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Kast, Bas (2007): Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft. Die Kraft der Intuition. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main.


Bei schwierigen Entscheidungen hilft es manchmal, das Pro und Contra einer jeden Alternative aufzuschreiben, zu gewichten und die vergebenen Punkte zusammen zu zählen. Es gibt drei mögliche Ausgänge dieses Verfahrens: der erste ist ein Patt, und man ist so schlau wie vorher. Der zweite: man bekommt ein eindeutiges Ergebnis, entscheidet aber doch anders aufgrund von Intuition und Gefühl. Dritte Möglichkeit: man manipuliert das Ergebnis unbewusst so, dass das herauskommt, was man ohnehin wollte.

Man sieht, die Ratio führt nicht allzu weit. Der Berliner Wissenschaftsjournalist Bas Kast macht daraus eine These: Wer denken will, muss auch fühlen können. Intuition ist immer im Spiel und hilft uns, Entscheidungen ohne viel Nachdenken zu treffen. Seines Erachtens sind es sogar die besseren Entscheidungen, aber das darf in dieser Verallgemeinerung bezweifelt werden. Jedenfalls kann der Autor eine Menge neue Forschungsergebnisse vorweisen, die die heilsame Wirksamkeit der Intuition und des Gefühls belegen. In der Geschichte der Philosophie und Psychologie hörte man es bislang eher umgekehrt.

Seit Descartes, eigentlich schon seit den antiken griechischen Philosophen wird die Vernunft und der Vernunftgebrauch als ultima ratio angesehen; der Mensch solle sich von seinen Leidenschaften befreien, die ihn nur allzu oft ins Unglück stürzen, und ein vernünftiges Leben führen. Die affektive und intuitive Angst vor Fremden beispielsweise äußerte sich in Rassismus, Nationalismus, Vorurteile, Verfolgung bis hin zum Genozid. Hier auch mit sachlichen Argumenten gegenzusteuern ist lebensnotwendig. Für einen Rationalismus sprechen ebenso viele gute Gründe wie für ein Ernstnehmen der Intuition.

Die Beispiele des Autors sind tatsächlich eher aus dem Lebensalltag gegriffen: Soll ich mich lieber für Orangen- oder Himbeer-Marmelade entscheiden? Kasts These ist, auf eine Formel gebracht: „Während sich die Ratio oft beschränkt, eindimensional, um nicht zu sagen, dumm verhält, erweist sich das vermeintlich Irrrationale als offener, als etwas, dass häufig viele Seiten einer Sache beleuchtet und sich damit auch klüger als die Ratio verhalten kann" (S. 22). Die Dringlichkeit des Gefühls zeigt sich an jenen Menschen, so Kast, die gar nichts mehr fühlen, die keine Angst und keinen Ekel mehr besitzen, beispielsweise bei Gehirnerkrankungen oder -beschädigungen. Kast wendet sich deswegen auch gegen Sigmund Freud, der das Unbewusste für etwas Gefährliches, Bedrohliches und Böses hielt.

Aber Kast trifft diesen Gegenstand nicht wirklich. Für Freud war das Unbewusste etwas Archaisches, aus der Tiefe der Zeit Kommendes, das uns auf oftmals ungute Weise beherrscht, ohne dass uns dies gewahr wird. Dieses Unbewusste formt unsere Person mit, darin stimmt Kast mit Freud überein.

Kast folgt im Grunde einem amerikanischen Ansatz, der sich seit ein paar Jahren bemüht, trennenden Affekten etwas Positives abzugewinnen, Neid und Geiz beispielsweise, um daraus einen Nutzen für den wirtschaftlichen Konkurrenzkampf zu erzielen. In diesem Sinne soll auch das Unbewusste rehabilitiert werden, um unsere Person ganzheitlicher zu verstehen und mehr Kreativität zu gewinnen. Denn Kreativität ist – laut Kast – nicht das Ergebnis nur von Fleiß und Ratio, sondern auch und vielleicht mehr noch von Spontaneität, Freiheit und Mut. „Die Ratio ist dazu da, unsere neuen Ideen und Gedanken zu prüfen. Die Ideen selbst aber kommen aus den irrationalen Regionen in uns, aus dem Unbewussten“ (S.26).

Das ganze ist sehr kurzweilig, teilweise direkt lustig geschrieben und ohne Zweifel äußert lesefreundlich. Beispielsweise der neue Blick auf den Pedanten Immanuel Kant oder die Vorstellung vom Ich im antiken Griechenland, welchem kaum einen eigenen Willen zugestanden, sondern von Göttern gelenkt wurde. Oder Sokrates, der als rationalistischer Nervtöter porträtiert wird.

Die Stoiker kommen bei Kast nicht besonders gut weg, weil sie angeblich die Emotion ausmerzen wollten. Hier scheint der Autor erneut etwas durcheinander zu bringen. Die Stoiker wollten ihre Leidenschaften zügeln, sie wollten nicht gefühllos werden. Leidenschaften wie Wollust, Glaubenwut oder Jähzorn sollten in Schach gehalten werden. Die Vernunftphilosophie postulierte, dass der Mensch diesen bösen Trieben nicht hilflos ausgeliefert sei.

Die bewusste Ratio ist begrenzter, als die Vertreter der Vernunftphilosophie annahmen, meint Kast, anderseits sei auch die Intuition nicht gerade perfekt (S. 73). Beide haben Stärken und Schwächen und sollten zusammenarbeiten. Wir brauchen Angst, Ekel und Skepsis. Angst mahnt zur Vorsicht, Ekel veranlasst zu Hygiene und Argwohn bewahrt uns davor, jedem X-Beliebigen zu vertrauen. Wie jede menschliche Eigenschaft können auch diese Seelenregungen übertrieben werden. Angst, Ekel und Argwohn können uns lähmen; wer überkritisch ist, findet nie einen Partner.

Es ist unbestritten und inzwischen Allgemeingut, dass das Unbewusste wesentlich größer ist als das Bewusstsein, ausgedrückt in der Verarbeitungskapazität (d.h. Bit-Einheiten). Hirnforscher schätzen, dass uns weniger als 0,1% dessen, was das Gehirn tut, aktuell bewusst wird. Aber der Verstand hält seinen kleinen beleuchteten Ausschnitt für das Ganze; schon Freud wies auf diesen Irrtum hin.

Im Verlauf des Buches fächert sich die Argumentation immer weiter auf und wird differenzierter. So ist zum Beispiel wichtig festzustellen, dass Intuition dann gut funktioniert, wenn man bereits ausreichendes und umfangreiches Wissen angesammelt hat. Man kommt schnell zu einem treffsicheren Urteil, wenn man auf dem Gebiet schon ein Experte ist. Der Verstand ist ohne die Unterstützung der Emotion ein zahnloser Tiger, unfähig, dass, was er für richtig hält, auch durchzuziehen.

Wie so viele andere Forscher geht der Autor nicht von einer imaginierten Einheit oder Ganzheit des Menschen aus, vielmehr sei das Ich aus verschiedenen Schichten zusammengesetzt. Eine der großen Unterscheidungen sei die zwischen dem bewussten Sprach-Ich und dem weitgehend unbewussten Erfahrungs-Ich. Es mag auch viel Unverstandenes in uns sein, aber das Unbewusste geht in seinem Umfang deutlich darüber hinaus (S. 111).

Der Autor folgt der These des deutschen Psychologen Oliver Schultheiss, der die drei großen Motive Leistung, Bindung und Macht im Unbewussten arbeiten sieht. Es gibt also nicht nur das Machtmotiv, wie Alfred Adler und Friedrich Nietzsche annahmen, sondern weitere gleichrangige Strebungen. Zudem ist Macht - trotz des unangenehmen Beiklangs - nicht von vornherein etwas Böses. Menschen mit Machtmotiv möchten überzeugen, ihre Kompetenz ausspielen und mit Charme und List andere Menschen rumkriegen. Die Stärke des Machtmotivs sagt wenig darüber aus, wie dominant jemand erscheint, wohl aber wie überzeugend und kompetent er ist. Das hängt auch damit zusammen, wie einer etwas sagt.

Dem Menschen gehe es dann besonders gut, wenn das bewusste Sprach-Ich möglichst jene Entscheidungen trifft, die bereits im unbewussten Erfahrungs-Ich liegen. Umgekehrt bedeutet das, wir fühlen uns unwohl, wenn wir uns rational für Dinge entscheiden, denen wir unbewusst oder emotional abgeneigt sind. Das bewusste Selbstbild ist mit den unbewussten Bedürfnissen nicht immer kongruent.

Auch der Affenforscher Franz de Waal neigt der grundsätzlichen These vom "zerrissenen Ich" zu. Zum Menschen schreibt er: "Nie hat ein Tier mit einem größeren inneren Konflikt auf dieser Erde gelebt." In der Tierwelt und bei Kleinkindern regierte das Erfahrungs-Ich. Eine der zentralen Funktionen der Sprache scheint in der Koordination großer Gruppen bis hin zu Gesellschaften zu liegen. Kein Säugetier lebt in so großen und so komplexen Gruppen wie der Mensch (S. 119/120).

Die Unterscheidung in Sprach-Ich und Erfahrungs-Ich führt zu einer gründlichen Theorie der Kreativität. Ein turbulentes Gefühlsleben scheint gerade bei den Kreativen überdurchschnittlich oft eine Rolle zu spielen. Bei Musikern, Schriftstellern und Wissenschaftlern zeigt sich oftmals ein bipolar angelegtes Seelenleben; auf manische Phasen folgt früher oder später ein depressiver Absturz. Bei kreativen Genies trifft man erstaunlich häufig auf Stimmungsschwankungen in Form einer bipolaren Störung. Sie gehen aber nie soweit, dass es zum Wahnsinn kommt - mit einigen Ausnahmen wie Friedrich Nietzsche, Heinrich von Kleist oder Robert Schumann. Beethovens Genie beruht offensichtlich nicht auf einer späteren Taubheit, sondern auf schon früh einsetzende bipolare Stimmungsschwankungen. Er stand schon als junger Mann kurz vorm Selbstmord und trank sich in seinem späteren Leben zu Tode. Auch Schumann war dem Alkohol verfallen. In einer Untersuchung der Biografien von über 1000 bedeutenden Figuren des 20. Jahrhunderts belegen Schriftsteller und Dichter sowohl in der Kategorie Depression als auch in den Kategorien Alkoholismus und Suizid die Spitzenplätze (S. 139; Kast bezieht sich auf Ludwig, A. (1995) The price of greatness. Guilford, New York).

Wie es scheint, werden in einer Manie jene Teile des bewussten Verstandes heruntergefahren, die normalerweise die Funktion der Zensur oder des Filters im Kopf übernehmen und Assoziationen, die aus dem Unbewussten aufsteigen, abfangen. Freud hatte dazu das Bild von den zwei Zimmern und dem Türsteher benutzt. In einer Manie macht der Türsteher gewissermaßen Urlaub oder ein Nickerchen. Es sollte aber eine leichte Manie sein, eine Mikromanie, die den Filter im Kopf etwas durchlässiger macht. Die Depression bewirkt das Gegenteil der Manie. Sie bremst den Gedankenfluss ab und gibt dem Türsteher eine Chance. Aber allzu viel Vernunft scheint ein Kreativitätskiller zu sein. Jedenfalls liegt die Quelle der Kreativität im Unbewussten, aber nur Manie und nur Depression macht keinen kreativen Menschen.

Weil das Gehirn eine nur geringe Verarbeitungskapazität hat, konzentriert es sich selektiv auf relevante Informationen. Selektive Wahrnehmung ist offenbar nicht von vornherein ein Neurotizismus, wie Adler meinte, sondern eine strukturell vorgegebene Arbeitsweise des bewusst arbeitenden Teils des Gehirns. Es interessiert sich für übergeordnete Konzepte, die sich aus den Details ergeben. Informationen werden eingedampft auf wichtige Kategorien wie bekannt-unbekannt, Feind-Freund, gefährlich-ungefährlich, essbar-ungenießbar etc. Das Gehirn unterdrückt Details zu Gunsten eines überschaubaren Gesamtbilds. Das Gehirn ist darauf angelegt, Muster zu erkennen, beispielsweise Gesichter. Ohne die Details eines Gesichts im einzelnen zu realisieren, erkennen wir ein bekanntes Gesicht in Bruchteilen von Sekunden wieder. Wir erkennen auch Muster, wo keine sind: in den Wolken, im Sternenhimmel, auf der Mondoberfläche oder im Kaffeesatz. Je starrer und eingefahrener diese Muster, desto mehr pressen wir die Wirklichkeit in unsere Schemata.

Als Kind lernen wir (in der synthetischen Methode) erst die Buchstaben, dann die Wörter und dann lesen wir die Sätze. Als Erwachsene sehen wir nicht mehr die Buchstaben, allenfalls noch einzelne, schwierige Wörter, und nicht einmal mehr die Sätze, sondern wir behalten nur noch die Bedeutung im Kopf. Alle Details, die keine Bedeutung für das Ganze haben, werden eliminiert. Der Trend zu optischen Zusammenfassungen ist ein Problem für das Erkennen und für die Frage, was Realität ist. Sprache effektiviert die Kooperation, macht aber zugleich blind für die sinnlichen Details der Wirklichkeit. Der Logos – sowohl das Sprechen als auch das Denken – hat seine Grenzen und sollte, so Kast, durch die eher assoziative Bildersprache in Liedern und Lyrik ergänzt werden.

Gerald Mackenthun, Februar 2008      email



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