Rattner, Josef/Danzer, Gerhard: Individualpsychologie heute. Hundert Jahre Lehre Alfred Adlers (1907 – 2007), Würzburg 2007, 159 Seiten, Königshausen & Neumann.
Zu den modernen Häretikern gehört sicherlich Rattner, der – ohne in einen unkritischen Personenkult zu verfallen – durchaus als „Reinkarnation“ von Alfred Adler angesprochen werden kann. Genauer gesagt: Rattner imponiert – und gerade in der Zeit seiner praktischen und öffentlich vortragenden Zeit – als ein Mensch, der den inneren Gehalt der Individualpsychologie aufgenommen und weiter entwickelt hat, der die personalen Werte an der Person Alfred Adler erfasst hat und an seiner Person zu neuem Leben verhalf, ohne bloß zu kopieren, die allzu menschlichen Schwächen des Vorbildes zu überwachsen, wenngleich notwendig mit eigenen Ecken und Kanten aus dem Prozess hervor zugehen.
Der
vorliegende Band gibt denn auch zunächst eine kurze Biographie
des Vorbildes, die im wesentlichen der Monographie des Autors aus dem
Jahre 1972 folgt, vermehrt um die Ergebnisse der gründlichen
biographischen Forschung von Hoffman (Alfred Adler – Ein Leben
für die Individualpsychologie, München 1997), durch die
unsere Kenntnis von Adlers USA-Zeit wesentlich bereichert wurde.
Rattner möchte nun aber keine Hagiographie vorlegen (wie etwa
der Text von Phyllis Bottome, Alfred Adler – Apostle of
Freedom, 1939, anmutet), sondern möchte die Gedanken Adlers
weiterführen in eine von ihm so genannte
„Neoindividualpsychologie“.
Adler war ein
ausgesprochener Gesellschaftsmensch, der nicht gerne seine Zeit am
Schreibtisch verbrachte. Daher überließ er die Verfassung
seiner Bücher gerne anderen, die dann aus Vorlesungsnotizen und
-mitschriften mehr oder weniger gut lesbare Texte zusammenstellten.
Rattner war in seiner öffentlich aktiven Zeit nicht nur
Gruppenmensch, sondern entwickelte seine lebendige Intellektualität
auch in literarischer Form. Dabei bemühte er sich um eine
philosophische Fundierung und Explizierung der Adlerschen
Grundgedanken. Zu denen gehört eine eingängige Ethik, „eine
Morallehre von beinahe konfuzianischer Einfachheit und
konfuzianischem Realismus“ (58). Folglich folgen auf den
biographischen Essay solche zur Erziehung, Selbsterkenntnis,
„Geschlechtsverkehr und Gemeinschaftsgefühl“,
Psychosomatik, „Theorie und Therapie der Psychosen“ und
zu „Individualpsychologie und Atheismus“.
Der Grad zwischen ethischer Haltung und moralinsauren Heilslehren ist schmal. Wie alles beim Menschen, muss die mitmenschliche Seite entwickelt und entfaltet werden, damit der Mensch seinen Halt in der mitmenschlichen Verbundenheit findet und nicht die Zuflucht in göttlichem Ratsschluss sucht. Konsequent angewandt ein Weg in eine bessere Welt, nur eben nicht leicht zu haben. Wie ein deutscher Kabarettist formulierte, wäre es nicht das erste Mal, das die Menschheit auszog, einen religiösen Fanatiker zu bekämpfen und sich dazu einen ebensolchen an seine Spitze wählte. Wenn heute gerne von Wertrelativismus gesprochen und das Heil in der Wertewelt der christlichen Religion gesehen wird, so macht Rattner deutlich, dass in der Welt in wesentlich durchdachteren Philosophien ein Wertekanon gefunden werden kann, der allerdings ungleich schwerer an der Person und ihrem Tun entfaltet werden muss. Wohl bedacht angewandte Tiefenpsychologie kann hier Hindernisse und Hemmnisse innerseelischer Verstrickung auflösen helfen.
Dipl.-Psych. B.Kuck, März 2007
© PPFI, B. Kuck