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Haarer, Johanna/Haarer, Gertud: Die deutsche Mutter und ihr letztes Kind. Die Autobiografien der erfolgreichsen NS-Erziehungsexpertin und ihrer jüngsten Tochter. Herausgegeben und eingeleitet von Rose Ahlheim. 420 Seiten mit Abbildungen, Offizin-Verlag, Hannover, 2012


Seit dem kritischen Buch von Sigrid Chamberlain, Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind, liegen hiermit die Erinnerungen von Johanna Haarer und ihrer jüngsten Tochter vor. Johanna hat erst auf dem Sterbebett ihrer Tochter gegenüber ihren Irrtum eingeräumt, ansonsten strotzen ihrer Erinnerungen von Rechtfertigungen und Verharmlosungen und dem Bemühen, ihre Leistungen als Lungenfachärztin vor allem in der Zeit ihrer Internierung hervorzuheben. Es wird aber auch deutlich, dass neben der weit verbreiteten Abspaltung eigener Schuld, hier doch wesentlich eine eifrige Mitläuferin am Werke war, die allerdings in der Schaffung eines „Erziehungsbuches“, das auf der Linie der NS-Herrschaft lag, eine Verdienstmöglichkeit sah. Es ist wohl nicht anzunehmen, dass sie sich wirklich bewusst war, was sie da unter bindungstheoretischen Gesichtspunkten anrichtete. Außerdem konnte sie auf eine traurige Tradition der Gefühle abspaltenden Erziehung zurückgreifen. Autoritarismus und Preußentum waren nicht gerade gesellschaftliche Strömungen, die einen zärtlichen Umgang mit den Kindern pflegten. Und die Bindungstheorie gab es auch noch nicht zu dieser Zeit. Gleichwohl hat sie nie eingestanden, was sie da als NS Erziehungsideologie verbreiten half. Die Erinnerungen sind denn auch von einem völligen Mangel an Selbstreflexion gekennzeichnet. Ihre jüngste Tochter tat sich auch lange schwer, sich den Auswirkungen der NS-Haltung ihrer Mutter zu stellen. Sie ist nach deren Tod, nachdem sie sie gepflegt hat, in eine tiefe Depression gefallen, hatte sich da aber schon vorbeugend psychotherapeutische Hilfe geholt, weil sie ein Gespür dafür hatte, dass sie schon lange über ihre Kräfte gelebt hat. Daher ist die Lektüre ihrer Erinnerungen oder Aufarbeitung ungleich Anteil nehmender zu lesen.

In der Einleitung weist Frau Ahlheim, Kinder- und Jugendlichenanalytikerin, darauf hin, dass die Vorstellung, Kinder planmäßig und rational zu formen, wobei jede „Verwöhnung“ zu vermeiden sei, nicht nur in der Kinderheilkunde verbreitet war.

John Watson zum Beispiel, der Begründer der behavioristischen Psychologie, forderte seine Zeitgenossen dazu auf, Kinder weder zu umarmen noch zu küssen oder auf dem Schoß sitzen zu lassen.

Ebenso erhielten neugeborene Kinder bei korrigierenden Operationen keine Schmerzbetäubung1.

Johanna Haarer hatte selbst in ihrer Kindheit unter dem alkoholkranken Vater zu leiden, der oft genug die Existenz der Familie aufs Spiel setzte. Dafür hat sie sich furchtbar geschämt und hat wohl auch deshalb „viel zu viel frühe Verantwortung aufgebürdet“ bekommen.

Die ganze Bedeutung der „Initialszene“, denn Haarer beginnt ihre Erinnerungen mit einem Ausflug, bei dem neben der lustigen, Blecheier legenden Automatenhenne „biertrinkende Männer“ eine Rolle spielten, wird erst deutlich, als Gertrud Haarer von der mühsam verborgenen Alkoholabhängigkeit der Mutter erzählt.

Chamberlain hatte herausgearbeitet, wie eng die Bindungslosigkeit mit der Sehnsucht nach einem Verschmelzungsobjekt zusammen geht. Die Bindungslosigkeit stellt sich ihr als Hauptziel nationalsozialistischer Erziehung dar.

Der Einzelne ist keinem Mitmenschen verpflichtet und liebevoll verbunden, aber er genießt das Verschwimmen in der gleichgeschalteten Masse(38).

Wie zahllose andere Beteiligte am Machtgefüge der NS-Zeit auch, versuchte sie [Johanna Haarer, BK] nach deren katastrophalem Ende weiterzuleben, als wäre nichts gewesen, den Anschein von Normalität aufrecht zu erhalten. Sie bleibt die Starke, die im hohen Alter noch die behandelnden Ärzte mit ihrer Selbstbeherrschung beeindrucken kann – nach außen jedenfalls. Ihre Tochter Gertrud weiß es anders (40).

Diese früh gelernte Härte gegen sich selbst hat sie durch Schule und Studium perfektioniert. Vielleicht hat ihr dies auch die Zeit während der Internierung bei den Amerikanern durchhaltbarer gemacht. Dabei ist auffällig, dass bei der Lektüre nicht wirklich Anteilnahme aufkommen mag, muten doch die Härten verglichen mit den Gräuel, die den Juden und anderen Regimefeinden widerfuhren, gering an. Es stellt sich nicht wirklich ein Mitgefühl ein, weil der Eindruck zwischen den Zeilen entsteht, dass Johanna Haarer Mitleid erheischen möchte – doch selbst von dem anderen nichts gewusst habe, also selbst nur ein armes Opfer ist.

Die Erinnerungen von Gertrud Haarer sind da ungleich reflektierter. Sie erscheint dem Leser als dressierte Tochter, die nahezu keine Zärtlichkeit erfahren hat. Das höchste der Gefühle war, krankheitshalber auf dem Sofa im Arbeitszimmer der Mutter liegen zu dürfen. Das Verhältnis erinnert an eines zwischen Befehlshaber und Befehlsempfänger. Zwar gab es Versuche, sich aus der Abhängigkeit zur Mutter zu lösen. Jedoch kehrte sie auf Beschluss von Mutter und zukünftigem Ehemann aus London zurück. Bereits als Kind hatte sie unbewusst rebelliert und machte Schwierigkeiten in der Schule, konnte nicht lernen, indes den Schwestern alles zuzufliegen schien.

Die Autoritätshörigkeit der Tochter bildet die der Mutter ab. Als Gertrud die Mutter in die Sprechstunde zum „Professor“ brachte, sie selbst eine Einschränkung am Knie hatte, wollte sie den Professor bitten, sich das Knie anzuschauen. Johanna Haarer antwortete darauf „wie aus der Pistole geschossen“: „Das kannst du nicht machen, du kannst doch nicht eine Ordination schinden“. Schon vorher im Krankenhaus hatte Gertrud die Mutter nicht wiedererkannt. Bei der Chefvisite lag sie „wie ein verschüchtertes junges Mädchen“ im Bett und schien „vor Ehrfurcht erstarrt“.

Schockiert ist Gertrud, als sie schließlich nach dem Tod der Mutter alle ihre Bücher findet, wobei sie „Mutter, erzähl‘ von Adolf Hitler!“ als besonders erschütternd empfindet. Erstmals erschien dieses Buch 1939 und wurde 1941 in vierter Auflage 78.000 mal gedruckt. Das Machwerk strotzt nur so von antisemitischen Stereotypien und Verherrlichung des „Führers“ als rettender Lichtgestalt.

In der Supervision der ambulanten Altenpflege, die Gertrud Haarer leitete, kam sie erstmals mit psychotherapeutischer Unterstützung in Berührung. Hier erhielt sie den Anstoß, sich selbst um eine Therapie zu bekümmern (391).

Getrud Haarer kann sich mehr und mehr von der dunklen Last befreien. Hilfreich war ihr dabei u.a. das Buch von Arno Gruen, „Das Fremde in uns“, worin er die nie anerkannten Gefühle des Kindes als fremde innere Anteile beschreibt, die namenlos aber als existenziell beängstigend mehr gespürt als erlebt werden, weshalb sie abgespalten werden und als innere Leerstelle, als etwas Lebloses immer wieder dunkel Beängstigendes unter Verschluss bleiben müssen.

Getrud Haarer hat hoffentlich ihren inneren Frieden gefunden. Jedenfalls lebt sie mit ihrem Partner in Italien und konnte in einer Dokumentation (Bayern Radio, BR) über ihren Selbstwerdungs- und Heilungsprozess im Interview Auskunft geben.

Erst nach dem Tod der Mutter war es Gertrud überhaupt erst möglich, sich mit ihrer Vergangenheit und darin vorrangig mit der Beziehung zur Mutter und deren Aktivitäten in der NS-Zeit auseinanderzusetzen. Ein erschütterndes Dokument und wir wollen hoffen, dass uns ein autokratisches System mit seinen vielen HandlangerInnen in Zukunft erspart bleibt. Der Blick Richtung Türkei, Polen und jetzt auch den USA lässt das Schlimmste befürchten. Solche Texte können dazu beitragen, die Gegenbewegung zu stärken.

Bernd Kuck      
Februar 2017

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