Loftus,
Elizabeth/Ketcham, Katherine:
Die therapierte Erinnerung. Über den zweifelhaften Versuch, sexuellen Missbrauch
erst Jahre später nachzuweisen. I. Klein Vlg., Hamburg (dt. 1995),
am. The Myth of Repressed Memory : False Memories & Allegations
of Sexual Abuse, New York, NY, U.S.A.: Saint Martin's Press, LLC, 1994
Wenn Menschen leiden, wird ihnen gesagt, dass es dafür
einen Grund geben muss. Wenn wir den Grund nicht herausfinden können,
haben wir nicht tief genug gegraben. Die Theorie der Verdrängung setzt
eine bestimmte Fähigkeit des Verstandes voraus. Diejenigen, die an
Verdrängung glauben, glauben an die Fähigkeit des Verstanden,
sich selbst vor emotionaler Überforderung zu schützen, indem
er bestimmte Erfahrungen und Gefühle aus dem Bewusstsein entfernt.
Jahre oder sogar Jahrzehnte später, wenn die Person stabiler zu sein
scheint, und wenn der Verstand besser damit fertig werden kann, können
- so heißt es seit Sigmund Freud - diese verdrängten Erinnerungen
aus dem stummen Grab der Vergangenheit hervorgeholt und gewissenhaft analysiert
werden, wie antike Schriftrollen, die nach langer Zeit aus einem Grab gezogen
werden.
Die psychoanalytische Richtung behauptet, ausgehend von Freud, dass
die traumatischen Inhalte sicher vergraben sind, die damit zusammenhängenden
Gefühle jedoch in unser alltägliches Leben einsickern und uns
neurotisch werden lassen. Deshalb müsse man in die Vergangenheit zurückkehren,
das Vergessene ausgraben und ans Tageslicht bringen. Die Theorie besagt,
wenn die Erinnerung durchgearbeitet sind, werden sie ihre Macht verlieren,
die Wahrheit werde befreien. Nur durch diese Konfrontation mit der verdrängten
Vergangenheit sei Heilung und ein normales Leben möglich.
Das Hauptproblem dabei lautet: Wie können Fakten von Fiktionen
unterschieden werden? Dies ist keine akademische Frage. In den USA
gab es in den 80er und 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine erregte
Debatte über Frauen, denen von Therapeuten suggeriert wurde, ihre
Schwierigkeiten beruhten auf sexuellem Missbrauch in der Kindheit. Diese
Fälle ähneln sich, wie die Kognitions-Psychologin Elizabeth Loftus
und die Journalistin Katherine Ketcham in "Die therapierte Erinnerung.
Über den zweifelhaften Versuch, sexuellen Missbrauch erst Jahre später
nachzuweisen" schreiben.
Der Therapeut legt mehr oder minder direkt die Frage vor, ob die Klientin
sexuelle missbraucht wurde. In jedem Fall gehen die Therapeuten theoretisch
wie praktisch davon aus, dass die Schwierigkeiten auf nichts anderem als
sexuellem Missbrauch beruhen können. Die Klientinnen können sich
meist an nichts dergleichen erinnern. Der Therapeut sagt, das bedeute überhaupt
nichts. Das sei ein Trick des Verstandes, um sich selbst zu schützen.
Die Therapeuten bestehen darauf, dass das gegenwärtige Leid nur durch
einen traumatischen Missbrauch erklärt werden könne. Die Frauen
beginnen, sich zu fragen, ob nicht doch etwas daran sei. Die Patientinnen
werden angehalten, sich von ihren Familien fern zu halten, weil diese sich
ja schuldig gemacht hätten. Das leugnen der Familienmitglieder wird
als Bestätigung aufgefasst, dass etwas Grässliches passiert war.
In Trancesitzungen und Gruppentherapien wird der Druck verstärkt,
sich in dieser bestimmten Art zu erinnern. Die therapierten Frauen beginnen,
unter der Belastung zusammenzubrechen, sie bekommen immer mehr Medikamente,
ihre Ehen zerbrechen, sie verlieren ihren Job, begehen Selbstmordversuche.
Es wird ihnen zunehmend unmöglich, zwischen Wirklichkeit und Phantasie
zu unterscheiden. Ihr Leben wird zu einem Albtraum. Schließlich geben
die Frauen nach und entdecken Erinnerungen an Missbrauch, zunächst
nur vom Vater, dann auch die Mutter oder ein Bruder, dann durch Onkel,
Tanten, Cousins, Großeltern, Pfarrer, Freunde und Nachbarn, erst
beginnend mit unangenehmen Berührungen, dann Vergewaltigungen, Penetrationen,
Satanskulte, sadistische Folterungen, Rituale des Bluttrinkens und Babymorde.
Sexueller Missbrauch wird zu ihrer Obsession.
Einige mussten in psychiatrische Kliniken eingeliefert werden - das
war ihr Glück. Sie trafen auf Therapeuten, die die Theorie der verdrängten
Erinnerung in Frage stellten. Auch die wiederaufgenommenen Kontakte zu
alten Freunden bestätigen den Verdacht, dass diese Frauen keine "Inzestüberlebenden"
sind. In Gerichtsverfahren konnte bewiesen werden, dass Väter oder
andere Männer unschuldig sind, in anderen Fällen wurden Gefängnisstrafen
verhängt und Familien zerstört. Die Therapie hat Männern,
Kindern, Freunden und Eltern Leid zugefügt.
Die Therapeuten waren absolut sicher, dass die aufsteigenden Erinnerungen
authentisch sind, weil sie so intensiv waren. Die Intensität wurde
als Beweis genommen. Den Opfern wurde eingehämmert, nicht nach Beweisen
zu suchen; das sei nicht ihre Aufgabe. Freud verwendete noch keinen Gedanken
darauf, dass es ratsam sein könnte, Nachweise und Bestätigungen
von neutraler Seite für die angeblichen Erinnerungen zu suchen. So
auch die amerikanischen Therapeuten. Da die meist weiblichen Therapeuten
in den USA, vor dem Hintergrund einer feministischen Debatte, bedingungslos
auf Seiten ihrer Klienten stehen und ihnen vollständig glaubten, was
sie ihnen durch falsche Fragetechnik vorher suggerierten, kam eine Überprüfung
nicht in Frage. Es war die Behandlung, die die Krankheit erzeugte. Das
Leiden war ärztlich hervorgerufen.
In dem (in Deutschland vergriffenen) Buch der beiden Autorinnen wird
von Familien erzählt, die auseinander brachen, weil ein Therapeut
mit suggestiven Methoden einen Mißbrauch beweisen wollte. Es ging
um eine Schlacht, in der es um weibliches Gutmenschentum gegen männliche
Macho-Rationalisten, Matriachat gegen Patriachat, Glaube gegen Wissenschaft, Opferschutz gegen Wahrheit ging, und nicht mehr um die Heilung von Kindesmissbrauch.
Kritische Psychologen nannten die Therapeuten einen Haufen überspannter
Psychologen, die sich der erstaunlichsten Quacksalberei des Jahrhunderts
hingegeben haben. Die Situation erinnert an die mit Härte geführte
Debatte in den USA über Abtreibungen. Es wurde auf Ärzte geschossen
(und einige von ihnen getötet), die Abtreibungen vornahmen. Könnte
die Missbrauchsdebatte ebenso eskalieren? Die Entwicklung nahm Mitte der
90er Jahre allerdings eine andere Wendung. Die Bewegung kam zunehmend in
Misskredit, als die Phantasien der therapierten Frauen außer Kontrolle
gerieten und immer bizarrere Details zu Tage brachten. Behörden und
Öffentlichkeit wurde langsam klar, dass etwas fürchterlich schief
gelaufen sein musste, da es die vielen toten Babys einfach nicht gab, die
angeblich bei Satanskulten ermordet und deren Blut getrunken worden sein
soll. Wenn die jungen Frauen sich plötzlich an einen lang zurückliegenden
Missbrauch erinnern, warum dann nicht die Täter, wenn sie mit der
Erinnerung konfrontiert werden?
Loftus wurde in den USA bekannt für ihre Experimente zur Suggestion.
Ihr gelang es mit einfachsten Mitteln, Erinnerungen an nicht vorhandene
Ereignisse hervor zu rufen. Aus der Unfall- und Kriminalitätsforschung
ist bekannt, wie leicht sich Zeugen irren und wie unglaublich einfach es
ist, sie über Details zu verwirren. Dieses Buch sollte jeder gelesen
haben, der sich mit dem Thema Verdrängung, Erinnerung, Wahrheit, Hysterie
und sexueller Mißbrauch beschäftigt. Gerade für Therapeuten
sollte dieses Buch Pflicht sein, um sie auf die Grenzen ihrer Profession
und die Suggestion als gefährliche Waffe aufmerksam zu machen. Freud,
wie so vielen Therapeuten nach ihm, ging es darum, eine fertige Hypothese
bestätigt zu sehen. Das Buch zeigt auf, was durch falsche theoretische
(feministische wie psychoanalytische) Prämissen und eine unkritische,
unskeptische Therapie alles schieflaufen kann.
Das Buch macht eine kritische Auseinandersetzung mit Freuds Theorie
der Verdrängung notwendig. Der Altmeister der Psychoanalyse ging von
einem vollständigen Verdrängen aus, bei dem Erlebtes ohne Erinnerungsspuren
in einer unzugänglichen Schublade des Gedächtnisses abgelegt
werden und durch Wiedererinnern seine unbewußte Wirkung verliert.
Alles an dieser Theorie wurde schon sofort nach Veröffentlichung angezweifelt
und konnte nie wirklich bewiesen werden. Wie das Wiedererinnern von etwas
völlig Verdrängtem gelingen soll, konnte Freud nicht befriedigend
erklären. Wie kann ich Erinnerungen untersuchen, die nicht existieren
oder zumindest dem Bewußtsein nicht zugänglich sind? Es
gibt kein "absolutes Vergessen" von wirklich Wichtigem. Verdrängung
ist ein aktiver, bewußter Vorgang. Missbrauchte Frauen mögen
sich nicht mehr an Details von Missbrauch erinnern, doch die Tatsache an
sich und das Gefühl dafür ist jederzeit vorhanden. Anhand eines
berühmten Falles, dem Franklin-Fall, wurde Loftus deutlich, dass "Verdrängung"
ein philosophisch-mystisches Gedankengebilde ist, dass einen Sprung in
den Glauben erfordert. Diejenigen, die bereit sind, Freud zu folgen und
diesen Sprung zu machen, können - auch das ist eine traurige Wahrheit
- von keinerlei wissenschaftlicher Argumentation von etwas anderem überzeugt
werden.
Gerald Mackenthun
Berlin, November 2002
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