Fellay, Gerda:
La
Conception de l’éducation de Friedrich Liebling
(1893-1982),
Verlag Peter Lang SA, Editions scientifiques
européennes, Bern, Berlin, Frankfurt/M., New York, Paris,
Wien,1997, 2 Bde, 398 und 430 Seiten.
Friedrich
Liebling gilt als der Schöpfer der Großgruppentherapie,
die er ab 1952 in Zürich entwickelt und praktiziert hat. Gerda
Fellay war Schülerin dieses großen Seelenarztes und
Pädagogen, dessen Arbeit sie von 1961 bis zu seinem Tod 1982
aus nächster Nähe verfolgen konnte. Der vorliegende Text,
Resultat ihrer Dissertation von 1995 an der Universität von
Neuchâtel, bezeugt ihren Respekt für einen vorbildlichen
und geistvollen Menschen, dessen Leben und Wirken von den
Humanwissenschaften bisher noch kaum zur Kenntnis genommen wurde.
Nach
einem umfangreichen und sorgfältig recherchierten biographischen
Teil von 50 Seiten setzt sich Fellay mit Lieblings Denken und Wirken
als Psychotherapeut und Erzieher auseinander.
1893
am Rande des alten Österreich geboren, wollte er als junger
Mann in Wien Medizin studieren. Das wurde aber durch den ersten
Weltkrieg vereitelt. Die Greuel des Krieges machten aus dem anfangs
Freiwilligen einen entschiedenen Pazifisten, der sich nach Kriegsende
sozialistischen und humanistischen Kreisen in Wien anschloss. Dort
traf er auch auf Alfred Adler, der zu seinem Lehrer und Vorbild wurde
und der ihm eine Ausbildung zum Psychotherapeuten ermöglichte.
1938
zwangen ihn die politischen Umstände, mit seiner Familie in die
Schweiz zu emigrieren. Dort hatte er zwar ein Bleiberecht, durfte
aber bis 1952 keiner Arbeit nachgehen. Er nutzte die Jahre für
umfängliche Studien in allen Bereichen der Humanwissenschaften
und publizierte als Journalist zahlreiche Artikel zu psychologischen,
philosophischen und politischen Themen, immer unter Verwendung eines
Pseudonyms.
Fellay
interessiert sich besonders für Lieblings Züricher Periode
als Tiefenpsychologe und als Pädagoge, beginnend in den
fünfziger Jahren bis zu seinem Tod 1982, um die Entwicklung
seines Denkens nachzuvollziehen. Sie referiert zunächst sein
Verständnis von Freud, Adler und Jung und erläutert, was
Liebling von ihnen für sein Erziehungskonzept übernommen
hat. Daran schließt sie an: Lieblings Bewertung der Frankfurter
Schule, der Neopsychoanalyse, des libertären Sozialismus,
vertreten durch Max Stirner und Pierre Ramus, der libertären
Pädagogik, vertreten durch Paul Robin, Sebastian Faure und
Francisco Ferrer. Es folgen die Kapitel über Lieblings
Menschenbild und seine Weltsicht. Sein Erziehungskonzept beendet den
ersten Band. Der zweite enthält eine umfassende Bibliographie
der Veröffentlichungen Lieblings und zwei biographische Skizzen,
verfasst von Josef Rattner, seinem engsten Mitarbeiter.
Die
Autorin schreibt flüssig, klar und mit großer
Objektivität, ohne jedoch ihren Respekt für das bedeutende
Lebenswerk und die Persönlichkeit Lieblings zu verbergen. Seine
Grundgedanken fasst sie wie folgt zusammen:
Nur
eine gewaltfreie und libertäre Erziehung kann echte
humanistische Kultur entstehen lassen. Sie muss auf einer Vision von
Wissenschaft aufbauen, die der vitalen Sicherheit aller Menschen als
Werkzeug dient. Eine so verstandene Wissenschaft macht es unmöglich,
das konkrete Individuum aus den Augen zu verlieren.
Die
humanistische Ethik, die den Menschen ins Zentrum ihres Denkens
stellt, hat eine lange Tradition, deren materialistischer und
vernunftmäßiger Seite sich Liebling angeschlossen hat.
Sein
Menschenbild und sein Erziehungskonzept basieren auf Darwins und
Kropotkins Evolutionstheorie, auf den soziologischen Theorien von
Marx und Stirner, auf Feuerbachs Religionskritik und auf den
tiefenpsychologischen Theorien von Freud und Adler. Der Mensch
besitze heute den Schlüssel zur eigenen Seele, um sein
Gesellschaftsleben gerecht und friedlich zu organisieren. Für
dieses Ziel müssten aber die Verantwortlichen in den Heilberufen
und den Humanwissenschaften die Prinzipien der autoritären
Erziehung und ihrer negativen Folgen tiefgründig studieren.
Jegliche wissenschaftliche oder soziale Bemühung ist vergebens,
solange die Kinder nicht ohne Zwang und ohne Gewalt erzogen werden.
Erziehung ist nach Liebling die wichtigste und vornehmste Aufgabe der
Menschheit, der sich jeder Intellektuelle mit vollem Engagement
widmen soll.
Die
Arbeit Gerda Fellays dürfte für jeden Psychotherapeuten,
Pädagogen und historisch Interessierten ein Gewinn sein. Es wäre
schön, wenn der Verlag dieser geistreichen und verdienstvollen
Studie bald eine deutsche Übersetzung folgen lassen könnte.
Dipl.-Psych.
Klaus Hölzer, Oktober 2007
© PPFI, B. Kuck
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