Hautzinger, Martin:
Depression. Fortschritte der Psychotherapie, Band
4. Hogrefe Verlag für Psychologie Göttingen
Die inzwischen (Anfang 2006) auf weit über
20 Bände angewachsene Reihe „Fortschritte der
Psychotherapie“ will auf knappem Raum von jeweils unter 100
Seiten für den praktisch tätigen Psychotherapeuten
Informationen zur Diagnose, Differential-Diagnose und Therapie
einzelner psychischer Störungsbilder vermitteln. Diesem Anspruch
wird auch Band 4, der der Depression gewidmet ist, gerecht. Die
International Classification of Diseases in der gültigen 10.
Ausgabe (ICD 10) gibt alle nötigen Definitionskriterien für
die unterschiedlichen Ausformungen der Depression. Im ICD 10 findet
der Behandler einen zuverlässigen Leitfaden, der im Augenblick
kaum besser sein könnte. Was kann da ein praxisnahes Buch über
Depression dem Behandler nützen?
Autor Martin Hautzinger, Ordinarius für Psychologie der
Universität Tübingen, gibt einige nützliche Tipps: Die
Diagnose einer „endogenen Depression“ gilt heute als
veraltet und wird nicht länger gebraucht. Die Schwere der
Depression richtet sich nach der Zahl der depressiven Symptome und
nach deren Schweregrad. Leichte Depressionen sind eigentlich nicht
behandlungsbedürftig, schwere Depressionen sollte der Behandler
in seinem Bericht nicht angeben, da sie mit psychotischen Symptomen
einhergehen können und den Therapeuten eventuell überfordern.
Bleibt also die mittelschwere Depression, die als solche dann auch in
den Berichten an den Gutachter als einziger Schweregrad auftauchen
sollte. Um eine körperliche Erkrankung bzw. die Einwirkung von
Medikamenten, Drogen oder Alkohol als ursächlich für eine
depressive Erkrankung auszuschließen, ist eine körperliche
Untersuchung über den Konsiliarbericht unbedingt nötig.
Nicht ganz leicht abzugrenzen ist die Depression von der Dysthymie
sowie die bipolare Störung von der Zyklothymie, wofür das
Buch Unterscheidungshinweise gibt. Ferner ist zu beachten, aber das
dürfte allen Behandlern geläufig sein, dass die
Stimmungsstörung meist begleitet wird von somatischen
Veränderungen wie Schlafstörungen, Appetit- oder
Libidoverlust. Frauen sind häufiger betroffen als Männer,
Junge häufiger als Alte (eine Altersdepression ist eher selten).
Ein Risikofaktor ist das Fehlen vertrauensvoller persönlicher
Beziehungen, auch Disstress kann einer depressiven Episode
vorangehen. Die familiäre Belastung ist jedoch bei den
affektiven Störungen die einflussreichste Risiko-Variable,
schreibt Hautzinger. Er weist warnend darauf hin, dass nach
depressiven Episoden auch eine manische Phase auftreten kann. Die
Komorbidität bei Depressionen ist außerordentlich hoch,
was es schwierig macht, Ursache und Folgen zu benennen. Aus
retrospektiven Befragungen geht hervor, dass die Depression den
anderen Schwierigkeiten eher nachfolgten. Viele chronische
Krankheiten ziehen depressiven Störungen nach sich, ebenso
Zwänge, Essstörungen, Substanzmissbrauch, Schlafstörungen,
somatoforme Störungen. Am häufigsten aber sind Depressionen
mit Angststörungen assoziiert, schätzungsweise bei jeder
zweiten Depression.
Die Behandlung beginnt für Hautzinger mit einer
Problemanalyse, denn es gelte nicht, „die Depression“ zu
behandeln, sondern Probleme, die depressive Patienten haben, zu
erkennen, um daraus Ziele zu formulieren und Alternativen zu
erarbeiten. „Die Überwindung von Defiziten, die
Ressourcen-Orientierung, die Bewältigung zentraler
Problembereiche entlastet, schafft Struktur, baut Hoffnung auf,
aktiviert und macht zugänglich für weitere Veränderungen“
(S. 23). Der Patient soll sich Teilziele vornehmen, die in einer
realistischen Zeit erreicht werden können, was anhand einer
Zielerreichungsskala überprüft werden kann. Aus der
Zielklärung ergebe sich die Therapieplanung. Die in der Therapie
zu beachtenden Aspekte sind außerordentlich vielfältig.
Dazu gehören:
einzelne negative Lebensereignisse und
chronische Alltagsbelastungen
Risiko- und Vulnerabilitätsfaktoren
(unzureichende Sozialbeziehungen, Bewältigungsdefizite, Verluste
der Mutter in der frühen Kindheit, Arbeitslosigkeit, geringes
Selbstwertgefühl)
Persönlichkeitsaspekte wie z.B.
abhängige oder anankastisch-perfektionistische
Persönlichkeitsstile
Ungünstige zwischenmenschliche
Interaktionsmuster
Erfahrung der mangelnden Kontrolle und
erlernte Hilflosigkeit (führt zu Misserfolgserwartungen
hinsichtlich zukünftiger Ereignisse)
Dysfunktionale kognitive Schemata
infolge früherer ungünstiger Erfahrungen und Lernprozesse
Genetische Faktoren (Familienananese)
Gestörte Neurotransmission (mit verschiedenen Ansatzorten
und Hypothesen) mit der Folge von Schlafstörungen
Vorgestellt und vom Autor präferiert wird ein
mehrfaktorieller Erklärungsansatz, der freilich zu komplex ist,
als dass man ihn hier vorstellen könnte. Dieser Ansatz
berücksichtigt alle möglichen Entstehungsfaktoren und
auslösenden Ereignisse und erklärt den sich selbst
verstärkenden Teufelskreis einer Depression. Spätestens an
dieser Stelle wird klar, dass Hautzinger eine Verhaltenstherapie,
genauer gesagt eine kognitive Verhaltenstherapie, bei Depressionen
empfiehlt. Die speziellen ethiologischen Konstrukte von
Tiefenpsychologie und Psychoanalyse kommen nicht zum Zuge und es
stellt sich doch sehr die Frage, ob dieses Buch für diese Arten
des psychotherapeutischen Herangehens geeignet ist. Die kognitive
Verhaltenstherapie zeige in der Regel bessere Ergebnisse als eine
„interpersonelle Psychotherapie“ oder eine
„psychodynamische Fokaltherapie“, betont Hautzinger. Was
die kognitive Verhaltenstherapie betrifft, so stellt der Autor ein
Fünf-Phasen-Modell dar, erläutert ausführlich die
Fragetechnik und verhaltenstherapeutische Elemente wie Hausaufgaben.
Im Grunde läuft alles auf die sukzessive Steigerung angenehmer
Aktivitäten und die konkrete Verbesserung sozialer Beziehungen
hinaus. Der erste Schritt zur Bearbeitung kognitiver Prozesse ist das
Entdecken, das Beobachten und Protokollieren von gedanklichen
Verzerrungen. Der Autor gibt dazu ausführlich Anleitung. Das
Protokollieren negativer Gedanken ist eine Methode, doch nach meiner
Erfahrung sind Patienten kaum je in der Lage, ihre negativen Gedanken
in einer jeweils konkreten Situation anzugeben. Die Veränderung
automatischer Gedanken ist schwierig und langwierig und es ist nicht
anzunehmen, dass eine Kurzzeittherapie ausreicht.
Ebenso, wie sich die kognitive Verhaltenstherapie auf einen und
nur einen wesentlichen Aspekt des Gesamtproblems Depression
konzentriert, blendet die interpersonelle Psychotherapie die Mehrzahl
möglicher Ursachen aus und konzentriert sich auf die
psychosozialen und zwischenmenschlichen Erfahrungen des Patienten.
Diese Richtung verzichtet auf die Rekonstruktion früherer
Erfahrungen und hält vielmehr das „Hier und Jetzt“
in der therapeutischen Beziehung für ausschlaggebend. Für
die Berichterstattung an den Gutachter im Rahmen einer Psychoanalyse
oder einer tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie ist dieses
Buch also definitiv nicht geeignet. Die interpersonelle
Depressionstherapie wird wohl eher im stationären Bereich
akzeptiert.
Die Planung der Stunden, die Vergabe von Hausaufgaben und deren
kontinuierliche Besprechung stellen hohe Anforderungen an den
Therapeuten, deutlich höhere, als wenn ein Therapeut den
Patienten „kommen lässt“ und darauf wartet, dass
dieser die Tagesordnung bestimmt. Es ist dermaßen viel zu
beachten, dass der Autor kein einfaches Schema für Diagnose und
Behandlung vorlegen kann. Zwar liegen diesem Band, wie allen aus
dieser Reihe, herausnehmbare Handzettel bei, an denen sich der
Therapeut abarbeiten kann, die mir nicht sonderlich hilfreich zu sein
scheinen, da Erläuterungen teilweise fehlen. Auch anderes bleibt
wegen der Kürze der Darstellung auf der Strecke, beispielsweise
die Erläuterung einiger Abkürzungen oder Fachbegriffe (was
ist z.B. eine „Lage-Orientierung“?). Wie in den anderen
Büchern der Reihe auch werden Tests zur Diagnostik und
Erfolgsbeurteilung erwähnt, aus Copyright-Gründen jedoch
nicht dargestellt (z.B. den Beck-Depressions-Inventar). Die kognitive
Verhaltenstherapie scheint mir zudem eine rechte Zettelwirtschaft zu
sein, allein die Zielformulierung umfasst 36 Kästchen aus
verschiedenen sozialen Bereichen und der kurzfristigen,
mittelfristigen und langfristigen Perspektive. Auch die Hausaufgaben
müssen formuliert, festgehalten, diskutiert, überprüft
und in ihrem Erfolg dokumentiert werden. Mein Haupteinwand aber
besteht darin, dass dieses Buch für den niedergelassenen
Psychotherapeuten, sofern er Psychoanalytiker oder Tiefenpsychologe
ist, kaum geeignet ist.
Gerald Mackenthun, Magdeburg
Januar 2006
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