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Gabriel, Markus: Der Sinn des Denkens. Ullstein 2018, 267 Seiten


Der Titel macht stutzig: Ist dies ein Buch, dass sich mit der Denkfaulheit oder gar der Dummheit befasst, wie sie uns heute überall und besonders bei Facebook und Co. begegnen oder Pegida und den Neonazis? Ein Plädoyer, selber zu denken? Durchaus, aber doch eher am Rande. Das vorliegende Buch ist das dritte einer Trilogie (Warum es die Welt nicht gibt; Ich ist nicht Gehirn) und sehr ambitioniert. Gabriel begründet in seiner auch für Laien gut lesbaren Weise seine Hypothese, dass es sich bei dem Phänomen des Denkens um einen eigenen Sinn handelt, einem sechsten Sinn, neben Sehen, Riechen, Schmecken, Hören und Tasten. Zugleich wendet er sich gegen die heute gängige Behauptung, es handle sich beim Denken um eine bloße Informationsverarbeitung.

„Der Mensch ist das Tier, das keines sein will“ (17), Gabriels erster „anthropologischer Hauptsatz“. Noch heute begreift sich so manch einer als die Krone der Schöpfung und die Gattung tut einiges, um das Tierische zu leugnen bis hin zur Auslöschung anderen Lebens auf diesem Planeten und der damit verbundenen Illusion, den Menschen zu überwinden, den Übermensch durch die Kombination mit technischen Teilen zu schaffen. Die sogenannte Künstliche Intelligenz soll es richten, wobei bislang nicht zu sehen ist, dass dabei etwas Gescheites oder gar Hilfreiches zustande kommt. Die Sorge, dass irgendwann diese Künstliche Intelligenz die Herrschaft übernehmen wird, hält Gabriel für unwahrscheinlich: Computer werden niemals wirklich denken können und die Wahrscheinlichkeit, dass sie Bewusstsein erlangen ist Null.

Das ist unter anderem deshalb so, weil Maschinen keine biologische Basis haben und keine gelebte Geschichte. Am amüsanten Beispiel, der Bestellung eines Wiener Schnitzels, wird schnell deutlich, was gemeint ist. Ginge es um bloße Information, dann müsste fran „Wiener Schnitzel“ in seinen Merkmalen eindeutig definieren – was nicht gelingen wird. Das brauchen wir aber auch nicht, da wir über einen background verfügen, den wir uns in aktiver Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit der soziokulturellen Erfahrung und unseres biologischen Grundes erworben haben, unsere „Lebenswelt“ (Husserl).

Menschen verstehen sprachliche Äußerungen stets in einem Kontext, den sie nicht selber sprachlich analysieren können und müssen, um zu begreifen, worum es geht. Das kann eine K.I. [Künstliche Intelligenz, BK] nicht selber leisten, sondern immer nur aus Daten er­schließen, die bereits von Menschen vorverarbeitet wurden. Wie sollte auch eine Datenverar­beitung, die keinerlei Überlebensinteresse oder überhaupt Interesse an unserer menschlichen Lebensform hat, ihre Umgebung so wahrnehmen wie wir (160)?

Der zweite anthropologische Hauptsatz verteidigt die geistige Freiheit des Menschen. Die Entdeckung unseres Mensch*inseins* auf der Basis moralischer Werte gibt uns die Orientierung für unser Handeln. D.h. u.a., dass wir in der Lage sind, unser Mensch*innenbild zu verändern, je nach dem Stand unserer Denkbemühungen. Es ist eben nicht so, dass das, was wir als Wirklichkeit bezeichnen eine Illusion darstellt, die uns unsere Sinne vorgaukeln. Auch „konstruieren“ wir uns nicht die Wirklichkeit, vielmehr schreiten wir von Irrtum zu Irrtum voran, denn natürlich können wir uns über die Wirklichkeit täuschen. „Der Konstruktivismus [jedoch] ist falsch“ (64).

Wenn unser Denken ein Sinn ist, dann ist er evolutionsbiologisch geworden, führt uns zugleich über unsere leibliche Existenz hinaus und lässt uns das Unendliche ausspähen und u.a. mathematisch darstellen. Er ist unser „Nooskop“ (der Sinn, mit dem wir das Unendliche ausspähen) (197). Dabei stehen wir nicht außerhalb der „Gegenstände“, wir sind nicht in dem Sinne Subjekt, dass wir vom höheren Standpunkt auf die Dinge schauen. Die Subjekt-Objekt-Spaltung ist der Grundirrtum der Erkenntnistheorie; sind wir doch immer schon Teil der Wirklichkeit. Objektivität besteht darin, dass wir mittels unserer Sinne (hier besonders dem Denksinn) die Subjektivität nicht etwa subtrahieren, sondern dass wir mittels des Denksinns einen Gegenstand des Denkens treffen oder verfehlen können. Die Behauptung, etwas sei objektiv, verleugnet, dass Objekt und Subjekt nicht zu trennen sind. Das führt dazu, das Algorithmen etwa für objektiv gelten und dabei nicht berücksichtigt wird, dass sie ja von wertenden Subjekten programmiert wurden. Gleiches gilt für naturwissenschaftliche Befunde, etwa in der Hirnforschung, die ja immer einer Interpretation durch Subjekte unterliegen. Die Gefahr der sogenannten Künstlichen Intelligenz für die Menschheit besteht gerade darin, dass

„sie uns implizit die Wertesysteme ihrer menschlichen Schöpfer empfehlen, ohne diese Empfehlung transparent zu machen. Das Silicon Valley verfolgt eine Ethik, ein Bild davon, wie wir leben sollen, und programmiert in diesem Sinne eine künstliche Wirklichkeit, die als wertneutrale Berechnung von Mustern auftritt, die angeblich in großen Datensätzen erkennbar sind. Muster, nach denen niemand fragt, können auch in den allergrößten Datensätzen nicht entdeckt werden“ (118).

Die Hybris des Menschen hat ihn etwa dazu geführt, Denken an Sprache zu binden und so seine exponierte Sonderstellung im Tierreich zu untermauern. Das widerspricht allerdings der Evolution. Vor der Sprache waren die Bilder und noch heute malen wir uns bildhaft Szenen aus. „Die Bilder, in denen wir denken, können ebenso Gedanken (etwas, das wahr oder falsch sein kann) ausdrücken wie Sätze“ (44). Sicherlich ist Sprache ein Vermögen, dass es uns ermöglicht vieles zu präzisieren. Oft genug haben Bilder jedoch eine Evidenz, in der wir einen Sachverhalt sofort verstehen – oder missverstehen, für den wir sehr viele Worte machen müssten, um ihn zu vermitteln. Und wie oft widerspricht die Szene, die zwei Menschen gestalten, den Worten der Beteiligten?

Grundsätzlich problematisch sieht Gabriel den Versuch, Bewusstsein naturalistisch, etwa durch den Rückgriff auf Neuronen und Protonen erklären zu wollen. Es stellen sich dann weitere Fragen: Liegt Bewusstsein nur bei Säugetieren vor? Nur bei Lebewesen mit bestimmten Nervensystemen oder auch bei Pflanzen? Wenn Bienen und Pflanzen Bewusstsein haben, wie steht es dann mit Bakterien? Hat unser Darmtrakt auch Bewusstsein und können wir es nur nicht wahrnehmen, weil wir nur Hirnbewusstsein erleben? Und fragt sich dann das Darmbewusstsein, ob das Hirn wohl auch über Bewusstsein verfügt (212)?

Es ist mir nicht leicht möglich, den komplexen Inhalt wiederzugeben. Aber lohnend ist die Lektüre allemal, auch und gerade für philosophische Laien, auch und gerade für Psychotherapeuten. Denn ohne erkenntniskritische Überlegungen, ohne die kritische Reflexion des eigenen Welt- und Mensch*innenbildes wird fran möglicherweise zum Anwender der falschen Methode oder gar zur „sprechenden Attrappe“ (Tilmann Moser).

*Hier experimentiere ich mit einer konsequenteren Berücksichtigung aller Geschlechter

Bernd Kuck      
November 2018

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