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Berkel I. (Hg.): Postsexualität. Zur Transformation des Begehrens. 195 S., Psychosozial Verlag, Gießen. 20091


Die unerträgliche Leichtigkeit der sexuellen Begehrlichkeit. So oder ähnlich könnte man die postmoderne »Postsexualität« bezeichnen. Dieser Sammelband zum Thema der Transformation des Begehrens geht zurück auf einen interdisziplinären Workshop an der Universität der Künste in Berlin – in Zusammenarbeit mit dem sozialwissenschaftlichen Centre Marc Bloch und dem DFG-Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie« der Berliner Humboldt-Universität. Postsexualität bezieht sich nicht auf ein Ende der Sexualität oder der sexuellen Begierde, sondern auf das zunehmende Auseinanderfallen und die Verselbstständigung von Sexualität und Fortpflanzung im Sinne von generativer Heterosexualität. Die Beiträge befassen sich mit dem Wandel der Sexualität, der Sexualisierung des öffentlichen Raumes, mit neuen Reproduktionstechniken und mit dem Phänomen der Ent-Sexualisierung. Der Schwerpunkt liegt auf der Frage nach den Auswirkungen dieses Wandels auf Gesellschaftsstrukturen, Paarbeziehungen und den Menschen als begehrendes Subjekt.

Der Begriff Postsexualität umschreibt die Auflösung der bisherigen gesellschaftstragenden patriarchalen Grundordnung in der Folge von drei Hauptentwicklungen: Erstens die Enttabuisierung der Sexualität im ausgehenden 20. Jahrhundert, die mit einer durchdringenden Sexualisierung des öffentlichen Raums einhergeht. Zweitens, damit zusammenhängend, das Anerkennen in der breiten Öffentlichkeit von verschiedenen Formen sogenannter Neo-Sexualitäten: Bisher verdrängte, verpönte, gar kriminalisierte Formen sexueller Betätigung werden von Fach- und populären Medien aufgegriffen, offen diskutiert und zeitweilig zum Medienevent vermarktet: Homo-, Bi-, Trans-Sexualitäten, Sadomasochismus, Fetischismus, Internetpornografie, Pädophilie, Geschwisterinzest, sexuelle Gewalt und sexueller Missbrauch. Zu den Neosexualitäten zählt auch eine öffentlich propagierte Asexualität, der freiwillige Verzicht auf jegliche sexuelle Begierde oder Betätigung. Drittens, in der Folge neuerer gen-wissenschaftlicher Erkenntnisse und Reproduktionstechniken – Stichwort »Fortpflanzung unter dem Mikroskop« –, geschieht eine radikale Ablösung der Fortpflanzung von der Sexualität. Besonders dadurch wird die Bedeutung familiärer biologischer Verbundenheit (»Blutsverwandtschaft«) und die daran gebundene Verwandtschaftsordnung grundlegend infrage gestellt. Die elf Beiträge des Buches gruppieren sich um den einen oder anderen Aspekt dieser drei Entwicklungen aus der Sicht von Religions- und Kulturwissenschaften, der Psychologie und Psychoanalyse, aus Biologie und Sexualforschung, Philosophie, Kunst und Filmwissenschaft.

Heutige Kleinfamilien sehen sich durch gesellschaftliche Forderungen von persönlicher, beruflicher und wirtschaftlicher Gleichberechtigung von Frau und Mann, einschließlich der Aufteilung von Kinderbetreuung, Erziehung und Haushaltsarbeit, zunehmend überlastet. Homosexuelle Partner fordern die gesellschaftliche Anerkennung ihrer Rechte auf Eheschließung und die Erziehung von Kindern. Im öffentlichen Raum, etwa in der Werbung mit erotisch-sexuell aufreißerischen Kind-Frauen, herrschen kaum verhüllte inzestuöse Fantasien. Alles deutet darauf hin, dass die herkömmliche Kernfamilie ihren Platz als Grundstein der sozialen Ordnung einbüßt. Die Folgen für das Erleben der Sexualität und des sexuellen Begehrens sind vielfältig: Wir finden heute ein breites Spektrum an Überforderung, sexueller Verweigerung, ja sogar Entsexualisierung privater Lebensformen vor. Umgekehrt gibt es verschiedene Ausprägungen familiärer und sexueller Verwahrlosung und Gewalt. Das Fazit der Entwicklungen der sogenannten Postsexualität: Ein scheinbarer Gewinn durch die Vervielfältigung von gesellschaftlich anerkannten sexuellen Praktiken und Begehrensformen führt letzten Endes im Zuge postmoderner neoliberaler ökonomischer und ideologischer Bedingungen zu einem schmerzlichen Verlust von tragenden Strukturen gesellschaftlicher Verfasstheit und zur Verarmung des Einzelnen. Aus dem reichhaltigen Inhalt des Buches seien folgende Streiflichter ausgewählt:

Jean Clam, französischer Philosoph, Soziologe und Psychologe (»Lässt sich postsexuell begehren?«), stellt eine Pansexualisierung der Kultur fest, die mit einem »Entsexuieren« einhergeht, d.h., mit der biotechnologischen »Ausmerzung« von Sexualität und »Löschung« des sexuellen Begehrens. Anhand der Romane von Michel Houellebecq thematisiert Clam ein Fading (Engl. für Verbleichen) bzw. eine »Weißung« des Sexuellen. Das Sexuelle wird desymbolisiert und verflüchtigt sich zu einem persönlich unverbindlichen Konsumgut: Genussmittel-Sexualität.

Robert Pfaller, Kulturwissenschaftler und Philosoph (»Die narzisstischen Grundlagen aktueller Sexualunlust und Politohnmacht«), stellt Asexualität in den Mittelpunkt gesellschaftspolitischer Überlegungen: »Meine These lautet, dass die heutige Sexualablehnung keine Gegenbewegung auf die Euphorie der sexuellen Befreiung darstellt, sondern vielmehr deren konsequente Fortsetzung. Die Befreiung von der Sexualität ist nicht das Gegenteil, sondern die Wahrheit der Befreiung der Sexualität« (S. 33). Auf die durchdringende Sexualisierung des öffentlichen Raums folgen laut Pfaller Überforderung, Verweigerung und Entsexualisierung privater Lebensformen. Ein kulturell induzierter Narzissmus, »zugleich unlustvoll und pathologisch«, umfasst große Teile von mehreren Generationen westlicher Bevölkerungen. Sex und Begehren sind zur Handelsware auf dem neoliberalen Weltmarkt degradiert worden.

Wolfgang Hegener, Psychoanalytiker (»Die Ambivalenz des Ursprungs«), betrachtet »die endgültig werdende Entkopplung von Sexualität und Fortpflanzung« als grundlegend für die aktuelle neosexuelle Ordnung. Das heterosexuelle Paar, Grundpfeiler der bisherigen sozio-symbolischen Ordnung, wird durch neue Beziehungsformen und »Neosexualitäten« radikal infrage gestellt. Hegener sieht insbesondere männliche Homosexualität im Zuge neuzeitlicher Entpathologisierung und Entkriminalisierung als postmodernen »Prototyp sexueller Normalität«. Lange als Krankheit wider Natur verfolgt, wird sie zunehmend als ein Phänomen gesehen, dessen aktuelle soziale Ausprägung die Merkmale einer »sexuellen Demokratie« verkörpere. Besonders aufschlussreich sind seine Ausführungen zur »Erfindung« der Homosexualität in der Geschichte der Sexualwissenschaft seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Bedauerlicherweise kommt lesbische Sexualität nicht zur Sprache. Hegener betont, dass die Auflösung der Geschlechter- und Generationenordnung nur ganz unkritisch als Akt der Befreiung aus einer patriarchal-heterosexistischen Matrix gesehen werden kann. Zu deren Schattenseiten gehören die Erotisierung und Verdinglichung von Kinder und Jugendlichen im Warenfetischismus, beispielsweise in Werbung und Pornografie.

Christina von Braun, Kulturtheoretikerin (»Postsexualität. Die symbolische Geschlechterordnung in den drei Religionen des Buches«), beleuchtet die Rolle der Sexualität und Reproduktion in den symbolischen Geschlechterordnungen von Judentum, Islam und Christentum. Am vorläufigen Ende eines langen Säkularisierungsprozesses erkennt sie in den postsexuellen Gen- und Reproduktionstechniken ein Fortwirken christlicher Heilsversprechen und mythischer Vorstellungen wie die Jungfrauengeburt.

Ada Borkenhagen, medizinische Psychologin und Psychoanalytikerin (»Elternschaft im Zeitalter der Reprogenetik«) formuliert prägnant die Auflösung der alten Geschlechts- und Gesellschaftsordnung in der postsexuellen Transformation des Begehrens: Ein heutiges Kind könne mit drei Müttern und drei Vätern zur Welt kommen. »Die Aufspaltung von Muttersein in Eizellspenderin, Leihmutter und soziale Mutter, von Vatersein in Zeugungsvater [bzw. Samenspender – RW], Zahlvater und Ziehvater, stellen die Normalität und Natürlichkeit unseres herkömmlichen kulturellen Verständnisses von Geschlecht, von Elternschaft, Familie und Verwandtschaft infrage. Familie und Kernfamilie werden zunehmend nicht mehr als natürliche, selbstverständliche menschliche Beziehungsformen, sondern als Wertbegriffe angesehen, die kulturell geprägte Vorstellungen enthalten« (S. 82).

Bettina Bock von Wülfingen, Biowissenschaftlerin (»Materialisierte Liebe in der postsexuellen Fortpflanzung«) beschäftigt sich mit den neuen Reproduktions- und Gentechnologien. Ähnlich Aldous Huxley beschwört sie eine Vision geschlechtsunabhängiger »platonischen Reproduktion« herauf und stößt dabei auf einen neuartigen »Liebesdiskurs«, in dem der traditionelle Kinderwunsch durch ein »neo-romantisches Konzept der Selektion« abgelöst wird – das sogenannte »Designer-Baby«. Angeblich aus Liebe zum Kind und zum Partner könne durch »genetische Zuchtwahl« versucht werden, dem Kind die bestmögliche genetische Ausstattung beizusteuern. So werden Partnerwahl und Liebe biologisiert! In Anspielung auf Milan Kunderas bekannten Roman könnte man aus diesen Beiträgen folgern, dass es bei der Postsexualität um die unerträgliche Leichtigkeit der sexuellen Begehrlichkeit geht: Einerseits Hypersexualisierung ohne sichere Verankerung in gesellschaftlicher Ordnung und persönlicher Bindung, andererseits Verwahrlosung, Verwirrung, Identitätsdiffusion und der Verlust von Intimität sowie Nähe und drittens Technisierung der Reproduktion bis zum biologischen Selektionsprozess. Was einst im Zuge der 68er als Befreiung, Rausch und Ekstase gefeiert wurde, entpuppt sich zunehmend auch als Unfreiheit, Unbehagen, Gewalt, zeitweilig als tödliche Gefahr (AIDS). »Liebe« im Sinne von Nähe, Zuneigung, Begehrlichkeit, körperliche Vereinigung und Verbindlichkeit droht im Schatten dieser postmodernen »Brave New World« auf der Strecke zu bleiben. Kritisch ist anzumerken, dass der Stellenwert elektronisch-medialer Vermarktung des Begehrens unzureichend diskutiert wird, ebenso wenig der gesellschaftlich weiterbestehende Zwang, Begehren nach herkömmlichen sozialen Normen zu richten und in heterosexuellen Beziehungsformen auszuleben. Dennoch bietet das Werk einen vielfältigen Einblick in die Postmodernität des sexuellen Begehrens.

1 Eine gekürzte Fassung dieser Rezension erschien in »Analytische Psychologie«, Heft 163 (1/2011).

Dr. Robert Ware      
April 2017

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Postsexualität

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