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Hasler, Felix: Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung. transcript Verlag Bielefeld, 2. unveränderte Auflage 2013, 264 Seiten, kartoniert.


Im Jahrhundert des Gehirns werden die kritischen Stimmen immer lauter. Der Mensch ist mehr als die bunten Bilder aus dem Hirnscanner suggerieren, vor allem ist viel weniger verstanden, als von den Hirnforschern und Pharmakologen behauptet wird.

Was sehen wir eigentlich, wenn wir die Bilder des fMRT betrachten? Zunächst sind die Bilder das Ergebnis komplizierter Rechenoperationen, deren Fehlerquellen Legion sind. Angeblich wird der erhöhte Sauerstoffverbrauch gemessen, der als indirekter Hinweis auf neuronale Aktivität gewertet wird. In Tierversuchen wurde dies zwar durch Direktmessungen verifiziert. Allerdings gab es auch neuronale Aktivität, die zu einer Verengung der Blutgefäße führte. Dass wir dem Gehirn bei der Arbeit zuschauen, ist ansich schon eine grobe Vereinfachung, da die indirekte Messung des Blutstromes bestenfalls einige hundert Millisekunden benötigt, um überhaupt dargestellt zu werden. D.h., dass die Neuronen längst mit anderem beschäftigt sein können.
Wie problematisch die scheinbar gesicherten Aussagen sind, wird etwa an einem Vergleich von 114 Studien zur Aktivität der Amygdala deutlich:

Knapp die Hälfte der insgesamt 339 mit "Amygdala" gekennzeichneten BOLD-Signale gehört mit einer Wahrscheinlichkeit von über 80 Prozent tatsäch­lich zu den Mandelkernen. Zwölf Prozent der "Amygdala"-Signale kommt gar auf eine Wahrscheinlichkeit korrekter Zuordnung von null Prozent. In Tat und Wahr­heit kamen hier die fMRT-Signale nämlich aus den Hippocampi (S. 49).

Junge Psychologen lieferten auf der Human Mapping Konferenz 2009 in San Francisco die fMRT Bilder von einem Atlantischen Lachs. Sie legten ihn in den Scanner und zeigten ihm Bilder von sozial interagierenden Menschen, just wie es in Untersu­chungen am menschlichen Gehirn üblich ist. Das pikante an dem Experiment: Der Lachs war schon tot. Nach üblicher statistischer Auswertung der fMRT-Daten, zeigten sich Stellen mit erhöhter Akti­vität im post-mortem Gehirn des Lachses. Das Signifikanzniveau lag im durchaus gebräuchlichen Rahmen bei p=0,001.
Und in einer retrospektiven Analyse von fMRT-Studien wurde deutlich, dass bei 25 bis 40 Prozent der Ergebnisse keine notwendigen komplexen statistischen Korrekturen vorgenommen wurden. Tat man dies beim Lachs sehr gründlich, gab es auch keine bunten Flecken mehr auf den Bildern zu sehen.

2004 bezweifelten bereits führende Hirnforscher in einem Manifest die Sinnhaftigkeit dieser Art von Suche nach Verständnis der Hirnaktivität:

"Die Beschreibung von Aktivitätszentren mit PET oder fMRI und die Zu­ordnung dieser Areale zu bestimmten Funktionen oder Tätigkeiten hilft hier kaum weiter. Denn dass sich all das im Gehirn an einer bestimmten Stelle abspielt, stellt noch keine Erklärung im eigentlichen Sinne dar. Denn 'wie' das funktioniert, darüber sagen diese Methoden nichts, schließlich messen sie nur sehr indirekt, wo in Haufen von hunderte Tausenden von Neuronen etwas mehr Energiebedarf besteht. Das ist in etwa so, als versuchte man die Funktionsweise eines Compu­ters zu ergründen, indem man seinen Stromverbrauch misst, während er ver­schieden Aufgaben abarbeitet" (S. 55f).

Nicht viel besser steht es um die Psychopharmaka. Es ist nicht mehr von der Hand zu weisen, dass die Industrie durch geschickte Manipulationen ihren Bedarf selbst schafft. Der Hype um die Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) erweist sich als Märchen. Dass es sich überhaupt bei der Verursachung von Depressionen um einen Serotoninmangel handelt, ist nicht eigentlich nachgewiesen. Prozac und Co. sind weder so wirksam wie behauptet, sondern sogar recht gefährliche Substanzen, die - auch wenn wir nicht wissen wie - tief in den Chemismus des Gehirns eingreifen. Bei Fluoxetin, dass heute gerne verschrieben wird, zeigte sich, dass es in sechs von sieben Untersuchungen weniger wirksam war Imipramin. Und Fluoxetin ist in Deutschland weiter in Gebrauch, wenn auch nicht unter dem Handelsnahmen Prozac.
Am 4.9.2012 schreibt die "ZEIT-online", dass der Nachweis für die Wirksamkeit der SSRI fehlt, ja dass sie kaum wirksamer sind als Placebos. Es bestehen "sogar erhebliche Zweifel daran, dass der anvisierte Botenstoff Serotonin überhaupt verantwortlich ist für die Entstehung von Depressionen".

Und haben die Depressionen wirklich zugenommen? Ausbeuterische Arbeitsbedingungen hat es z.B. auch früher gegeben; wahrscheinlicher ist die höhere Akzeptanz psychischer Störungen innerhalb der Bevölkerung, die zu früherer Behandlung führt.

Ein Teil der Erklärung könnte aber auch sein, dass die Schwelle, sich selbst als depressiv wahrzunehmen, seit den 1980 Jahren kontinuierlich gesun­ken ist. Während es für viele Menschen früher einfach zum normalen Leben ge­hörte, gelegentlich Phasen der Traurigkeit, Energiearmut und Hoffnungslosigkeit zu durchleben, schreiben wir einem solchen Zustand heute schon sehr schnell einen Krankheitswert zu. Mit dazu beigetragen haben ohne Zweifel die zahlrei­chen Krankheitsaufklärungs-Kampagnen der pharmazeutischen Industrie (S. 118).

Dies wird auch an den Diagnosekriterien der neuen DSM V deutlich, wo eine depressive Verstimmung mit dreimonatiger Dauer schon Krankheitswert erhält. Nachgewiesen ist lediglich, dass Psychotherapie hilfreich ist, um solche seelischen Krisen nicht zu Krankheiten werden zu lassen. Dabei kommen Studien zu dem Schluss, dass 82 Prozent der Besserungen Placebos zuzuschreiben sind. Und so kommen denn auch die Epidemiologen Kirsch und Kollegen zu dem Schluss, dass es

"wenig Grund gibt, die Verschreibung von Antidepressiva an Patienten zu un­terstützen, die nicht schwerst depressiv sind - außer alternative Behandlungsme­thoden hätten keinen Erfolg gezeigt" (S. 139).

Psychotherapeutische Verfahren sind u.a. deshalb effektiver, weil sie nachhaltiger sind, wie in einer schwedischen Untersuchung gezeigt werden konnte. Z.B. besserte sich der Zustand der Patienten nach Abschluss einer Psychoanalyse kontinuierlich weiter.

Schon lange ist bekannt, dass Antidepressiva nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen Hypomanien und Manien auslösen können. Und da sich der Organismus an veränderte Situationen anpasst, etwa an die Aufnahme von Psychopharmaka, kommt er auch nicht gut damit zurecht, wenn sie wieder abgesetzt werden. Jedenfalls ist die Rückfallquote für Depressionen bei Patienten, die Antidepressiva erhielten höher als die, die keine erhielten. Ja, die Patienten, die mit Antidepressiva behandelt wurden waren durchschnittlich 19 Wochen im Jahr depressiv, die ohne Psychopharmaka nur 11 Wochen (S. 169). Das wusste schon Emil Kraepelin: Auch wenn es seine Zeit braucht, die u.U. mit großen Leiden verbunden ist, so vergehen die meisten Depressionen in der Regel von selbst (S. 171).

Anstatt krankheitsbedingte "chemische Ungleichgewichte" zu korrigieren, verursachen Psychopharmaka - die wohl zutreffender "Neuropharmaka" genannt werden sollten - diese nämlich erst (S. 161).

Erschreckend ist das Ergebnis einer Prüfung von Tausenden von Krankenakten aus dem Zeitraum von 1997-2001. Forscher der Yale University School of Medicine stellten dabei fest, dass Patienten mit der Diagnose Depression oder Angststörung in 7,7 Prozent pro Jahr zu bipolaren Patienten werden (S.165).

Ein Mythos geht unter und die Pharmaindustrie zieht sich langsam aus der Erforschung psychischer Störungen zurück, trotz Dekaden der Forschung ist "die Neurobiolgie der Depression weitgehend unbekannt" geblieben und die Behandlung "nicht effektiver als vor fünfzig bis siebzig Jahren" (S.172).

Ein sehr eindrückliches Buch, gründlich recherchiert und dabei noch gut zu lesen.

Bernd Kuck, Bonn      
Juni 2014

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