Best/Gerlach/Kommer/Orlowski/Wasem/Weidhaas:
Gesundheitsreform 2004.
Bedeutung für die psychotherapeutische Praxis. 81 Seiten, R.v.Deckers
Verlag, Heidelberg 2004
Die Gesundheitsreform 2004 wird in der Öffentlichkeit fast nur als
„Praxisgebühr“ wahrgenommen. Viel Empörung wird mobilisiert für dieses
Detail der Gesundheitsreform, die tatsächlich viel weiterreichende Änderungen
auch für psychologische Psychotherapeuten bereithält. Es wäre gefährlich,
im lautstarken Streit um die Praxisgebühr, die tatsächlich nur eine
technische Kleinigkeit darstellt, die Umwälzungen im Gesundheitswesen der
Bundesrepublik zu übersehen. Die Autoren dieser Broschüre haben in leicht
verständlicher Weise die kommenden Änderungen beschrieben.
So erhalten Patienten die Wahlmöglichkeit der Kostenerstattung, ein
Verfahren, dass vielen Psychotherapeuten schon aus der Zeit vor 1999 bekannt
sein dürfte. Es entbehrt nicht der Ironie, dass damit – neben der
Abrechnung über die KVen - ein Abrechnungsverfahren wieder eingeführt wird,
das seinerzeit als gesetzwidrig eingestuft und abgeschafft wurde. Wie auch
immer, Patienten erhalten die Wahl, an die sie sich ein Jahr lang binden müssen.
Mit der Kostenerstattung soll das Kostenbewusstsein der Patienten gestärkt
werden. Sie erhalten eine Rechnung, zahlen diese und holen sich das Geld von
ihrer Kasse zurück. Doch Vorsicht! Die Kassen werden nicht alles zahlen, die
Zuzahlung des Patienten wird höher sein als im „Sachleistungsprinzip“, da
die Kostenerstattung – wie eine Autoteilkaskoversicherung - an eine
Selbstbeteiligung gekoppelt ist. 1997, unter Kanzler Kohl, war der
Selbstbehalt eingeführt worden, 1998 wurde dieser von der SPD wieder
gestrichen, und 2004 wird er von SPD/Grüne mit den Stimmen der CDU wieder
eingeführt, allerdings nur für die freiwillig Versicherten. Die Gesetzlichen
Kassen dürfen mit Boni- und Beitragsrückzahlungsmodellen arbeiten. Die
Gesetzliche Krankenversorgung ist eine ziemlich ideologische Veranstaltung.
Neu: In Ausnahmefällen können nach Genehmigung durch die Krankenkasse
auch nicht KV-zugelassene Psychotherapeuten von Patienten in Anspruch genommen
werden. Voraussetzung ist der Eintrag des Therapeuten ins Arztregister und
eine Behandlung gemäß den Psychotherapierichtlinien. Diese Regelung könnte
für Therapeuten bedeuten, dass sie auch in gesperrten Bezirken tätig werden
können, sofern von potenziellen Patienten Bedarf angemeldet wird, also eine
Schlecht- oder Unterversorgung vorliegt und festgestellt wird. In
unterversorgten Gebieten wird die Residenzpflicht gelockert; man muss nicht
mehr ganz in der Nähe des Praxissitzes wohnen.
Zur Förderung der ärztlichen Zusammenarbeit und zur Verbesserung des
medizinischen Angebots können jetzt leichter medizinische Versorgungszentren
gegründet werden, die auch angestellte Ärzte (und Psychologen) beschäftigen
dürfen Hier kehrt das alte Poliklinik-Modell der DDR in modernem Gewande zurück.
Die KVen hatten nach der Wende in aggressiver marktwirtschaftlicher Manier die
Polikliniken torpediert und die Ärzte in die freie Niederlassung mehr oder
weniger hineingezwungen. Die Zerschlagung der Polikliniken wurde beklagt, aber
nicht gestoppt. Diese Fehlentwicklung soll jetzt korrigiert werden.
KV-Vertragspsychologen können ihre Zulassung in ein solches
Versorgungszentrum mitnehmen (Genehmigung des KV-Zulassungsausschusses ist nötig).
Freiberuflich darf man dann allerdings nicht mehr tätig sein; es gilt das
Entweder-Oder-Prinzip. Versorgungszentren (nicht nur Niederlassungswillige) können
aufgegebene Praxissitze übernehmen.
Die Kassen können künftig mit einzelnen Ärzten (und Psychologen)
Verträge schließen. Sie können ferner mit Trägern von
Gesundheitsleistungen Verträge abschließen, also beispielsweise mit
Managementgesellschaften von Kliniken oder Gesundheitszentren. Achtung: Es
besteht kein Anspruch auf Vertragsabschluss, d.h. Psychotherapeuten können
auch schlicht übergangen werden!
Krankenhäuser können Teile einer ambulanten Versorgung übernehmen,
wenn damit die bestehende Unterversorgung einer Region vermindert wird. Damit
eröffnet sich die Perspektive einer Integration von niedergelassenen Ärzten
und Psychologen in Kliniken (so genannte Integrationsversorgung; § 140b,
Abs.4, Satz 2 SGB V). CSU-Gesundheitsminister Seehofer hatte sich noch
vehement gegen eine Vermischung von ambulant und stationär gestemmt, obwohl
die starre Trennung mit als Hauptursache von Qualitätsverlust in der
medizinischen Versorgung angesehen wird. Insgesamt können nun zwischen 2004
und 2006 maximal 1 % der Gesamtvergütung der KVen (rund 2,5 Mrd. Euro) dafür
von den Kassen abgezogen und in die „integrierte Versorgung“ umgeleitet
werden. Die KVen sind darin nicht mehr beteiligt, das läuft an denen vorbei!
Von 2006/7 an wird die Vergütung der Psychologen und Ärzte auf
„Regelleistungsvolumina“ pro Arztgruppe (arztgruppenbezogen) und pro
Praxis (arztbezogen) umgestellt. Bei den "arztgruppenbezogenen
Regelleistungsvolumina“ wird die Morbidität, also die tatsächliche
Erkrankungshäufigkeit in einer Region ein wichtiger Berechnungsfaktor für
die Bestimmung des Honorarvolumens der Niedergelassenen. Die Zahl der
Versicherten ("Kopfpauschale") als Berechnungsgrundlage tritt damit
in den Hintergrund. Mit einem festen Punktwert sollen die Niedergelassenen ein
kalkulierbares Einkommen erhalten; die umstrittenen Honorarverteilungsmaßstäbe
entfallen. Damit kommt allerdings auch eine Leistungskappung, schon allein
weil eine Beitragserhöhung ausgeschlossen werden soll: Wer mehr als sein
zuvor mitgeteiltes Leistungsvolumen abrechnet, bekommt für die Mehrarbeit nur
noch 10 Prozent des Honorars. Wer bspw. 120 % arbeitet, erhält 102 % Honorar.
Die Vergütung der in Ostdeutschland Arbeitenden soll langsam, aber sicher an
das Westniveau angeglichen werden.
Wie irreführend die Scheindebatte um die Praxisgebühr geführt wird,
zeigt die Tatsache, dass die gleichzeitig geltende Härtefallregelung meist
verschwiegen wird. Alle Versicherten werden bei den Zuzahlungen mit maximal 2
% ihres Bruttoeinkommens belastet, chronische Kranke mit nur 1 %. Das scheint
vertretbar. Die vollständige Befreiung von Zuzahlung wurde gestrichen. Nicht
mehr bezahlt werden Taxi- und Mietwagenfahrten hin zu einer ambulanten
Behandlung, es sei denn, die Kasse hat ihr O.K. gegeben.
Künftig werden alle Therapeuten ihre Fortbildung alle fünf Jahre gegenüber
der KV nachweisen müssen, andernfalls droht eine Kürzung der von den KVen
gezahlten Honorare. Der Umfang muss noch festgelegt werden. Die Kammern werden
im Laufe des Jahres 2004 ihre Mitglieder sicherlich darüber informieren.
Ferner werden auch Niedergelassene zu einer bundeseinheitlichen
„einrichtungsübergreifenden Qualitätssicherung“ herangezogen. Beauftragt
mit der Überwachung sind die KVen (ein weiterer Grund, warum sich
Gesundheitsministerin Schmidt hüten wird, die Selbstverwaltung zu
zerschlagen). Ein Qualitätsmanagement soll schon ab dem 4. Quartal 2004
verbindlich werden.
Therapeuten werden sich in Zukunft auch auf Patientenquittungen
einstellen müssen. Quittungen über die erbrachten Leistungen werden nur auf
Wunsch des Patienten ausgegeben. In den nächsten Jahren bleibt das ein wenig
schwierig wegen des schwankenden Punktwerts. Der Psychologe wird sich an den
zuletzt bekannt gewordenen Punktwert orientieren, bis 2006/7 dann feste
Punktwerte eingeführt werden.
Therapeuten werden sich auf mehr Wettbewerbsdruck (Fortbildungspflicht,
Einzelverträge, neue Kreise von Leistungserbringern, Gesundheitszentren) und
mehr Kontrolle (Qualitätskontrolle, Patientenquittung, Patientenbeauftragter)
einstellen müssen. Die Einführung der Praxisgebühr ist im Vergleich dazu,
das sei noch einmal wiederholt, nur Peanuts.
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Gerald Mackenthun
Berlin, Februar 2004