Meyer-Abich, Klaus Michael:
Was es bedeutet, gesund zu sein – Philosophie der Medizin,
Carl Hanser Verlag, München 2010, 640 Seiten
Meyer-Abich ist Professor em. für Naturphilosophie und
lehrte an der Uni Essen. Er studierte Physik und Philosophie bei
Carl-Friedrich von Weizsäcker und ist damit sicherlich niemand,
der mit den Naturwissenschaften auf Kriegsfuß steht, wenn auch
mit der technizistischen Medizin. Sein Hauptvorwurf ist, dass es
immer mehr Mediziner und immer weniger Ärzte gibt. Dabei
versteht er unter Medizinern jene Akteure im Medizinwesen, die sich
hauptsächlich für Daten und Techniken interessieren,
darüber aber den Blick für den Menschen verloren haben, für
den Krankheit immer auch Bedeutung hat. Dieser eingeengte Blick hat
seine Wurzeln im cartesianischen Weltbild, auf das die Trennung von
Körper und Geist zurückgeht. Der Körper ist den
Medizinern letztlich wieder zur Maschine, wenn auch sehr komplexen
Maschine geworden, indes der Arzt noch die Lebenssituation des
Kranken kannte und berücksichtigte. Die Psychotherapie ist dabei
durchaus nicht in einer besseren Situation, wenn sie sich zur
Spezialdisziplin für die Seele entwickelt hat, wobei auch hier
der Trend in Richtung Spezialisierung auf einzelne
Krankheitsbilder und Manualisierung in der Behandlung dieser
Symptomatik zu gehen droht.
Wo die Lebenssituation des erkrankten Menschen aus dem
Blickwinkel des Mediziners verschwunden ist, da folgt die Medizin
nicht nur einer mechanistischen Betrachtungsweise, sondern reduziert
ihr Handeln auf materialistische und wirtschaftliche Gesichtspunkte.
Da passt dann auch der Begriff des "Humanmaterials" aus der Wirtschaft,
werden Teile der Medizin zum Bodystyling und Reparaturunternehmen,
wird die Sorge um die Beschaffung von Ersatzteilen bedeutsamer als
die Frage, „was es bedeutet, gesund zu sein“ oder sich
gesund zu erhalten. Folglich ist nach Meyer-Abich die Bezeichnung
„Gesundheitssystem“ nicht zutreffend, handle es sich doch
vorrangig um ein „Krankheitssystem“, das am Menschen nur
insoweit interessiert ist, als er krank ist und der Reparatur bedarf.
Selbst in der sogenannten Vorsorgeuntersuchung geht es nur darum,
eine Krankheit im Frühstadium zu erkennen. Ist der Mensch in dem
Sinne gesund, dass er keine auffälligen Werte an den Maschinen
zeigt, ist er für das Krankheitssystem nicht mehr interessant.
Die Politik sorgt sich denn auch nur darum, wie dieser gewaltig
aufgeblähte Medizinapparat noch finanziert werden kann. Der
Vorteil dieser Betrachtung liegt darin, dass die Lebenssituation des
Menschen nicht berücksichtigt werden muss. Aber die ist es
gerade, die den Menschen erkranken lässt. Wir brauchen nur auf
die Debatte um den Fluglärm einen Blick werfen. Obwohl es
inzwischen handfeste Untersuchungen zu den Risiken der
Lärmbelästigung gibt – besonders in ihrer Auswirkung
auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen, immerhin eine der häufigsten Krankheiten in der westlichen Welt,
- ist es von politischer Seite schier
unmöglich, wenigstens konsequent die Nachtruhe zu gewährleisten.
Hier muss die Medizin politisch werden (einige Ärzte engagieren
sich in diesem Sinne – siehe Ärzteblatt).
Dabei kann sie sich auf Rudolf Virchow berufen, der 1848 von der
Preußischen Regierung nach Oberschlesien gesandt wurde, um die
dort grassierende Typhusepidemie zu untersuchen. Er sprach damals
offen aus, dass es die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der
Menschen dort waren, die zu der Epidemie geführt hatten, und
forderte eine Politische Medizin.
Wo die Medizin zu spät
kommt, wird eine Politische Medizin gebraucht“ (S. 17).
Ja es bedarf schon dort der politischen Medizin, bzw. des
politisch denkenden Arztes, um eine echte Prävention in einem
Gesundheitswesen zu etablieren, dass seinen Namen verdient. Notwendig
ist dazu eine ganzheitliche Sicht der menschlichen Situation. Und
dazu bedarf es wiederum einer philosophischen Haltung, die überhaupt
erst einen Blick über den Tellerrand der jeweiligen Disziplin
ermöglicht. Der Alltag des Mediziners lässt ihm kaum
Muße, diese reflexive Ebene einzunehmen. Was ihm noch an Zeit
verbleibt, raubt ihm der bürokratische Aufwand einer normalen
Praxis und ein sogenanntes Qualitätsmanagement, das
bezeichnenderweise aus der Wirtschaft stammt. Als gelte es eben, ein
Werkstück herzustellen oder Teile auszutauschen.
Der moderne Mensch hat nur noch einen Körper, ist nicht mehr
Leib, also eins in seiner körperlichen Seinspräsenz. Daher
treibt er nun einen Körperkult, in dem er seinen Leib auf dessen
funktionale Aspekte reduziert. Die Erkrankung wird so zum Störfall.
Der Körper soll, ähnlich einer perfekten Maschine,
gefälligst funktionieren. Der Störfall fordert die
Reparatur. Keine Frage nach der Lebenssituation. Die wäre jedoch
auch für den Erkrankten unangenehm. Der heutige Mensch hat
insofern das passende Krankheitssystem. Stellt er sich jedoch dem
Reparaturbetrieb quer, wird er leicht zum psychosomatisch Kranken,
der dann in eine andere Abteilung gehört, wo er oft genug
schwer oder nicht mehr erreichbar ist, weil er schon zu tief in den
Reparaturbetrieb hinein geschaut hat. So gesehen ist das Plädoyer
Meyer-Abichs für eine echte psychosomatische Medizin
nachvollziehbar, durch die Begrifflichkeit aber schon verdorben, da
die Psychosomatik – wo sie „seelisch bedingte“
Erkrankungen betrachtet – die Trennung zwischen Geist und
Körper nicht aufhebt, sondern die wechselseitige Beeinflussung
nach wie vor getrennter Entitäten untersucht.
So will es Meyer-Abich aber nicht verstanden wissen. Er nimmt
Bezug zum anthropologischen Verständnis von Viktor von
Weizsäcker, der von den verschiedenen sich zeigenden Aspekten
menschlicher Existenz sprach. Und in diesem Sinne verlangt
Meyer-Abich die Erkrankung eines Menschen unter dem Gesichtspunkt
seines individuellen Seins zu betrachten, d.h. seinen persönlichen
inneren Konflikten wie sie aus seiner Biographie und seinen äußerst
individuellen Haltungen zu verstehen ist. Krankheit wird für ihn zu
einer Form des Selbstheilungsversuchs. Das bedeutet aber auch, dass
man ihm seine Krankheit nicht einfach nehmen darf. „Menschliche
Krankheiten“ (Jores) stoßen dem Menschen nicht einfach
von außen zu. Nimmt man sie ihm, so ist er gezwungen, eine neue
Krankheit auszubilden, da er in seiner Not nicht verstanden ist und
sich selbst nicht versteht.
Daß der Körper im
cartesianischen Menschenbild der Medizin als eine Art Außenwerk
der Persönlichkeit dem eigentlichen Menschen nur vorgelagert
ist, hat zur Folge, daß dieser sich Krankheiten in ihrer
körperlichen Erscheinung nicht selber zurechnet. Man ist nicht
krank, sondern hat nur eine Krankheit. Daß dies bei seelischen
Krankheiten nicht möglich ist, erhöht die Hemmschwelle
ihrer Anerkennung.“ (S. 39)
Das utilitaristische Denken in der Medizin blendet die
ganzheitliche Verfassung des menschlichen Leibes aus, wenn etwa
in der öffentlichen Debatte um Organspenden ausgeblendet wird, „daß
das Immunsystem des Patienten lebenslang geschwächt werden muss,
um Abstoßungsreaktionen zu unterdrücken“. (S. 59)
Und
selbst die genetische Medizin blendet aus, dass nur wenige schwere
Erbkrankheiten bereits in jungen Jahren ausbrechen. Und selbst die
genetische Disposition zu einer Erkrankung führt nicht notwendig
dazu, dass es zu einer Manifestation kommt.
Wenn zum Thema Organspende Reflexionen zu Tod und Sterben und dem Umgang damit
in unserer Gesellschaft einfließen, dann ist dies ein Beispiel für
die weitreichenden Gedanken des Autors, wie sie immer wieder im Text anregend
einfließen.
Beispielsweise
wurden bei einer Gruppen von Personen, mit einem erhöhten
Prostatakrebsrisiko bereits nach einer dreimonatigen Umstellung
auf eine gesündere Ernährung und einen anderen
Lebensstil markante Veränderungen in der Aktivität von über
500 Genen im Prostatagewebe festgestellt.“ (S. 67)
Selbst mit der naturwissenschaftlichen Vorgehensweise steht es in
der Medizin nicht zum Besten. Da werden oder wurden entzündete
Mandeln entfernt, was eindeutig dem Immunsystem schadet; hoher
Blutdruck wird gesenkt, ohne wirklich die Gründe zu kennen;
Krebsgeschwüre werden entfernt und radiologisch behandelt, ohne
die Selbstheilungskräfte des Patienten zu stärken; Zellen
werden durch erhöhte Insulingaben „gezwungen“
Insulin aufzunehmen, ohne die Stoffwechselstörung zu kennen oder
zu verstehen; Gefäßverengungen werden beseitigt,
Cholesterinwerte gesenkt, ohne wirkliche Klarheit darüber, was
Ursache, was Wirkung ist. (S. 76)
Erklärungsbedürftig
ist etwa auch, wieso es in Kanada doppelt so viele Bypass-Operationen
gibt wie in Großbritannien. In Deutschland werden europaweit
die meisten Herzkatheter gelegt – ohne erkennbaren Effekt auf
die Gesundheit. Ebenso erfolgen hier die meisten Blinddarmoperationen
bei Mädchen und Frauen, indes die Binddarmentzündungen
tatsächlich zu zwei Dritteln bei Männern auftreten.
Bedenklich findet Meyer-Abich auch den Umgang mit Frühgeborenen.
„Erfolgsmeldungen“, dass ein Kind in der 22.
Schwangerschaftswoche geboren und am Leben erhalten wurde
verschweigen, „daß die meisten von ihnen ihr Leben lang
körperliche oder geistige Behinderungen haben werden“.
(S. 95)
Ein solches Vorgehen ist nur möglich, wenn das Verhältnis
zum seelischen Mitsein der Organe ebenso gestört ist, wie das
gesellschaftliche Mitsein und das natürliche Mitsein aller
Lebewesen im Ganzen unseres weltlichen Mitseins. Und dies sind die
drei Sphären des Seins, die Meyer-Abich untersucht. Dabei
versteht er in der Tradition der antiken Philosophie unter Seele das
Leben selbst. Diese drei Sphären werden geistreich dargelegt und mit
vielen Beispielen veranschaulicht.
In der Auseinandersetzung mit der Frage, wie wir denn in Zukunft
leben möchten, greift der Autor zustimmend auf die
Bedürfnishierarchie von Abraham Maslow zurück. Er reduziert
sie jedoch mit Alderfer von fünf auf drei
Fundamentalbedürfnisse: „Existenzbedürfnisse“
(worin die Maslow'schen Bedürfnisse nach Ernährung und
Sexualität zusammenfließen), „Bedürfnisse der
Bezogenheit“ (bei Maslow Liebes- und Zugehörigkeitsbedürfnisse)
und schließlich das „Bedürfnis nach Wachstum“
(Selbstverwirklichung bei Maslow). Letzteres ist z.B. im Gegensatz zu
den materiellen Ressourcen unerschöpflich und kennt keinerlei
Grenzen des Wachstums, außer dem Tod des Individuums.
Anders als die Güter, auf
die sich die Existenzbedürfnisse richten, sind menschliche
Beziehungen und der kreative Gebrauch der eigenen Fähigkeiten
nicht nur in endlichen Beständen verfügbar, sondern können
unbegrenzt immer weiter entfaltet werden.“ (S. 452)
Meyer-Abich reduziert gleichsam weiter und stellt als den Sinn
des Lebens das "Bedürfnis des Selbstseins im Mitsein" heraus. Der
Vorteil dieser Betrachtungsweise liegt meines Erachtens darin, dass
hier der anthropozentrische Standpunkt überwunden wird. Wird die
Natur nicht mehr als äußerer Feind betrachtet, besteht
eine gewisse Chance, dass der Mensch sich nicht seiner
Lebensgrundlage beraubt.
Abschließend macht sich Meyer-Abich Gedanken über ein
mögliches Gesundheitssystem, das seinen Namen verdient. Dabei
geht es auch um den Erhalt des Lebensrhythmus, der sich im
Verhältnis zur Zeit zeigt, im Pulsieren von Anspannung und
Entspannung. Daher ist er nicht nur für den Erhalt von freien
Tagen, sondern plädiert auch für Sabbatjahre, in denen der
Mensch Zeit und Muße hat, seinen Standort zu bestimmen und in
Ruhe zu überprüfen, ob er noch auf dem für ihn
richtigen Weg ist.
Ferner macht er sich Gedanken zu einem
Sicherungssystem, in dem die Eigenverantwortung und die Prävention
die größere Rolle spielen. Jeder sollte sich einer
Gesundheitsberatung unterziehen, in der er auch über die Risiken
seiner Lebensführung aufgeklärt wird. Wer das nicht möchte,
könnte ja einen entsprechend höheren Beitrag in die
genossenschaftlich organisierte Versicherung einzahlen. Hier sind die
Grenzen zu einem totalitaristischen System etwas problematisch. Aber
andererseits gibt es einigermaßen gesicherte statistische Werte
bzgl. besonders risikoreichen Verhaltens.
Und er macht
Vorschläge, was die Ärzte verändern müssten, um
wieder Ärzte zu sein: So sollten sie verstehen, wo es im
Lebensgesamtzusammenhang dem Kranken an seiner Ganzheit fehlt. „Er
braucht kaum je lediglich eine körperliche Instandsetzung“
(S. 544). Die Therapie muss auf die Situation („Situationstherapie“
bei Weizsäcker) des Patienten abzielen, d.h. der Mensch erkrankt
in einer Situation, wird nicht einfach von Krankheitskeimen
überfallen und niedergestreckt. Beachtet werden müsse
auch, ob der Kranke überhaupt gesund werden will. Meyer-Abich
erwähnt hier den Fall eines jungen Mannes, dem eine Lunge
transplantiert wurde, der aber nicht recht gesunden wollte, obwohl
die Operation an sich „erfolgreich“ war. Und zu guter
Letzt ist es bedeutsam, dass der Kranke die Erkrankung als seine
annimmt und der Arzt ihn darin unterstützt, wie auch darin,
seine Selbstheilungskräfte zu mobilisieren, sich davor hütet,
ihn einfach „gesund machen“ zu wollen, schon wissend, was
für den Kranken gut ist.
Es ist durchaus ein großer Wurf, den Meyer-Abich hier vorlegt. Er ist sich auch im klaren, dass eine Umsetzung
hin zu einer lebensgerechten Welt mindestens zwei Dekaden bräuchte - wenn man gleich damit anfängt.
Da wäre in der Erziehung, den Schulen, der Wirtschaft, der Prävention usw. einiges zu tun.
Bleibt zu wünschen, dass die Ansätze, die der Zeitgeist hervorbringt (etwa der Ausstieg aus der lebensfeindlichen Nutzung der
Atomkraft - zumindest in Deutschland), weitere Früchte tragen. Meyer-Abich hat hier einen wichtigen Beitrag geleistet.
Im Übrigen kann man dem Autor nicht vorwerfen, er mache es sich zu einfach, verwerfe die cartesianische Medizin in Bausch
und Bogen oder mache dem Einzelnen den simplen Vorwurf, er sei letztlich durch falsche Lebensführung selbst Schuld an seiner
Erkrankung. Was er nur verlangt, ist die Betrachtung des Lebenszusammenhangs als Ganzes. Nehmen wir nur unser Wissen um die Auswirkungen von Disstress auf den Organismus und schauen uns die gestressten Menschen an, die zu uns in die Praxen kommen. Meyer-Abich reduziert nicht auf individuelle Lebenseinstellungen, sondern betont, dass der Mensch eben auch und vielleicht immer öfter an den Verhältnissen erkrankt.
Bonn, November 2011
Bernd Kuck
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