Brett, Lily: Zu viele Männer. Suhrkamp Taschenbuch, 2002,
655 Seiten, 12,- Euro
„Zu viele Männer“ ist ein in weiten Strecken
autobiografischer Roman, der zum Schluss hätte
in eine Schmonze abgleiten können, was die Autorin dem Leser jedoch klug
erspart und einiges offen läßt. Ruth Rothwax, Jüdin und Tochter zweier
Ausschwitz-Überlebender, in Aus-tralien aufgewachsen und in New York lebend als
emanzipierte, erfolgreiche, neurotische und auf ihre Figur wie auf ihre Selbständigkeit
achtende Frau, begibt sich mit ihrem 81-jährigen verwitweten Vater für eine
Woche nach Polen – auf Spurensuche. Warschau, Lodz, Krakau und Ausschwitz sind
die Stationen ihrer Reise. Einer Reise, die den beiden ein unbeschreibliches Maß
an Kräften abverlangt und durch Abgründe führt, die ebenfalls den Leser
zutiefst erschüttern. Er muss mit.
Unter anderem wird die Protagonistin von eigenen
Imaginationen überfallen, die sie zu zerstören drohen, dann aber mehr und mehr
als eigene Ressource genutzt werden können. Nachdem sie zunächst die Stimme
von Rudolf Höß, dem Lagerkommandanten von Ausschwitz, überrumpelt und in
hilflose Verzweiflung treibt, ist sie schließlich diejenige, die am Ende ihrer
einwöchigen Polenreise, ihn noch einmal seine Qual des Gehängtwerdens
durchleiden lässt – unerlöst, im „zweiten Himmelslager“, einer Abteilung
der Hölle. Zwischen dem ersten Auftauchen dieser Person und deren nochmaligem
Ende, liegt eine qualvolle Woche der Begegnungen mit der ausgelöschten Familie,
mit gleichgültigen, schuldigen und antisemitischen Menschen auf den Straßen
Polens.
Nebenbei erfährt man einiges aus dem New Yorker Leben der
Protagonistin, von ihrer Abscheu, ihren
Ängsten und Vorlieben. Einerseits erfrischend und allzumenschlich, aber auch
gleichzeitig das innere Drama der Ruth Rothwax aufzeigend. Die Streitereien und
Reibereien zwischen Vater und Tochter, sind Beispiele ihrer Zuneigung füreinander
sowie ihrer inneren Not und bringen einen feinen Humor in das Geschehen, der die
Dramatik des Themas nicht verdeckt, sondern das Leben zulässt. Die Geschichte
wird zu einem Ende gebracht, das man „gut“ nennen könnte, wenn dieses Wort
denn passend wäre.
Noch kurz vor dem Rückflug gelingt es dem Vater, nach
einer ungewöhnlichen und überraschenden Begegnung, ein tief vergrabenes,
schmerzvolles Familiengeheimnis zu lüften. Damit verhilft er der Tochter, zu
einem weiteren Puzzleteilchen für das Verstehen des eigenen Werdens.
Ingritt Sachse
April 2003
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Zu viele Männer