine Veränderung im Verständnis des Regierens selbst hervor, das sich einerseits der Genügsamkeit verschreibt und andererseits wachsam und aktiv den gesamten gesellschaftlichen Bereich ökonomisiert, also nach Wert und Nutzen organisiert" ( S. 130).

Beschränkt sich die Psychotherapie nun darauf, den einzelnen bei ihrer Selbstführung hilfreich zur Seite zu stehen, "läuft sie gleichzeitig Gefahr, diese für die neoliberale Hegemonie zuzurichten - selbige somit zu stützen" (S. 288).

Einen Aspekt möchte ich noch herausschälen, an dem sich zeigt, wie weit die "Gouvernementalisierung" schon gediehen ist. Die Normalbürger*innen haben den Neoliberalismus so weit internalisiert, dass ersie sich selbst als Versager*in empfindet, da ersie nicht in der Lage ist, 'seinihr Glück zu schmieden'. Die Strukturen des Neoliberalismus sind für den wenig Gebildeten (nicht nur für ihn) unsichtbar, nicht greifbar. Nur diffus ist zu spüren, dass es mit der viel beschworenen Freiheit im Neoliberalismus nicht weit her ist. Dieses diffuse Unbehagen macht sich nun in der Coronapandemie Luft, denn hier tritt jetzt der Staat sichtbar als Beschränker der Freiheit auf den Plan. Dieses diffuse Empfinden, "verarscht zu werden" hat nun scheinbar ein konkretes Gegenüber gefunden. Die Coronaleugner meinen, die Willkür des Staates, die an ihrer misslichen Lage Schuld ist, entdeckt zu haben. Kurioserweise ist der Virus ebenso unsichtbar wie der Neoliberalismus. Der Virus wird unter dem Elektronenmikroskop sichtbar, der Neoliberalismus unter der Analyse von Philosophen und Soziologen. Ein gewisser Bildungsgrad ist notwendig, um den Folgerungen der Wissenschaftler folgen zu können. Da aber Bildung mehr und mehr einer Elite vorbehalten ist, ansonsten weg gespart wird, tun sich die Konsumgebildeten schwer, komplexe Zusammenhänge zu durchschauen - zumal solche, die derart intrinsisch verankert sind, dass sie wie selbstverständlich zu uns zu gehören scheinen.

Nun aber genug. Vielleicht ist deutlich geworden, dass das Buch ausgesprochen anregend und aufregend ist und zum Weiterdenken anregt. Das Buch könnte aufrütteln, setzt aber bei den Leser*innen die Bereitschaft voraus, sich selbst und ihr Tun kritischst zu hinterfragen. Dass Frau Grubner dabei teilweise einseitig zuspitzt und die Psychotherapie unter Generalverdacht stell, muss mensch aushalten. Der Text macht damit bereits dem Untertitel Ehre: Eine Streitschrift!

 

Literatur:
Meyer-Abich, Klaus Michael: Was es bedeutet, gesund zu sein. Philosophie der Medizin. Carl Hanser Verlag, München 2010

Bernd Kuck      
September 2020

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