Gould, Stephen Jay: Ein Dinosaurier im Heuhaufen - Streifzüge
durch die Naturgeschichte. 604 Seiten, S.Fischer Verlag, Frankfurt/Main
2000, ISBN 3-10-027808-9
Der amerikanische Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould bezeichnet sich
selbst als "Essaymaschine". Seit über 20 Jahren schreibt er Monat
für Monat einen interessanten, meist mit einer Prise Humor gewürzten
Aufsatz über die verschlungenen Wege der Paläontologie und der
Evolutionstheorie. Wie schon in früheren Sammelbänden ("Der Daumen
des Pandas" 1989; "Bravo, Brontsaurus" 1994) zeigt sich der Wissenschaftler
von der Harvard Universität in seinem nunmehr siebten Band als glänzender
Erzähler, der seine Leser in den Bann zu schlagen vermag.
Sein an Montaigne geschulter Stil besteht darin, Details aus dem Alltagsleben
mit der Wissenschaft von den versteinerten Pflanzen und Tieren und der
sich ständig weiterentwickelnden Evolutionstheorie zu verknüpfen.
Er beginnt mit einem verblüffenden Detail oder einem persönlichen
Erlebnis, das er in einen größeren und allgemeinen Zusammenhang
stellt und mit lehrreichen Kenntnissen koppelt. Den berühmten Ausspruch
des britischen Darwinisten Haldane, Gott habe eine besondere Vorliebe für
Käfer, verknüpft Gould mit der Erörterung, wie viele Arten
es auf der Erde wohl gibt. "Jurassic Park", ein erfolgreicher, erstaunlich
blutrünstiger Film, bietet den Ausgangspunkt für eine Diskussion
darüber, ob die Reproduktion eines Dinosauriers aus alter DNA möglich
ist.
Wie schon aus früheren Bänden gewohnt, findet Gould einen
besonderen Genuß darin, zähe Legenden aus dem Bereich der Naturgeschichte
zu zerpflücken. In seiner neuesten Essaysammlung "Ein Dinosaurier
im Heuhaufen" belegt er, dass die maßgeblichen Wissenschaftler im
Mittelalter keineswegs der Ansicht waren, die Erde sei eine Scheibe. Ausführlich
beschäftigt er sich mit neueren Ausgrabungsfunden, deren Bedeutung
er auch für Laien nachvollziehbar einordnet. Aus der Dynamik der Forschung
ergibt sich ganz automatisch geistige Anregung. Natürlich prügelt
er wieder lustvoll auf die Mitleid erregenden Kreationisten ein, die die
Schöpfungsgeschichte der Bibel wörtlich nehmen. Fehler wie die
Eugenik (die falsche Ideologie der Konservativen) oder die der Kreationisten,
so groß sie auch sein mögen, sind für ihn nicht dümmlich
und peinlich, sondern vielschichtig und lehrreich.
Zu Goulds Hauptthesen gehört die der langen Stetigkeit der Existenz
von Spezies, die durch einige erdgeschichtliche, jähe Katastrophen
andere Richtungen nahmen. Der Titel spielt an auf die erneute Grabung nach
Dinosaurierskeletten, die zum Ergebnis hatte, dass der Zeitabschnitt des
Niedergangs der Echsen mit fünf Millionen Jahre wesentlich kürzer
war als bislang angenommen. "Dinosaurier" sollte ein Wort des Lobes sein.
Sie herrschten über 100 Millionen Jahre lang und starben nicht wegen
ihrer eigenen Fehler aus; der Homo sapiens ist noch nicht annähernd
eine Million Jahre alt und hat - ausschließlich durch eigene Schuld
- nur sehr beschränkte Aussichten auf eine lange Lebensdauer in der
Erdgeschichte (70). "Menschen sind nicht das Endergebnis eines vorhersehbaren
Evolutionsfortschritts, sondern ein zufälliger kosmischer Nachzügler,
ein winzig kleiner Zweig an dem unglaublich üppigen Busch des Lebens,
der, würde er ein zweites Mal aus dem Samen heranwachsen, mit ziemlicher
Sicherheit nicht noch einmal diesen Zweig oder überhaupt einen Zweig
mit einer Eigenschaft, die wir Bewußtsein nennen könnten, hervorbringen
würde." (426)
Die Meinung von einem steten Wandel hin zu komplexeren Organismen ist
für Gould "die tiefgreifendste falsche Vorstellung, die ein Publikum
aus intelligenten, gebildeten Laien über die Geschichte des Lebens
hegt" (S.179). Der Mensch, betont Gould, ist das unwahrscheinliche Produkt
einiger globaler Katastrophen und keineswegs Höhepunkt einer steten
Entwicklung des Lebendigen mit dem Ziel der Vollkommenheit. Die Stabilität
von Spezien ist während der meisten Zeit das Normale und der entwicklungsgeschichtliche
Wandel ist ein relativ schneller Vorgang, der geprägt ist von wirksamen
Zufallskräften.
Unklar blieb mir, was die "Einheit" der natürlichen Selektion ist.
Darwins Theorie handelt laut Gould von Vorteilen, die den Individuen und
ausdrücklich nicht den Spezies zugute kommen (428). Darwins Mechanismus
beruht auf dem höheren Fortpflanzungserfolg von Individuen, die zufällig
bestimmte Eigenschaften besitzen, deshalb in einer zufällig sich wandelnden
Umgebung besser zurechtkommen und mehr überlebende Nachkommen hinterlassen
(429). Einige Seiten später jedoch stellt er unmißverständlich
fest, "auch Gene und Arten sind darwinistische Individuen, und die Selektion
kann auch auf diese größeren und kleineren Gebilde wirken."
Die Evolution wirke häufig gleichzeitig auf mehrere Ebenen, "auf Gene
und Zellinien 'unterhalb' der Lebewesen ebenso wie auf die Populationen
und Arten 'darüber'" (446). Die Auflösung des Rätsels liegt
offenbar in der Definition dessen, was eine "Einheit" ist: Sie liegen auf
verschiedenen Ebenen der Hierarchie des Lebendigen.
An Gould fasziniert mich ein unverbrüchliches Engagement für
rationales Denken und der Kampf gegen den biologischen Determinismus. Das
ist nicht einfach so daher gesagt. Schlechte, vorurteilsbeladene Argumente
können schlimme, ja sogar tödliche Folgen haben. Gould arbeitet
dies am Beispiel eugenischer Argumente zugunsten des Rauchens heraus; angeblich
soll das Rauchen die Stärkeren überleben lassen und damit einen
Beitrag zur genetischen Verbesserung eines Volkes leisten. Noch brutaler
war die negative Eugenik der Nazis, die auch dem letzten freundlichen Eugeniker
die Augen darüber öffnen sollte, zu welchem Mißbrauch diese
Theorie fähig ist. Wachsamkeit ist nötig, wenn die Schändung
der Evolutionstheorie eine wirkliche Bedrohung darstellt, und Demut ist
nötig, um anzuerkennen, dass Naturwissenschaft keine Antwort auf ethische
Fragen gibt und prinzipiell dazu auch nicht in der Lage ist (416). Für
Gould steht außer Frage, dass Gene sowohl die Konstitution als auch
Verhalten beeinflußen. Nur Aufklärung kann uns auf unsere wahre
Größe stutzen. Die Anerkennung der Biologie zerschmettert den
süßlichen Glauben an die göttliche Einzigartigkeit des
Menschen, macht uns aber frei für die wahre entwicklungsgeschichtliche
Besonderheit: für den menschlichen Geist.
Warum sollte ein Psychologe dieses Buch lesen? Nicht nur weil Gould
hervorhebt, dass "Frankenstein" von Mary Shelley ein zutiefst psychologischer
Roman ist, dessen Anliegen durch die Verfilmungen geradezu ins Gegenteil
verkehrt wurden. Vielmehr sollte jeder gebildete Mensch die wissenschaftlichen
und politischen Verwicklungen verstehen, die unser Leben durchziehen, um
an der Überwindung seiner eigenen Beschränkung und Engstirnigkeit
mitzuarbeiten. Wissenschaftler sollten bereit sein, anerkannte Meinungen
angesichts unbequemer Befunde zu ändern, sich hingebungsvoll der Erstellung
und Veröffentlichung möglichst guter und ehrlicher Berichte zu
widmen und ihre Kollegen nicht nach der Macht ihrer Stellung, sondern nach
der Kraft ihrer Argumente zu beurteilen (353/4).
Gould ist ein lustiger, inzwischen 60jähriger älterer Herr,
mit funkelnden Schweinsäuglein, einem runden Gesicht, das von den
Wonnen guten Essens zeugt, und einem kleinen, inzwischen grauen Oberlippenbärtchen.
Er kündigt an, dass er nach mehr als zwei Jahrzehnten das Essayschreiben
an den Nagel hängen wird; die Jahrtausendwende scheine ihm dafür
ein geeigneter Zeitpunkt, und für einen Wissenschaftler wie Gould
beginnt das neue Millennium natürlich am 1.1.2001. "Der Dinosaurier
im Heuhaufen" wird für deutsche Leser noch nicht der letzte Band der
Reihe sein, zwei weitere werden folgen, auf die sich all jene freuen dürfen,
die intelligente Unterhaltung ebenso zu schätzen wissen wie intellektuelle
Redlichkeit, selbstbewußte Bescheidenheit gegenüber der Natur
und einen geistreichen Stil.
Gerald Mackenthun, Berlin
September 2000
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