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Rattner, Josef/Danzer, Gerhart: Erziehung zur Persönlichkeit. - Wachsen lernen, sich entwickeln. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2003, 212 Seiten


Es ist nicht gerade häufig, dass ein Text von Josef Rattner gerade zum Zeitgeist passt. Irgendwie steht er immer außerhalb der gerade gängigen Mode. Und wenn alle jammern und klagen, dass es keine rechte Wertorientierung mehr gibt, was dann gerne mit dem Zurückdrängen der christlichen Religion in Zusammenhang gebracht wird, dann sind es nicht zuletzt die Texte von Rattner, die gerade einen Wertekanon aufrecht erhalten, auch ohne christliches Glaubensbekenntnis.

Diesmal ist es die Erziehung, für die der Autor mit all seiner Beredsamkeit eine Lanze bricht (welchen Anteil der Co-Autor hat, ist nicht ersichtlich), darin am ehesten noch mit Hartmut von Hentig in geistiger Verwandtschaft. Gerade wieder passend, um gegen den Strom der Zeit zu schwimmen, was dem Autor immerhin die Gelegenheit gibt, im Eingangskapitel über pädagogischen Nihilismus zu schreiben, wobei er sich - hochaktuell - auf einen Leitartikel der Zeitschrift "Der Spiegel" berufen kann, indem die Erziehung gerade zugunsten der Macht der Gene beerdigt wurde. Im Zeitalter des Gehirns und seiner Erforschung mit modernen bildgebenden Verfahren steht alles neu auf dem Prüfstand. Und doch sind wir an die Zeit des "Physiologischen Schwachsinns des Weibes" ( ) erinnert, in der locker und leicht von der Größe des Gehirns auf dessen Inhalt geschlossen wurde.  Auch die derzeitige Debatte um die Freiheit des menschlichen Willens bezieht ihren Stoff aus der Hirnforschung, die dem Menschen kurzerhand die Willensfreiheit abspricht, was mittels fragwürdiger Experimente "belegt" wird; Experimente von derart armseliger Qualität, die wiederum an die Anfänge der Willensforschung erinnern, in der mittels lächerlichem Lernen sinnloser Silben, die in einem zweiten Durchgang via "Willensentschluss" gerade nicht in der ursprünglich dargebotenen Kombination aufgesagt werden sollten. Es hat sich anscheinend immer noch nicht herumgesprochen, dass die Methodik der sogenannten exakten Wissenschaften sich nicht unbedingt gut dafür eignet, dem menschlichen Dasein auf das Verständnis zu kommen. Die moderne Hirnforschung hat hinsichtlich der menschlichen Werte- und Geisteswelt eigentlich nur ein Nietzschewort bestätigt: "Was ist Seele anderes als irgendetwas am Leibe?"

So kritisiert denn auch Rattner die in "Der Spiegel" (Nr. 47/1998, Eltern ohne Einfluss - Ist Erziehung sinnlos?) angeführte Zwillingsforschung, die gerne für die Vererbungstheorien in Anspruch genommen wird:

"Wenn nämlich vernünftige Kriterien in der Wissenschaft Geltung haben sollen, sind die behaupteten Parallelen im Leben der untersuchten Zwillinge so absurd, dass man die Vernunft verabschieden muss, um sie zu akzeptieren." (14)

Im vorliegenden Text wird folglich ein Erziehungsideal vertreten, in dem die Erziehung des Erziehers erste Voraussetzung ist. Alle Erziehung hat nur einigermaßen eine Chance, wenn die Erzieher auch leben und vorleben, was sie sagen. Und da spielt das Unbewußte eine größere Rolle. Nach wie vor scheitert die Erziehung weniger an der Genetik als vielmehr an dem Umfeld, das den Kindern bereitet wird - näheres und ferneres.  Am Beispiel der Sexualerziehung können wir mit vollziehen, dass zwar die Pornobildchen in unserem Alltag zugenommen haben, dass aber die seelisch-geistige Entwicklung des Menschen sich eher diesen Bildchen angepasst hat, was mit "Sexualerziehung als Sozial- und Selbsterziehung", wofür die Autoren eintreten, wenig zu tun hat.

Einen aktuellen Bezug hat auch das Kapitel "Erziehung zur Kontrolle und Vermeidung von Aggression". An den traurigen Ereignissen an der Erfurter Schule im April 2002 kann wohl kein Buch über Erziehung vorbeigehen. So traurig das Ereignis, so sehr stürzen sich die "Genetiker" drauf, beschränken sich Politiker auf Betroffenheitsäußerungen. Welch große Anstrengungen notwendig sind, kann man dem vorliegenden Text entnehmen, wobei es nicht an einer Kritik der Auffassungen  vom "sogenannten Bösen" in der menschlichen Natur fehlt.

Dem humanistischen Bildungs- und Erziehungsideal verbunden, plädieren die Autoren dafür, den Kindern Ideale zu vermitteln. Aber diese müssen ebenfalls kritisch unter die Lupe genommen werden. Die kriegerischen Ideale der Spartaner scheinen nicht empfehlenswert, kehren sie gleichwohl in den Rambogestalten auf der Leinwand und ihm Hirn eines lebenden Präsidenten wieder. Die Autoren plädieren allerdings eher für das Ideal der Mitmenschlichkeit und solcher, die sich mit diesem vergesellschaften. Mitmenschlichkeit war denn auch in der Lehre Alfred Adlers eine der tragenden Säulen, die den Menschen erst zum Menschen machen.

Vermittelt werden Werte und Ideale einerseits durch konkrete, vorbildhafte Menschen, andererseits durch Literatur. Ob da Harry Potter geeignet ist, kann nach der Lektüre des vorliegenden Kapitels über die Notwendigkeit von Büchern für die Entwicklung der Kinder, bezweifelt werden, zumal in diesem Text an die Tradition der Märchen angeknüpft wird, deren überwiegende Grausamkeit, ihre "Erbschaft einer sadistischen Welt" die Autoren herausheben. Empfehlungen kommen hier jedoch wiederum nur von den Klassikern, wobei konstatiert wird, dass Eltern "überall neuere Publikationen" finden können, allerdings sollten sie genauestens darauf achten, welche Tendenzen und "Gefühlswirkungen" von den Texten ausgehen. Womit wir wieder bei den Erziehern gelandet wären: Wer selbst wenig Gefühlsbildung erfahren hat, der wird sich kaum an dem martialischen und hinterweltlerischen so mancher neuer Produktionen stoßen.

Die Leserin, der Leser werden dennoch nicht allein gelassen. Bezüge zu einer psychoanalytischen Pädagogik und Praxis sowie zur Welt der Bildung und des Geisteslebens weisen einen gangbaren Weg, um sich auf die komplexe und schwierige Aufgabe der Erziehung vorzubereiten - oder nachzubereiten. Da stehen die Autoren aber wieder außerhalb des Zeitgeistes: Einerseits ist es zu anstrengend, andererseits braucht es dazu Zeit, Ruhe und Geduld der Zuwendung.

Das Buch enthält einige Beispiele gelungener Erziehung, (z.B. Georg Christoph Lichtenberg, Charles Darwin, Sigmund Freud, Friedrich Nietzsche, Astrid Lindgren) in denen das Gesagte veranschaulicht, zugleich der große Anspruch deutlich wird.

Es braucht mehr als nur Prämien für die Geburt eines Kindes, fängt doch die eigentliche Aufgabe erst nach der Geburt - nach der "Geworfenheit" an. Nietzsches Worte aus dem "Zarathustra" geben den Tenor des sehr lesenswerten Buches wieder:

"Eurer Kinder Land sollt Ihr lieben: Diese Liebe sei Euer neuer Adel - das Unentdeckte im fernsten Meere! Nach ihm heiße ich Eure Segel suchen und suchen! An Euren Kindern sollt Ihr gut machen, dass Ihr Eurer Väter Kinder seid: Alles Vergangene sollt Ihr so erlösen!

Bernd Kuck, Bonn im Dez.2003

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