Hillman, James: Vom Sinn des langen Lebens. Wir werden,
was wir sind. Aus dem Amerikanischen von Karin Peters. Kösel-Verlag,
München 2000 (The Force of Character and the Lasting Life, New York
1999)
Kaum etwas interessiert die Menschen mehr als Gesundheit. Ein expandierender
Industriezweig lebt davon, die Menschen "fit for fun" und ihre Körper
zu gut geölten Maschinen zu machen, zu Werkzeugen im Dienste gesteigerter
Lebenslust. Während in jungen Jahren die legitime Lust am Körper
dominiert, wird dem Alter mit eher gemischten Gefühlen entgegengesehen.
Ist ein möglichst langes Leben wirklich wünschenswert, zumal
wenn die letzten Jahre ein Siechtum und eine Quälerei sind? Unermüdlich
wird ermahnt, sich bis ins hohe Alter gesund zu erhalten, damit nicht die
Kosten des Gesundheitswesens explodieren, von einer verlängerten Lebensspanne
als Selbstzweck ist kaum je die Rede.
Der amerikanische Psychologe James Hillman, einer der bekanntesten Therapeuten
aus der Richtung Carl Gustav Jungs und selbst auch schon jenseits der Pensionsgrenze,
will die Angst vor dem Alter nehmen und die alte Frage beantworten, warum
denn ein langes Leben überhaupt wünschenswert sei. Eine positive
Antwort darauf ist keineswegs selbstverständlich. Viele Menschen leben
in der Hoffnung, das Leben in körperlicher Unversehrtheit zu genießen,
um dann die Augen rechtzeitig zu schließen, wenn der Organismus eine
Plage und Belästigung wird. Andere wiederum achten hypochondrisch
auf jede Zuckung ihres Leibes, um Anzeichen einer ernsten Erkrankung ja
nicht zu übersehen. Wer ist glücklicher? Jene, die unbekümmert
um die Folgen aus dem Vollen schöpfen oder jene, die auf ein langes
Leben hinarbeiten? 80 Jahre alt zu werden ist heute für viele eine
realistische Perspektive. Was tun mit den geschenkten Jahren?
Der Autor geht von der Grundannahme aus, dass ein möglichst langer
Alterungsprozeß "von der Seele gewollt" wird. Die Seele "beabsichtigt"
demnach, dem Charakter vorzugsweise eine lange Zeitspanne zur wahren Ausprägung
und Bestimmung zu lassen - wir sollen werden, was wir sind. Die Bestimmung
ist das "leidenschaftlich-neugierige Heranreifen zu dem, was der Kern unseres
Wesens ausmacht". Je länger wir leben, desto mehr kommt unsere wahre
Natur zum Vorschein. Genau das sei der Sinn des langen Lebens: "Die letzten
Jahre festigen und füllen den menschlichen Charakter." Nicht das Alter
verändert uns, sondern der in uns angelegte Charakter prägt sich
weiter aus und gewinnt an scharfer Kontur. Die Auswirkungen körperlicher
Altersveränderungen hält Hillman für nicht so erheblich,
"was sich im Alter verändert, beruht nicht auf den Jahren, sondern
auf dem Charakter".
Carl Jung postulierte, die Jahre ab 40 sollten der Introspektion oder
"Introversion" gewidmet werden, nach den Jahrzehnten jugendlicher Expansion.
Hillman versucht, die morbiden Vorstellungen vom Alter wie auch die Angst
vor Einsamkeit und Armut in einem öden Altersheim über Bord zu
werfen. Alt sein habe auch einige Vorteile: Unbelastet von einem anstrengenden
Beruf können alte Hobbys zum Zuge kommen und Fertigkeiten vertieft
werden. Jetzt darf man als Älterer auch mal den Mund aufmachen, um
unangemessenes Verhalten zurückzuweisen. Alte dürfen gegenüber
Jüngeren Autorität zeigen, vorausgesetzt, sie vertreten höhere
Werte. So können sie, wenn alles gut geht, einen Samen in Jüngere
pflanzen, der vielleicht aufgeht. Dann werden sich die Nachwachsenden an
diesen einen Menschen erinnern, an seinen Charakter, den er in die Waagschale
warf, als es um etwas Wichtiges ging. Was bleibt vom Menschen? Hillman
hofft, die "Kraft des Charakters", womit er offenbar Authentizität
im Alter als auch die Erinnerung an die von uns gegangenen Menschen meint.
Hillmans Grundannahmen sind allesamt ungesichert und fragwürdig.
Der Seele kann keinen eigenen Willen über dem Körper zugesprochen
werden, auch nicht die Absicht, den Charakter zur "wahren Ausprägung"
zu verhelfen. Ein Charakter ist immer "wahr", unabhängig vom Alter.
Hillmans blinder Optimismus über die Möglichkeiten des hohen
Alters kontrastiert mit der ebenfalls von ihm vertretenen Formeln "Charakter
ist Schicksal" und "das genetische Erbe nimmt durch unseren Charakter Form
an". Es stimmt, die Charaktere unserer Eltern sind in uns, ob wir wollen
oder nicht. Der Alterungsprozeß verändert Körper wie Charakter,
nicht nur durch neue Herausforderungen, die durch körperliche Einschränkungen
immer schwerer zu meistern sind, sondern vermutlich auch durch morphologische
Veränderungen im Gehirn.
Und was ist unsere "wahre Natur"? Folgt man Hillmans Authentizitäts-These,
dann sind das unsere Spleens und Einseitigkeiten. Soll sich der Kern unseres
Wesens in unseren Verschrobenheiten des Alters ausdrücken, die andere
nur noch nerven, so wie der Compte de Mortsauf in Balzacs "Die Lilie im
Tal" seiner Frau und allen andern zunehmend zur Last fällt? Ein Charakter
kann auch der eines Neurotikers sein. Welche Botschaft kann denn ein unbrauchbarer
Charakter zum geistigen Überleben beisteuern? Etwa: Wir sollen unseren
Zorn zügeln, unsere Liebe zur Vollkommenheit entwickeln und unserem
Willen eine moralische Richtung geben (S.302)? Wohl kaum.
Hillman laviert auf 337 Seiten zwischen Authentizität und Tugend.
Echten Herzenstrost vermag er nicht zu spenden, denn tot ist tot und zurück
bleiben Trauer oder Wut oder beides. Der Charakter des Ehepartners wirkt
weiter, ob er nun in Liebe oder in Unfriede gegangen ist. Er gibt uns zum
Schluß noch den guten Rat mit auf den Weg, uns zu Lebzeiten unentbehrlich
zu machen, so daß wir wenigstens eine schattenhafte Spur hinterlassen,
wenn wir abtreten, eine Lücke, die andere als unauffüllbar betrachten.
Das ist kaum mehr als die Allerweltsweißheit der Stammtischbrüder
und Klatschweiber, aber Hillman überbietet diese Niveau nur scheinbar,
wenn er einige schöne und erhellende Gedanken bedenkenlos mit griechischer
Götterlehre, Alchimie, Esoterik, Biologie, Genetik, Psychoanalyse
und Astrologie verrührt. Die Amerikaner nennen das "Spiritualität".
Hillman ist ein grauenhafter Stilist, Seiten um Seiten füllt er
mit einer unstrukturierten Ansammlung zufälliger Lesefunde, er hüpft
vom Charakter des Marshalls Pétain zu Platons "Staat" zu T.S.Eliot
zu Thoms Browne zu griechischen Mythen zu C.G. Jung zur Molekularbiologie
zu Grabinschriften zu ein paar Socken und so endlos fort ohne einen einzigen
greifbaren Gedanken. Das soll kurzweilig sein oder Belesenheit suggerieren,
doch tatsächlich ist es ermüdend; der Psychologe findet einfach
keinen roten Faden. Einige Ideen sind auch schlicht bizarr. "Das Gesicht
offenbart den Charakter", postuliert er, die Alten sollen ihr authentisches
Gesicht zeigen. Bei Hillman führt das zu einer Verdammung des Facelifting,
das zum moralischen Verfall Amerikas mehr beigetragen habe als die amerikanische
Bürgerrechts- und Studentenbewegung der 60er Jahre (S.239).
Sein Buch ist ein verzweifelndes Anplappern gegen die simple Tatsache,
dass der Tod ein großes schwarzes Loch ist, das jeden Einzelnen verschlucken
wird. Er versucht, sich Solidarität und Einverständnis zu erheischen
durch eine unangenehm anbiedernde "Wir"-Verbrüderung, "wir müssen
erkennen...", "wenn wir beginnen...", "wir benutzen die Worte...". Hätte
Hillman von sich geschrieben, mein Mitgefühl mit diesem alten Mann
wäre ihm sicher gewesen.
Die Undiszipliniertheit des Geistes scheint eine Hinterlassenschaft
Carl Jungs zu sein, der ein Mystiker und Träumer inmitten eines modernen
Europas war. Jungs Charakter wirkt in Hillman, das bestätigt in gewissem
Sinne die Grundthese des Amerikaners, und ein wenig färbte er offenbar
auch auf die Übersetzerin ab. Was, um Himmels willen, waren das für
Moskauer Großmütter, "die sich vor die russischen Tanker hinstellten
und sie zum Anhalten brachten?" (S.285) Je mehr "wir" lesen, desto unabweisbarer
wird das Gefühl: Schade um die Zeit, die "uns" dieses Buch gekostet
hat.
Gerald Mackenthun, Berlin
01.10.2000
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