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Hedges, E.L.: Sex in Psychotherapapy: Sexuality, Passion, Love, and Desire in the Therapeutic Encounter. 234 S., Routledge (New York/London). 2010


Endlich wagt ein psychoanalytischer Autor den Stier des Umganges mit Erotik und Sexualität in therapeutischen Beziehungen bei den Hörnern zu packen! Die Aporie formulieren Pope u.a. (1986, 1993)1: Einerseits, »[d]ie überwiegende Mehrheit von Therapeut/innen (87%) berichtet, dass sie sexuelle Anziehung zu Klient/innen erlebt haben«; andererseits, »Sexualität in Therapeut/innen wird in Weiterbildungsprogrammen kaum angesprochen«. Allzu lange herrschte vor dem Erotisch-Sexuellen in der analytischen Literatur – oft auch in der klinischen Praxis – Furcht und Vermeidung, zum Teil sogar »erotic horror« (Kumin 1985, Int.J. psy-anal Psychother. 11, S. 3–20). André Green beklagte eine »antisexuelle Haltung […] innerhalb der Psychoanalyse« (Psyche 1998, 52, S. 1170–1191). In Muss denn Liebe Sünde sein? (1991) weisen Krutzenbichler & Essers nach, wie sehr Eros und Sexualität in der Geschichte der Psychoanalyse schon immer ein Stein des Anstoßes waren und nicht selten zu missbräuchlichen Übergriffen von Therapeuten führten.

Hedges bemüht sich aufzuzeigen und theoretisch wie klinisch zu reflektieren, wie komplex und intrinsisch Sexualität, Leidenschaft, Liebe und Begehren alle menschlichen Beziehungen durchdringen, erst recht die besondere Intimität psychotherapeutischer Begegnungen. »Sex«, schreibt Hedges – es ist sein Kürzel für Geschlechtlichkeit in allen ihren Erscheinungsformen –, ist allgegenwärtig in den Übertragungen und Gegenübertragungen therapeutischer Begegnungen, »[im] unendlich komplexen Zusammenspiel von Sex, Geschlecht und [den] Identitäten beider Teilnehmer« (S. 168). »Wir tun gut daran, uns selbst und unsere Klienten stets darüber zu befragen, welche ihre und unsere eigenen sexuellen Interessen, Eigenarten, Begehren, Identitäten und Aktivitäten sind« und wie wir zu unseren eigenen subjektiv definierten sexuellen Einstellungen und Geschlechtsidentitäten gekommen sind« (S. xx).

Lawrence E. (Larry) Hedges, ist niedergelassener Psychologe-Psychoanalytiker in California (USA), Leiter des Listening Perspectives Study Center, Gründer, Supervisor und Lehranalytiker des Newport Psychoanalytic Institute und Autor mehrerer Bücher, u.a.: Terrifying Transferences: Afterschocks of Childhood Trauma, 2000; Therapists at Risk: Perils of the Intimacy of the Therapeutic Relationship, 1997; Interpreting the Countertransference, 1992. Im vorliegenden Buch untersucht er »Sex in Psychotherapie« von einem psychodynamisch-psychoanalytisch, intersubjektiven Standpunkt aus. Seine relational »zuhörenden« (listening) Perspektive hebt vorzugsweise den Charakter und die Dynamik der therapeutischen Interaktion vor inhaltlicher Interpretation hervor.

»Entgegen wissenschaftlicher Objektivität und zugunsten von Subjektivität und Intersubjektivität vertrete ich den Standpunkt, dass die einzigen für Therapeuten wertvollen Theorien diejenigen sind, wie man zuhören und emotional präsent sein kann für die Erzählungen der Menschen, die mit uns über ihr Leben reden wollen. […] Eine tiefgreifende Verschiebung mentaler Organisation seitens des therapeutischen Zuhörers ist erforderlich: nicht die Suche nach dem, was beim Sprecher ›wirklich da ist‹, sondern ein Beachten des Erlebens von mutueller und reziproker Beeinflussung im intersubjektiven Feld« (S. 52–53).

Hedges »listening perspective« fokussiert die entwicklungsmäßigen Aspekte der internalisierten Beziehungserfahrungen beider Teilnehmer am Therapiegeschehen, so wie sie im Hier-und-Jetzt der therapeutischen Beziehung zum Vorschein kommen: »Als professionelle Zuhörer [gilt es], uns selbst als lebendige menschliche Teilnehmer zu erleben, wie wir in einer vollwertigen emotionalen Beziehung mit jemandem involviert sind, der bestrebt ist, seine eigene Lebenserfahrung zu erfassen und mitzuteilen« (S.37). Es geht in den Interaktionen der therapeutischen Beziehung um das Zusammenfließen von intersubjektiven Welten, Kulturen, Idiomen und Geschichten als Grund und Grundlage für Erkenntnis, Veränderung, Reifung und Heilung.

»Alle denkbaren Kombinationen von persönlichen, interpersonalen und Übertragungs-/Gegenübertragungs-Aspekten und Austausch fließen in die reale Beziehung ein. Was sie in jedem der Therapie-Partner auslösen und bewirken, muss in diesem zwei-Personen-Modell von Interaktion, Unterhandlung und Anerkennung genau beachtet werden. […] Mit einer relationalen Linse können wir erkennen, dass die erotische Dynamik, Bilder und Erfahrungen aus der kindlichen Vergangenheit beider Therapiepartner notwendigerweise in der therapeutische Beziehung in einer oder anderer Gestalt reproduziert oder inszeniert (enacted) werden, so dass die einschränkenden internalisierten Objektbeziehungsstrukturen von Sex, Sexualitäten, Geschlecht und Geschlechtsidentität beider erkannt und therapeutisch durchgearbeitet werden können« (S. 39 und 40).

Das Buch beginnt mit einem kurzen geschichtlichen Umriss über die enorme soziokulturelle Verschiedenartigkeit menschlicher Sexualitäten durch die Jahrhunderte sowie die weitreichenden Folgen von neueren neurobiopsychologischen Forschungen und Theorien für das Verständnis von Sexualität (Einführung, S.xiii – xxxi). Teil 1 (Kap. 1) stellt dann zehn moderne »Perspektiven« dar, die revolutionäre Folgen für psychotherapeutische Annäherungen an Sex und Sexualität beinhalten. Teil 2 (Kap. 2–6) untersucht nach entwicklungspsychologisch geordneten Gesichtspunkten sechsundzwanzig veröffentlichte Berichte über tatsächlich stattgefundene sexualisierte Begegnungen in und deren Folgen für die Therapie. Darunter sind Fallbeispiele von Searles, Ogden, Orbach, Mitchell (2), Gorkin (3), Hedges (2), Kernberg, McDougall u.a.

Ein besonderer Höhepunkt psychoanalytischer Kasuistik ist die ausnehmend offene Darstellung von Suzanne Buchanan, eine junge Supervisandin von Hedges, die ihre sexualisierte Gegenübertragung (»In der Schlinge des Eros«, S. 66–77) ausführlich erzählt. Mithilfe der Supervision gelang es, die heftig sexualisierten Gefühle (samt Verwirrung, Scham, Schuld) und sexuellen Triebimpulse der Therapeutin im Sinne einer induzierten, impliziten Kommunikation ihres Patienten aufzudecken und für die Therapie fruchtbar zu machen. Im Rahmen der zuhörenden, (»listening«) Perspektive auf die Übertragungsdynamik, einschließlich der inhärenten Prädisposition der Therapeutin in der Gegenübertragung so zu reagieren, erwiesen sich ihre emotionalen und triebhaften Reaktionen als eine Spiegelung des vorbewussten entwicklungsspezifischen Erlebens (»organizing experience«) ihres Patienten auf einer früh-oralen/intentionalen Strukturebene.

Insgesamt zeigen diese therapeutischen Vignetten auf vielfältige Weise, wie »Sex« in der therapeutischen Beziehung oft dazu dient, ein fragmentiertes Selbstgefühl oder ein Selbstwertdefizit aufzufangen. Teil 2 schließt mit einem kurzen Kapitel über »autonome Beziehungsfähigkeit« auf ödipaler Ebene.

In Teil 3 (Kap. 7) anhand von drei eigenen Behandlungen beschreibt Hedges zusammenfassend, wie Sex in Übertragung, Widerstand und Gegenübertragung bedeutsam wirkt. Er schlussfolgert, dass wir nicht länger phobisch vor Sexualität in Therapien zurückschrecken müssen, sollen, dürfen. Vielmehr gilt es, Sex und Sexualität, Geschlechtlichkeit insgesamt, als unumgänglichen, kritischen Aspekt einer ethisch geführten relationalen Psychotherapie entwicklungsfördernd einzubinden.

Von besonderem Interesse finde ich Hedges »scharfe Unterscheidung« (S. 168) im therapeutischen Gebrauch der Gegenübertragung zwischen persönlichen Enthüllungen (»disclosures«) und zum Teil sehr persönlichen Gegenübertragungs-Interpretationen. Letztere sind Mitteilungen des Therapeuten innerhalb des fortlaufenden interpersonalen Prozesses über seine subjektiven Erfahrungen in der Beziehung zum Klienten. Die Interpretationen weisen auf präverbale oder unbewusste emotionale Erlebnisse von früher Bezogenheit (meist aber nicht nur defizitärer oder zerstörerischer) in der Kindheit des Klienten (»und oft des Therapeuten«, S. 157) hin, die in der laufenden therapeutischen Beziehung reproduziert oder enacted werden (S. 156f). Im Falle der Wiederbelebung von Früherfahrungen des Therapeuten handelt es sich häufig um die implizite Kommunikation an den Therapeuten von noch vorbewussten, prägenden Erlebnismustern seines Klienten – was man früher eine spiegelbildliche konkordante oder komplementäre Gegenübertragung nannte.

Anders ausgedrückt (R.W.): Unbewusst, im Rahmen des sogenannten »gemeinsamen Unbewussten« (C.G. Jung), benutzt der Klient psychodynamisch relevante Gedächtnisbilder (Objektbeziehungserlebnisse) des Therapeuten, um sich in der impliziten Kommunikation der therapeutischen Ko-Produktion mitzuteilen. Der Therapeut erlebt interaktiv am eigenen Leib (leibhaftig in den gefühlsbetonten Repräsentanzen seiner eigenen Geschichte) die implizite Kommunikation seines Therapie-Partners mit einer ganz anderen empathischen Erlebnisdichte als bei den verbal-bewussten Mitteilungen des Klienten. Durch die Verankerung im kinetisch-viszeralen Erleben des Therapeuten können prozessrelevante persönliche Mitteilungen des Therapeuten über sein eigenes Erleben, d.h. Gegenübertragungsinterpretationen, aber auch andere, etwa körpertherapeutische Interventionen, eine verändernde Wirkung entfalten.2

Im Falle von Enthüllungen (»disclosures«) handelt es sich hingegen um scheinbar grundloses, nicht prozessrelevantes Erzählen aus den Leben und Erleben des Therapeuten, das vom Therapiegeschehen ablenkt oder, schlimmstenfalls, zu sexualisierten Ausrutschern auf der »schlüpfrigen Schräge erotischer Verstrickung« (»the slippery slope of erotic entanglement«, S. 159) führen kann. In solchen Mitteilungen vermutet man sicher zu Recht einen Gegenübertragungs-Widerstand, mit dem der Therapeut einen eigenen Konfliktstoff vermeidet oder gar bewusst oder unbewusst eine zerstörerische Eigenagenda verfolgt.

Entscheidend für die Zulässigkeit persönlicher Mitteilungen des Therapeuten ist in jedem Fall deren interpretative Relevanz für den therapeutischen Prozess des Klienten, als Deutung, als Konfrontation oder als Modell, mit denen der Klient sich ebenfalls auf dem Weg zur tieferen Selbstfindung auseinandersetzen kann. In diesem Sinne (Gegenübertragungs-Interpretation) schließt Hedges die wohl überlegte Mitteilung auch erotisch-sexueller Bilder und Erlebnisse ein, während er gleichzeitig jegliche Form sexualisierter (genauer: sexualisierender – R.W.) Energie, Bilder oder Erlebnisse scharf ausgrenzt (a.a.O.). Ausschlaggebend sind stets »Feingefühl, zeitliche Abstimmung und empathischer Ausdruck« (»tact, timing and judicious expression«, S. 160).

Ein besonders aufschlussreiches Beispiel solchen Gebrauchs der Gegenübertragung als Deutungs-»Werkzeug« (S. 158) ist der dritte von Hedges Fallberichten: In der langjährigen analytischen Bearbeitung von Charles perseverierender hartnäckiger sadomasochistischer Selbsterniedrigung wurde der Therapeut immer wieder zum affektvollen Gegenagieren verleitet, bis ihm (Hedges) eines Tages ein hoch erotisch-sexuell aufgeladener »Flash« durch den Körper schießt. Er erkennt und interpretiert: »This is sexual! […] our way of fucking« (S. 162f). In der Erläuterung dieses Flashes wird beiden deutlich, wie sehr der nicht als erotisch erkannte, kollusive Beziehungsprozess die sadomasochistisch-inzestuöse Erniedrigung von Charles durch seinen Vater wieder inszenierte. Charles erkennt in dieser Vaterbeziehung: »Es war die einzige Lebendigkeit und Aufregung, die ich kannte!« (S. 165) Erst beim Verfassen des Fallberichtes wurde Hedges bewusst, wie sehr ihn in der Prozessdynamik mit Charles ein Aspekt seines eigenen Vaterverlustes wieder einholte.

Schließen möchte ich mit zwei Zitaten von Otto Kernberg zur »Liebe im analytischen Setting« 3, die als Zusammenfassung, Ziel und Zweck dieses Buches stehen können:

»Der Analytiker, der sich frei genug fühlt, die eigenen sexuellen Empfindungen gegenüber dem Patienten zu erkunden, ist in der Lage, den Charakter der Übertragungsentwicklungen richtig einzuschätzen, und kann so eine abwehrende Verleugnung der eigenen erotischen Reaktion auf den Patienten vermeiden. Zugleich muss er imstande sein, die Übertragungsliebe zu erkunden, ohne die eigene Gegenübertragung zu agieren, indem er sich verführerisch verhält. Die erotische Übertragung des Patienten kann sich in nichtsprachlichem Verhalten, in einer Erotisierung seiner Beziehung zum Analytiker äußern; der Analytiker sollte darauf so antworten, daß er den abwehrenden Charakter der unausgesprochenen Verführung untersucht, ohne selbst zu einer Erotisierung der Behandlungssituation beizutragen oder den Patienten abwehrend zurückzuweisen« (S. 176).

»Dieses Verständnis setzt voraus, daß der Analytiker emotional auf seine eigene Bisexualität eingestimmt sei und außerdem eine Intimitäts- und Kommunikationsschranke durchbricht, wie das sonst nur in den Höhepunkten der sexuellen Intimität eines Paars geschieht. Die Aktivierung einer intensiven und komplexen Gegenübertragung, die wahrscheinlich toleriert und für die therapeutische Arbeit verwertet werden kann, ist ein einzigartiges Kennzeichen der psychoanalytischen Situation, das nur durch den Schutz möglich ist, den die Begrenzung der psychoanalytischen Beziehung bietet« (S.177f).

Das Buch ist spannend und praxisnah geschrieben. Psychotherapeuten jeder theoretischen Orientierung finden hier eine Fülle von Anregungen, die zum Weiterdenken, Nachfühlen und Überprüfen anhand eigener therapeutischer Beziehungserfahrungen ermutigen. Ein bedeutsamer Beitrag zum Umgang mit Erotik und Sexualität in therapeutischen Beziehungen. Sehr zu wünschen wäre eine baldige Übertragung ins Deutsche.

1 Hedges, S.67; vgl. S.79. – Sämtliche Übersetzungen sind vom Rezensenten R.W.

2 Ausführlicher hierzu in: Ware, R.C. (2010): Ich höre Deine Scham. Der intersubjektive Umgang mit unaussprechbaren Affekten. Psychoanalyse und Körper Nr. 17, S. 18–23.

3 Hedges, S. 123. – Ich übernehme den deutschen Text aus dem gleichnamigen Kapitel in Kernberg, O.F. (1995). Liebesbeziehungen. Normalität und Pathologie. Stuttgart (Klett-Cotta), S. 176–178.

Robert Ware      
April 2017

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