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Beyer Andreas: Künstler, Leib und Eigensinn. Die vergessene Signatur des Lebens in der Kunst. 329 Seiten, Wagenbach Verlag


Die Dominanz des Geistes, des Denkens, wie sie seit Descartes in die Weltsicht eingeflossen ist, hat auch vor der Kunst nicht Halt gemacht. Diesen Verlust des Leibes in seiner Bedeutung für den Schaffensprozess untersucht der Autor. Dabei sollen die anderen Einflüsse, die von Außen, aus der Zeit und von anderen Künstler:innen für die Individualität und den Schaffensprozess bedeutsam sind, nicht verleugnet werden. Vielmehr soll ermittelt werden, wie sehr die Individualität,

»wie sehr das Künstler-Ich, wie stark dessen Physis und Psyche, Leib und Seele bei ihr [der Individualität, BK] mitwirken, wie viel an Eigenem dabei jeweils am Werk ist« (S. 9).

Im Zentrum steht nicht das Biographische, sondern der physische Leib ders Künstler:in. In modernen Ausstellungsstücken, etwa in Tracey Emin, »My Bed«, 1998, zeigt die Künstlerin ihr zerwühltes Bett, das sie mehrere Tage nicht verlassen hat, verfangen in einer tiefen Depression. Im Abdruck in den Laken, die weitere Spuren der Künstlerin (Menstruationsblut und andere Sekrete) enthalten, hat gleichsam der physische Leib seine Spuren hinterlassen, zeigt sich zugleich in der Installation die Gesamtverfasstheit der Künstlerin in den Tagen der Depression.
Die Trennung zwischen Leib und Seele, die den physischen Leib zur bloßen Aufbewahrung der Seele degradierte, ist erst in der Phänomenologie wieder aufgehoben worden, wodurch »die strikte Unterscheidung von kreativem Prozess und Werk, von Produktion und Rezeption relativiert« wurde (S. 13).
So wundert es nicht, wenn Beyer auf Merleau-Ponty Bezug nimmt, um seine These zu unterstreichen.

»Und es ist überhaupt das Bewusstsein dafür gewachsen, dass das Geistige aus der Interaktion von Körper und Welt entsteht, wofür „Leiblichkeit“ die treffende Umschreibung darstellt, weil sie „eine bestimmte Betrachtungsweise des körperlichen Wesens Mensch [bezeichnet], die von seiner elementaren Bezogenheit auf die Welt ausgeht, in der zwischen ‚Körperlichem‘ und ‚Geistigem‘ keine scharfe Grenze gezogen werden kann« (ebd.; das Zitat stammt aus Christian Grüny (Hg.), Ränder der Darstellung: Leiblichkeit in den Künsten, Weilerswist 2015), könnte aber auch von Merleau-Ponty stammen).

Beyer befasst sich im Folgenden hauptsächlich mit den Künstlern der Renaissance. U.a. nimmt er Bezug auf die frühen Lebensbeschreibungen der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Architekten (1550/1568) von Giorgio Vasari [z.B. bei Manesse, Lebensläufe, 1974); ein lesenswerter Text. Gerade in der Renaissance wurde der physische Leib als »Instrument« im Schaffensprozess eingesetzt. Albrecht Dürer hat sich allerdings gerade mit der Eliminierung persönlicher Einflüsse auf den Stil befasst. Bekannt ist sein Kupferstich Der Zeichner des liegenden Weibes, zwischen 1512 und 1525,

Dürer, Der Zeichner des liegenden Weibes

Schaubild 1: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:D%C3%BCrer,_Albrecht_-_Der_Zeichner_des_liegenden_Weibes,_1512%E2%80%931525.

womit er die Proportionen in einem objektivierenden Stil und zur Underweysung der Messung mit dem Zirckel und Richtscheyt darstellte. Darin sei Dürer auch von Leonardo da Vinci beeinflusst, der ebenfalls auf eine idealtypische »allgemeinverbindliche Formensprache abzielte« (S. 47).

»Wolfgang Brückle jedenfalls hat es schlüssig auf den Punkt gebracht: „mit Dürers und Leonardos Studien zur Proportion des Körper liegen nicht Geburtshilfen für den Individualstil vor, sondern Maßnahmen zur Verhinderung unerwünschter Persönlichkeitsentfaltung im Stil“« (ebd.).

Ansonsten gibt es in Aufzeichnungen viele Hinweise auf die physisch leibliche Verfasstheit des Künstlers. In Dürers Tagebuch etwa ist dokumentiert, wer ihm Wein geschenkt hat und wie viel er getrunken hat. Immerhin 2 Liter/Tag, was auch daraus verständlich wird, dass der Alkoholgehalt nicht so hoch war (10 Vol.) und der Wein wegen des oft verunreinigten Wassers bevorzugt wurde. Bei anderen Künstlern werden die gelingenden oder misslingenden Leibesausscheidungen beschrieben, sowie diätetische Vornahmen, um die Arbeitsfähigkeit zu erhalten. Pontormo jedenfalls protokollierte penibel seine leibesphysiologischen Erscheinungen, die ihn mal mehr, mal weniger an der Arbeit hinderten.

»In dessen pathologischer Betrachtung jedenfalls sieht Philip Sohm die unausgesetzte Konzentration des Malers auf seine Darmaktivitäten während der Ausführung der Fresken mit Szenen der Sintflut und der Auferstehung der Toten in der unteren Zone der Wandfelder in San Lorenzo […] kongruieren, deren ineinander verschlungene Körper und auffällige Hervorhebung der Gesäßhälften ihn von „intestinalen Kompositionen“ sprechen lassen; [...]« (S. 138 f).

Michelangelo stilisierte sich zum Asketen, worin er eine tugendhafte Lebensführung in Einfachheit zum Ausdruck brachte. Gleichwohl war er kein Kostverächter, ließ sich von seinem Neffen regelmäßig mit heimischen Delikatessen versorgen.

Die Vorgeschichte des modernen Künstlers schließt die leibliche Selbstkonstitution mit ein. Die Bewusstwerdung des leiblichen Seins in all seinen Ausprägungen »bis hin zu dessen Auslöschung« wird in ihrer wesentlichen Bedingtheit für die schöpferische Individualität erkennbar dargestellt.

»Die Konzentration lag dabei auf der Frühen Neuzeit, einer Epochenschwelle, die in Hinsicht auf diese künstlerische Verwirklichung entscheidende Weichen stellt; mit ihr erst wird der Künstler zur Verkörperung dessen bestimmt, was ein Mensch aus sich heraus zu schaffen vermag« (S. 247).

Dies alles wird in einem wunderbaren Erzählstil vorgetragen, der durch die Masse an Belegen nicht beeinträchtigt wird, zumal ein Großteil in den umfangreichen Anhang verlegt wurde.

Bernd Kuck      
Oktober 2023

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Künstler - Leib - Eigensinn

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