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Rattner, Josef/Danzer, Gerhard: Individualpsychologie heute. Hundert Jahre Lehre Alfred Adlers (1907 – 2007), Würzburg 2007, 159 Seiten, Königshausen & Neumann.


Alfred Adler (1870 – 1937) hat sich immer dagegen verwahrt, als Schüler Sigmund Freuds bezeichnet zu werden. Als Beleg bewahrte er eine Postkarte von Sigmund Freud auf, mit der dieser zur ersten Zusammenkunft der später als Mittwochsgesellschaft in die Geschichte der Psychoanalyse eingegangenen Gesprächsrunde, einlud. Von 1902 bis 1911 gehörte Adler dem Kreis an, begriff sich jedoch immer als selbständiger Denker, der sich nie einer so genannten „Lehranalyse“ unterzogen habe.

Dieser Auffassung folgen die Autoren – bzw. der Autor, denn die enthaltenen Texte scheinen eher der Feder von Rattner zu entstammen -, wenn im Untertitel der Beginn von Adlers Lehre auf das Jahr 1907 datiert wird. In diesem Jahr veröffentlichte Adler seine „Studie über die Minderwertigkeit von Organen“, die zugleich als wesentlicher Beitrag zur Psychosomatik aufgefasst werden kann.
Bereits die voraus liegenden Veröffentlichungen weisen Adler als sozialkritischen Denker aus, der Marx und Nietzsche studiert hatte, so dass es auch nicht verwundert, wenn er sich ab 1911 ausdrücklich gegen den Primat der Sexualität in Freuds Triebpsychologie wandte. Dieses Häretikertum wurde denn auch mit Isolierung und „Exkommunikation“ aus der psychoanalytischen Gemeinde quittiert. Solche quasi religiösen Tendenzen sind leider im psychoanalytischen Feld nicht gerade selten, selbst wenn die Feindschaft zwischen Psychoanalyse und Individualpsychologie heute teilweise aufgelöst scheint. Die Anpassung an die Psychoanalyse, ihren Einzug in den Kreis der Kassenzugelassenen, hat sich die offizielle Individualpsychologie um den Preis der Aufgabe der bedeutsamsten Essentials der Adlerschen Gedanken erkauft.

Zu den modernen Häretikern gehört sicherlich Rattner, der – ohne in einen unkritischen Personenkult zu verfallen – durchaus als „Reinkarnation“ von Alfred Adler angesprochen werden kann. Genauer gesagt: Rattner imponiert – und gerade in der Zeit seiner praktischen und öffentlich vortragenden Zeit – als ein Mensch, der den inneren Gehalt der Individualpsychologie aufgenommen und weiter entwickelt hat, der die personalen Werte an der Person Alfred Adler erfasst hat und an seiner Person zu neuem Leben verhalf, ohne bloß zu kopieren, die allzu menschlichen Schwächen des Vorbildes zu überwachsen, wenngleich notwendig mit eigenen Ecken und Kanten aus dem Prozess hervor zugehen.

Der vorliegende Band gibt denn auch zunächst eine kurze Biographie des Vorbildes, die im wesentlichen der Monographie des Autors aus dem Jahre 1972 folgt, vermehrt um die Ergebnisse der gründlichen biographischen Forschung von Hoffman (Alfred Adler – Ein Leben für die Individualpsychologie, München 1997), durch die unsere Kenntnis von Adlers USA-Zeit wesentlich bereichert wurde. Rattner möchte nun aber keine Hagiographie vorlegen (wie etwa der Text von Phyllis Bottome, Alfred Adler – Apostle of Freedom, 1939, anmutet), sondern möchte die Gedanken Adlers weiterführen in eine von ihm so genannte „Neoindividualpsychologie“.
Adler war ein ausgesprochener Gesellschaftsmensch, der nicht gerne seine Zeit am Schreibtisch verbrachte. Daher überließ er die Verfassung seiner Bücher gerne anderen, die dann aus Vorlesungsnotizen und -mitschriften mehr oder weniger gut lesbare Texte zusammenstellten. Rattner war in seiner öffentlich aktiven Zeit nicht nur Gruppenmensch, sondern entwickelte seine lebendige Intellektualität auch in literarischer Form. Dabei bemühte er sich um eine philosophische Fundierung und Explizierung der Adlerschen Grundgedanken. Zu denen gehört eine eingängige Ethik, „eine Morallehre von beinahe konfuzianischer Einfachheit und konfuzianischem Realismus“ (58). Folglich folgen auf den biographischen Essay solche zur Erziehung, Selbsterkenntnis, „Geschlechtsverkehr und Gemeinschaftsgefühl“, Psychosomatik, „Theorie und Therapie der Psychosen“ und zu „Individualpsychologie und Atheismus“.

Der Grad zwischen ethischer Haltung und moralinsauren Heilslehren ist schmal. Wie alles beim Menschen, muss die mitmenschliche Seite entwickelt und entfaltet werden, damit der Mensch seinen Halt in der mitmenschlichen Verbundenheit findet und nicht die Zuflucht in göttlichem Ratsschluss sucht. Konsequent angewandt ein Weg in eine bessere Welt, nur eben nicht leicht zu haben. Wie ein deutscher Kabarettist formulierte, wäre es nicht das erste Mal, das die Menschheit auszog, einen religiösen Fanatiker zu bekämpfen und sich dazu einen ebensolchen an seine Spitze wählte. Wenn heute gerne von Wertrelativismus gesprochen und das Heil in der Wertewelt der christlichen Religion gesehen wird, so macht Rattner deutlich, dass in der Welt in wesentlich durchdachteren Philosophien ein Wertekanon gefunden werden kann, der allerdings ungleich schwerer an der Person und ihrem Tun entfaltet werden muss. Wohl bedacht angewandte Tiefenpsychologie kann hier Hindernisse und Hemmnisse innerseelischer Verstrickung auflösen helfen.

Dipl.-Psych. B.Kuck, März 2007
© PPFI, B. Kuck


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