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Wenke Matthias: Im Gehirn gibt es keine Gedanken. Bewusstsein und Wissenschaft. 2. Auflage, 296 Seiten, Königshausen & Neumann 2011


Wenke stellt den Anspruch der Naturwissenschaften, Vorrangwissenschaft zu sein, die ein objektives Bild der Welt liefert, in Frage. Alle menschlichen Leistungen sind zunächst Leistungen aus der Perspektive der ersten Person. Der Mensch nimmt die Welt aus dem intentionalen Zur-Welt-Sein wahr, weshalb für das menschliche Sein die Phänomenologie die Methode der Wahl ist. Es ist auch nicht zulässig, die Ergebnisse der Naturwissenschaften zur Wahrheit schlechthin zu hypostasieren, vielmehr käme der Phänomenologie als grundlegender Wissenschaft von den Phänomenen die Aufgabe der Interpretation der naturwissenschaftlichen Befunde zu. Alles sind Ausformungen des menschlichen Zur-Welt-Seins und somit sind die Befunde der Naturwissenschaften Konstruktio­nen von Welt, wie sie dem Menschen erscheint. Das dies eine objektive Welt widerspiegelt, wie sie auch ohne den Menschen existieren könnte, muss als Illusion erachtet werden.
Diese Überlegungen expliziert Wenke durch die Phänomenologie Husserls, Heideggers und vor allem in der Fortführung durch Merleau-Ponty. Nach Husserl ist die Phänomenologie die »Wissen­schaft vom Bewusstsein und seinen Erscheinungen« (S. 17). Einem Ur-Ich oder einem transzendentalen Subjekt, einer Art absolutem Bewusstsein, erscheint die Welt. Hinter diese Ebene können wir nicht blicken, was auch bedeutet, dass der Mensch sein Gehirn nicht selbst erforschen kann, er wird gleichsam immer an seiner Subjektivität insofern scheitern, als seine Befunde niemals objektiv sein können. Selbst seine »exzentrische Positionalität« (Plessner), die ihm den Blick etwa auf seinen physischen Leib ermöglicht, ermöglicht ihm nicht, die Subjektivität zu verlassen.

»Die Welt ist im Bewusstsein, weil das Bewusstsein nicht etwas in der Welt sein kann, denn dann wäre es ein Ding und kein Bewusstsein von Dingen« (S. 18).

Husserl gliedert das Sein in drei regionale Ontologien: die Raumdinge, die animalische (be­seelte, lebendige) Natur und die geistig-personale Welt. Das »Ich« besteht nicht aus Teilen, sondern ist eine absolute Einheit. Als »Ich« bin ich mir immer selbst gegeben. Wegen dieser »Selbstheit« wäre denn auch besser von einem »Selbst« zu reden. Aus dieser Perspektive schaut das »Selbst« auf die Welt, bzw. ist zur Welt. Heidegger sprach vom »Dasein« als »Lichtung des Seins« (Heidegger, Sein und Zeit). In ihm wird sich das Sein gleichsam seiner selbst bewusst. D.h. aber eben, dass das, was wir die Welt nennen, immer schon durch die subjektive Brille hindurch gegangen ist. Und pointiert heißt es bei Husserl:

»[...] Das Ideenkleid ‚Mathematik und mathematische Wissenschaft‘ [...] macht es, das wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist [...]“ (Husserl 1986, 258)«. (S. 39).

Hans Vaihinger (Philosophie des Als Ob, 1913) zeigte in seiner Erkenntniskritik, dass uns Modelle zu Wahrheiten geraten, die ursprünglich hilfreiche Fiktionen waren. Dem begegnen wir in den Aussagen der aktuellen Hirnforschung, wenn sie leichtfertig aus ihren Befunden auf die Lebenswelt des Menschen Einfluss zu nehmen versuchen. Da entsteht dann aus Atomen Bewusstsein – was unmöglich ist, da Atome Ideen des Bewusstseins sind, was ebenso fragwürdig ist, als würde mensch »behaupten, dass Lehmziegel oder Basaltsechsecke« aus der Geometrie stammten (S. 40). Desgleichen ‚entscheidet‘ Amygdala nichts, immer ist es der ganze Mensch, der in seinem historisch Gewordensein sich zur Welt verhält. Bei komplexer Traumatisierung mag es sich insofern anders verhalten als hier die Niederschläge lebensbedrohlicher Ereignisse in der neuronalen Netzwerkstruktur dazu führen, dass es zu automatisierten Reaktionen kommt, die zunächst nicht mehr bewusst beeinflussbar sind. Gleichwohl sind es Traumatisierungen, die aus dem Mit-sein erwachsen sind, also der Toxizität interaktionellen Bezogenseins entstammen. An der Stelle müssen sie eben auch kritischer Korrektur unterzogen werden. Nicht Neuronen sind verantwortlich, sondern die Erfahrungen aus toxischen Beziehungen. Habermas nennt das Eindringen und die Herrschaft der abstrakten Logik in die alltägliche Welt »Kolonialisierung der Lebenswelt« durch die Rationalität des ökonomischen und gesellschaftlichen Systems, welches die Zusammenhänge der Lebenswelt und die Verwurzelung in ihr, zerstört.
Der Anatom Helmut Wicht (2007) drückt es folgendermaßen aus:

»“Offenbar enden alle Versuche, dem Subjekt einen Ort im Gehirn (ja: überhaupt ei­nen Ort und einen Zeitpunkt im Reich der Objekte) zuzuweisen, in höherem Blödsinn. [...]. Sie halten mich jetzt für völlig bekloppt? Mag sein •aber behalten Sie diesen Gedanken viel­leicht mal im Hinterkopf, wenn Sie Neurowissenschaftler über die „Lokalisation von kognitiven Funktionen“ reden hören. Die Welt ist in Ihrem Kopf, aber Ihr Kopf ist auch in der Welt • und der Ausweg aus diesem Paradox mag tatsächlich die Einsicht sein, dass Köpfe und Welten sich gegenseitig hervorbringen“.« (S. 43).

Breiten Raum nimmt im vorliegenden Text die Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Merleau-Pontys ein. Für ihn steht der Leib im Zentrum seiner Betrachtungen. Der Leib ist unsere Erlebensbasis. Was wir nicht handelnd, berührend erfahren haben bleibt für unser Erleben irrelevant. Es gibt so nicht wirklich eine Grenze zwischen Leib und Welt. Wir sind die Welt, die sich denkt (was an Heidegger erinnert), die Welt ist inmitten unseres »Fleisches«. Daraus folgert Wenke:

»Nicht das Bewusstsein ist im Körper, sondern der Körper ist im Bewusstsein. Phäno­menologisch ist also völlig klar: Was wirkt, muss erfahrbar sein – und was nicht erfahrbar ist, ist wirkungslos und existiert auch nicht« (S. 78).

Ein Unbewusstes ist für Merleau-Ponty kein unsichtbares An-sich, also etwas Dinghaftes. Vielmehr ist es noch nicht in den Horizont des Bewusstseins integriert.

»Es ist ein Leib, der nicht vollständig in seiner Sprache aufgeht, der aber im Gesamt aller Ausdrucksbe­wegungen sein Zur-Welt-Sein immer ganz aufscheinen lässt. Das sogenannte Unbewusste ist also alles andere als unzugänglich. Unser Leib ist wie ein offenes Buch, auch wenn wir es selbst manchmal nicht direkt bemerken. Er ist es, der lebendig spricht und in Dialog tritt mit dem Anderen, nicht der Inhalt seiner bewusst formulierten Wörter. „Ob ganz laut oder ganz leise, ein jeder spricht sich ganz aus [...] mit seiner verborgenen Geschichte, die die Anderen plötzlich freilegen, indem sie sie als Gedanken formulieren“ (Merleau-Ponty 1986, 159)« (S. 80).

Bezogen auf die sogenannte Psychotherapie heißt dies, den Leib, das Leibgedächtnis anzusprechen, um dem dort auch vorsprachlich gebundenem Erleben zur Bewusstheit zu verhelfen. Wie stark Erfahrungen »eingeleibt« sind oder werden können, wird am Beispiel des Autofahrens deutlich. Ich muss keine Abstände berechnen, um nach entsprechender Übung die Abmessungen des Fahrzeugs präsent zu haben. Gleiches gilt für ein Handwerkszeug oder ein Instrument. Sie werden gleichsam zu neuen Möglichkeiten des Leibes, »er wächst in sie hinein, sie sind Leiberweiterungen und Sinnesausdehnungen« (S. 90).
Die phänomenologische Betrachtung ermöglicht es uns, den anderen ihre Erlebnisse anzusehen und zwar auf Grund ihre leiblichen Äußerungen (Husserl 1985, 98) (S. 96).

»Man versteht am Ausdruck eines Anderen ja nicht codierte Zeichen, die erst wie ein Fahnenalphabet decodiert werden müssten, sondern der Ausdruck ist die unmittelbare Erscheinung seiner speziellen Existenzweise als bestimmter Modulationen seines Leibes, wie z. B. der Stimmfall, Atmung, Haltung, Mimik und Gestik« (S. 96).

Dies lässt Theorien wie die von Wilma Bucci (Psychoanalysis and Cognitive Science A Multiple Code Theory, Guilford Publications 1997) mechanistisch erscheinen, die von Encodierung spricht, wenn es um die verschiedenen Ebenen der Symbolisierung in der menschlichen Entwicklung geht.

Im Gegensatz zu Freud war Adler Lebensphilosophisch oder phänomenologisch ausgerichtet. Sein Terminus des »Lebensstils« etwa bezielte das »Zur-Welt-Sein« des Individuums, in dem sich alle Lebensäußerungen zu einem einheitlichen, selbstgeschaffenen Stil abbilden. Dazu gehört auch die ‚Umarbeitung‘ von Erinnerungen, wenn sich eine neue Einsicht ergibt. Das ist für die Lebenszeit von Bedeutung:

»Erkennt sich das Indivi­duum als ‚Urheber‘ seiner Erinnerungen, so erfährt es sich auch als Schöpfer seiner Zukunft“ (Rattner 1994, 48)« (S. 114).

Das Subjekt steht somit auf der Spitze der Pyramide seiner Vergangenheit, es ist seine Geschichte und seine Zukunft. Alle Erfahrungen schreiben sich in den Leib ein, weshalb es zu kurz greift, wenn wir die Krankheit eines Menschen allein aus seiner Physiologie erklären wollen. Medizinisch-biologische Befunde an einzelnen Organen oder gar Zellen lassen den Organismus aus einzelnen Teilen zusammengesetzt erscheinen. Solche spezialisierten Befunde sagen für das lebendige Individuum wenig aus. In der wirklichen Laborpraxis kann mensch nicht den zweiten Schritt vor dem ersten ma­chen. Janich plädiert dafür, besser von Laborwissenschaften zu sprechen, nicht von Naturwissen­schaften (S. 144)! Phänomenologisch hat jeder Mensch einen individuellen Leib, der durch seine Erfahrungen und deren Wertungen geworden ist. Erkrankt der Mensch, dann sind Organe oder Organfunktionen entgleist – wir sehen aber nur den Endpunkt des lebensgeschichtlichen Geschehens.

Wenke befasst sich in seinem Werk auch mit Yoga, Gott und dem Buddhismus. Yoga und Buddhismus stehen seiner Auffassung nach der Phänomenologie sehr nahe. Von beiden asiatischen Weltauffassungen verstehe ich nichts. Mir will es immer so scheinen, als ob der westliche Mensch, nachdem er an seiner mechanistisch-materialistischen Weltauffassung krank geworden ist, nun sein Heil in der Spiritualität sucht. Das heißt nicht, dass wir nicht von anderen Kulturen und deren Weltsicht einiges lernen könnten; wir haben ja die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen. Ich gebe mich mal damit zufrieden, dass Merleau-Ponty die verschiedenen Perspektiven (von Phänomenologie und Naturwissenschaft) zusammenführen möchte:

»“Es gilt, mit der Kenntnis psychologischer und physiologischer Erscheinungen zu der Erkenntnis seelischen Geschehens als eines unserer Existenz inhärenten Lebensvorganges vorzudringen“ (Merleau-Ponty 1966, 113)« (S. 236).

Und dies bleibt das vornehmste Anliegen der sogenannten Psychotherapie, soweit sie denn leibfundierte Daseinsanlyse ist.

Abschließend versucht Wenke eine phänomenologische Metatheorie zu entwerfen. Danach stehen sich niemals »Subjektives« und »Objektives« gegenüber, vielmehr sind es immer verschiedene Arten des Subjektiven, was sich in den drei verschiedenen Perspektiven der Betrachtung darstellen lässt:

1. Äußerer BezugsrahmenDritte Person: EsPsychophysiologie, Behavioris­mus
2. EmpathieZweite Person: Du / WirHermeneutik, Psychoanalyse
3. Innerer BezugsrahmenErste Person: IchPhänomenologische Psychologie

»Es sind zueinander partiell komplementäre Perspektiven Erster, Zweiter oder Dritter Person auf das Gleiche. Und so ist im Sinne Husserls die Phänomenologie die universale Wis­senschaft von der Lebenswelt, die alle denkbaren Einzelwissenschaften zugleich einschließt. „Sie zerfällt in die eidetische Phänomenologie (oder universale Ontologie) als Erste Philoso­phie und in die Zweite Philosophie, die Wissenschaft vom Universum der Fakta oder der sie alle synthetisch beschließenden transzendentalen Intersubjektivität (Husserl 1985, 220)« (S. 267).

Aus dem bisher Dargestellten macht Wenke einen Vorschlag zu möglichen Dimensionen einer phänomenologischen Metapsychologie:

1. phänomenalObjekt einer PP sind alle Wirgestalten der Existenz: Gefühle, Ideen, Tun
2. sinnhaftAlles Verhalten und Erleben hat einen manifesten oder latenten Sinnkontext
3. ganzheitlichAlles Verhalten entspring dem Zur-Welt-sein der leibhaftigen Person
4. genetischGegenwart ist das Ergebnis von einverleibter Erfahrungsgeschichte
5. intentionalVerhalten richtet sich auf intentionale Gestalten in offenen Horizonten
6. situationalSituationen im phänomenalen Feld bestimmen das Subjekt
7. teleologischDas Subjekt erstrebt Evidenz, Gemeinschaftsgefühl und Selbsterfüllung
8. intersubjektivDas phänomenale Feld ist ein soziales und die Existenz ein Mit-sein
9. empathischVerstehen bedeutet in statu nascendi dialogisch miterleben
10. TranzendentalExistenzielle Epoché dient der Icherweiterung zum Selbst

Konnten Sie mir bis hierhin folgen? Konnte ich verständlich machen, was ich meine verstanden zu haben? Das ist vielleicht das Problem generell, dass die Texte zur Phänomenologie für Nichtphilosophen nahezu unleserlich sind und wohl auch deshalb so wenig Eingang in die sogenannten psychotherapeutischen Zugangsweisen gefunden hat. Wenke jedenfalls holt weit aus, hat aber einen Text vorgelegt, in dem Husserl und Merleau-Ponty einigermaßen nachvollziehbar dargestellt sind.

Bernd Kuck      
August 2023

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Im Gehirn gibt es keine Gedanken

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