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Gräber, David: Bürokratie. Die Utopie der Regeln. Klett-Cotta, Stuttgart 2016, 336 Seiten, 12 €



Was in Europa und in Deutschland noch weiter auf dem Vormarsch ist, hat in den USA bereits Alltäg­lichkeit: Das Verschwimmen zwischen Staat und privatem Bereich. Großunternehmen agieren über ihre Lobbyisten und schreiben an Gesetzen mit. Die Bürger sind immer mehr damit beschäftigt, al­les mögliche selbst abzuwickeln, verbringen eine Unmenge an Zeit mit der Auswahl von Kon­sumartikeln, die sich nur schwer durchschaubar voneinander unterscheiden. Unendlich viel Zeit verbringt der Normalmensch vor seinem PC um seine Bankgeschäfte (heißt in der Regel seine Überweisungen) zu erledigen, da es immer wieder Störungen gibt und nochmal eine Menge Zeit mit irgendwelchen updates verloren geht. Das ist sozusagen das Umfeld, indem ein Wust an Formularen immer mehr an Boden gewinnt und deren Ausfüllen den Rest an Lebenszeit aufbraucht, der für die immer spärlicher werdende Freizeit übrig bleibt.

„Der Großteil des Papierkrams, den wir zu erledigen haben, bewegt sich in dieser Zwischenzone. Scheinbar ist er privat, tatsächlich aber vollkommen staatlich festgelegt. Der Staat setzt den rechtli­chen Rahmen, sichert die Vorschriften durch seine Gerichte und alle ausgeklügelten Rechtsdurch­setzungsmechanismen ab, die damit zusammenhängen. Dennoch arbeitet er eng mit privaten Kon­zernen zusammen, um eine bestimmte private Profitrate sicherzustellen“ (S. 21).

Wer einmal versucht hat, seinen Account bei Apple zu löschen, kann sofort nachvollziehen, was ge­meint ist. Da gibt es nicht einfach einen Button zum Löschen, wenn man sich umständlich legiti­miert hat. Vielmehr steigt der user in eine Schleifenbewegung ein, wo einige Emails hin und her gehen, um am Ende immer noch einen Account zu haben. Das sind Schleifenbewegungen, wie sie aus Telefonkontakten mit Behörden bekannt sind. Ebensolcher Beliebtheit erfreuen sich Warte­schleifen am Telefon, wobei das Anliegen dann nicht etwa erledigt ist, sondern weitere Runden in der Warteschleife zu absolvieren sind, fran dabei nie auf dien selben Mitarbeiter*in trifft. Gerne wird die Gelegenheit genutzt – wo sie schon mal am Telefon sind -, ihnen ein neues Produkt oder eine unglaubliche Verbesserung ihres bisherigen anzubieten. Schaue ich dann wieder auf die Uhr, ist eine Stunde meiner Lebenszeit aufgebraucht.

Darüber hinaus sind Behördenschreiben, egal ob Rentenversicherung oder Finanzamt, mit einer An­drohung von Gewalt versehen, falls derie Delinquent*in, denn so muss fran sich als Bürger*in zu­nehmend fühlen, es an der nötigen Mitarbeit fehlen lässt. Dabei werden derm Bürger*in §§ angege­ben, die sier nicht kennt, aber den maschinellen Absender des Schreibens zu seiner Handlungsweise legitimieren.

Noch handelt es sich nicht um offene Gewalt. Sie wird jedoch in Form von struktureller Gewalt ausgeübt. Beliebt ist es dabei auch, die Schreiben so auf den Weg zu bringen, dass sie dien Empfän­ger*in am Freitag erreichen, wo dann sowieso nicht mehr viel zu machen, immerhin das Wochenende verdorben ist.

Aktuell lässt sich angesichts des G20 Gipfels in Hamburg betrachten, wie demokratische Grund­rechte durch massive Einschränkung des Demonstrationsrechts beschnitten werden. Die aufbre­chende offene Gewalt geht zwar auch von „Gewalttouristen“ aus, die nur Randale im Sinn haben, keine politischen Ziele. Jedoch erinnert das Szenario durchaus an Borderlinestrukturen. Die aller­dings ist den staatlichen Organen zuzuschreiben, die ihr Gegenüber, die zu Wahlzeiten hochgelobten „mündigen Bürger*innen“, in Ohnmachtsgefühle treiben, die nach der alten Regel: Frustration kann zu Aggression führen, Aggression aufbrechen lässt, die dann mit legitimierter stattlicher physischer Gewalt beantwortet werden kann. Erstaunlich, dass sich so viele Demonstrant*innen nicht provozieren ließen.

Strukturelle Gewalt meint Strukturen, „die auf Gewaltandrohung basieren, selbst wenn in ihren gewohnten, alltäglichen Abläufen keine physische Gewalt angewendet wird“ (S. 74).

Die Verbindung von struktureller Gewalt und Bürokratie ist nahezu überall zu greifen. Die, die sol­che Zusammenhänge beforschen könnten, sind selbst im bürokratischen Dschungel gefangen. Uni­versitätsprofessor*innen verbringen immer mehr Zeit mit Papierkram, darunter solchem zur Einwerbung von Fremdmitteln.

Die Erfahrung struktureller Gewalt gebiert möglicherweise physische Gewalt. Diese hat den „Vor­teil“, dass sie einerseits tatsächlich etwas bewirkt, andererseits aber eben destruktiv ist, wo zu einer konstruktiven Auseinandersetzung die Bildung fehlt, hervorgerufen durch staatlichen Investitions­stau in Bildungseinrichtungen. Gewalt ist daher auch die bevorzugte Waffe der Dummen. Ja, fran könnte sie „sogar als die Trumpfkarte der Dummen bezeichnen, weil sie – und das ist zweifellos eine der Tragödien der menschlichen Existenz – jene Form von Dummheit ist, auf die es am schwierigsten ist, eine intelligente Antwort zu finden“ (84f).

Adam Smith hat das Phänomen der „Mitgefühlsmüdigkeit“ beschrieben. Der Mensch ist durchaus fähig zur Empathie, verliert diese aber, wenn er durch die beständig unglückliche Lage der Armen geradezu überwältigt wird. Die von struktureller Gewalt Betroffenen machen sich dabei viel mehr Gedanken „über deren Nutznießer als diese über sie. Das dürfte, nach der Gewalt an sich, die macht­vollste Kraft sein, die diese Beziehungen aufrechterhält“ (89).

Zum Wesen der Bürokratie gehört es, Feinheiten des realen gesellschaftlichen Lebens außen vor zu lassen. Alles wird „auf vorgefertigte mechanische oder statische Formeln“ (93) reduziert. So kann sich der Mensch in seiner Individualität kaum in Fragebögen des psychischen „Krankheitssystems“ (statt Gesundheitssystems) wiederfinden. Ebenso standardisiert sind Abläufe in Kliniken der Reha­bilitation, alles dem Effizienzgedanken geschuldet, der aus der industriellen Produktion stammt. In immer mehr Bereichen haben wir es mit „Humanmaterial“ zu tun, statt mit Menschen oder gar Per­sonen. Das ist die „Finanzialisierung“ menschlicher Beziehungen, die Hand in Hand mit der Büro­kratisierung geht.

Da sich in bürokratischen Strukturen zwanghafte Menschen, denen Sicherheit oberster Wert ist, wiederfinden, lassen sich diese Strukturen auch als Verhinderung von Kreativität und Lebendigkeit begreifen. Der psychischen Aushöhlung der Masse der Menschen, die in flexibilisierten Arbeitsabläufen ver­braucht werden, steht die Zurückdrängung der Gewerkschaften zur Seite.

Der technologische „Fort­schritt“, der solche Strukturen ermöglicht, ist jedoch nicht in der Lage, Therapien gegen Krebs her­vorzubringen „oder auch nur gegen eine gewöhnliche Erkältung“. Die bedeutendsten Durchbrüche in der Medizin finden sich „in Gestalt von Medikamenten wie Prozac, Zoloft oder Ritalin […] - maßgeschneidert, könnte man sagen, um sicherzustellen, dass die neuen Anforderungen in der Be­rufswelt uns nicht vollkommen verrückt machen und unfähig, unseren Aufgaben nachzukommen“ (159).

Die Aufblähung der Verwaltung in Lehre und Forschung, im „Krankheitssystem“ (Meyer-Abich) und allen sozialen Bereichen, hat – besonders an den Universitäten – dazu geführt, „das ein Wust von Papieren über die Förderung von „Phantasie“ und „Kreativität“ [entstand, der] wie geschaffen dafür scheint, jede Phantasie und Kreativität im Keim zu ersticken“ (165).

Und hatte schon John Stuart Mill darauf hingewiesen, dass „alle arbeitssparenden Maschinen, die bislang erfunden wurden, […] die Mühsal nicht eines einzigen Menschen vermindert“ (172) haben, so müssen wir konstatieren, dass wir von der Vision Kropotkins, nur noch vier Stunden gesellschaft­lich notwendige Arbeit pro Mensch verrichten müssen, um den Wohlstand aller zu erhalten, weiter denn je entfernt sind. Selbst das Kreativität freisetzende Internet hat eine eigenartige Umkehrung er­fahren, „bei der Kreativität in den Dienst der Administration gestellt wird statt umgekehrt“ (173).

Nach Max Weber ist es fast unmöglich, eine einmal geschaffene Bürokratie wieder loszuwerden, denn sie wird unverzichtbar für all diejenigen, die Macht ausüben wollen. Der Reiz bürokratischer Beziehungen liegt darüber hinaus darin, dass sie unpersönlich und kalt sind. Sie ähneln einer Geld­überweisung, sind ebenso seelenlos und berechenbar – wenn fran sich nicht in Schleifen verfängt.

Nebenbei erfährt fran im vorliegenden Text noch etwas über das ausgeklügelte System der deut­schen Post im ausgehenden 19. Jahrhundert. Und: der Reiz der Bürokratie liegt in der Angst vor dem Spielen, worunter die freie kreative Gestaltung des Zusammenlebens verstanden werden kann. So ganz ohne Regeln wird es nicht gehen. Die Grundregel des libertären Anarchismus bleibt das er­strebenswerte Ziel: So viel Staat wie nötig, so wenig Staat wie möglich.

Bernd Kuck      
Juli 2017

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