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Gebhardt, Miriam : Sünde, Seele, Sex. Das Jahrhundert der Psychologie. DVA, München 2002, 192 Seiten, gebunden,  ISBN 3-421-05641-2, Preis: EUR 18,90 / sFr 33,60


100 Jahre psychologische Wissenschaft hat westliche Gesellschaften nicht unerheblich psychologisiert. Vom Minderwertigkeitskomplex über Verdrängung bis zum Pawlowschen Hund sind größeren Teilen der Bevölkerung psychologische Begriffe geläufig, die ursprünglich aus der (Tiefen-) Psychologie kommen. Auf knapp 200 Seiten versucht die Journalistin Miriam Gebhardt, die Geschichte der Psychologie im 20. Jahrhundert in ihren wichtigsten Facetten nachzuzeichnen. Ihre Hauptthese dabei:  Das Befreiungspotenzial der Psychologie ist genau so groß wie ihr Anpassungs- und Kontrollpotenzial. Psychologie kann den Menschen wirklich helfen, sie ist potenziell gesellschaftskritisch und systemverändernd. Gleichzeitig ist der Mensch aber auch mehr denn je selbst verantwortlich für seine Gesundheit und sein psychisches Wohlbefinden. Und sie normiert und regelt in nicht unproblematischer Weise die Art und weise, wie wir uns selbst und die anderen zu sehen haben.

Die Autorin, promovierte Historikerin und Journalistin für "Stern", "Zeit", "Süddeutschen Zeitung" und "Marie Claire", nimmt sich einen großen Wirkungsbereich der Psychologie nach dem anderen vor. Sie beginnt mit der Betriebs- und Organisationspsychologie, welche die Bürokratie psychologisierte. Diese Psychologien wollen helfen, dass sich Menschen gut eingliedern können. Dazu werden Intelligenztests herangezogen. In Schulen, Armeen und Gefängnissen kümmert man sich um Kriminelle, Geisteskranke, Trinker und Schulkinder. Die Psychologie vermenschlichte die Bürokratie, indem sie den nackten bürokratischen Zwang milderte und abschaffte. Sie sorgte für mehr Paternalismus und weniger Unterdrückung. Psychologie machte Hoffnung auf eine bessere, gesündere, sicherere Zukunft. Aber die Tests messen nicht nur, sie prägen auch, nicht nur momentan, sondern - Schultests beispielsweise - für Jahre.

In Schul-, Arbeits-, Verkehrs- und Sportpsychologie stellt die Psychologie Experten zur Verfügung, die in das bestehende Autoritätssystem (Polizei, Unternehmen) arbeitsmäßig eingegliedert wurden. Wie sehr unsere Gesellschaft auf Psychologen angewiesen ist, zeigt sich, wenn Ihre Voraussagen nicht eintreffen, wenn also ein entlassener Sexualstraftäter rückfällig wird, ein Arbeitnehmer nicht die erwartete Leistung bringt oder ein Schüler Amok läuft. Das Funktionieren der Psychologie erweitert unser aller Handlungsspielraum. Hätten wir die Psychologie nicht, müssten Sexualstraftäter und andere Verbrecher lebenslang hinter Gitter, alle bei den Alkoholtests durchgefallenen Autofahrer lebenslang zu Fuß gehen, und die in der Grundschule durchgefallenen Schüler bekämen niemals eine Chance auf einen Abitursabschluss. Gebhardt nennt diese Funktion der Psychologie die "Hundeleine der modernen Massengesellschaft" (43). Weil psychologisches Wissen uns einigermaßen verlässlich steuert, kann Big Brother die Leine etwas länger lassen.

Die Psychologie spiegelt mit ihrem Menschenbild die jeweiligen gesellschaftlichen Bedürfnisse, formuliert Gebhardt. Im 19. Jahrhundert halfen Psychologen dabei, die intellektuelle Unterlegenheit von Frauen und von anderen Ethnien wissenschaftlich zu begründen. Sie hatte auch keine Schwierigkeiten damit, die Neigung zu Verbrechen oder zum Alkoholismus als erbliche und nicht korrigierbaren Charaktereigenschaften zu sehen. Im 20. Jahrhundert verstiegen sich Psychologen zu der Behauptung, es gebe ein arisches Unbewusstes (C.G.Jung). Einige Zeitgeist abhängige Theorien waren auch die vom Penisneid der Mädchen und vom vaginalen Organismus (S.Freud).

Die Arbeits- und Organisations-Psychologie half auch mit, geeignete Menschen für bestimmte Tätigkeiten herauszufinden. Sie entwarf Eignungstests, um den größtmöglichen Willen zur Anstrengung zu finden. Die Ressource Mensch sollte besonders Gewinn bringend ausgeschlachtet werden. In diesem Sinne arbeiteten Psychologen im Ersten Weltkrieg dem Militär zu. Das große Ziel lautete: der rechte Mann am rechten Platz. Gebhardt erzählt dies mit gewissem Abscheu, kann aber nicht angeben, ob ein Missbrauch der Psychologie vorliegt und worin er besteht. Der Text klingt wie eine Generalanklage, obwohl es doch auch, wie Sie schreibt, um Arbeitszufriedenheit, Verbesserung der menschlichen Beziehungen und angenehmes Arbeitsklima geht.

Jedenfalls hielten die Psychotechniker den Betrieb am laufen, egal wie das Ziel aussah. Also stellten sie sich auch in den Dienst Hitlers. Zu den Opfern der Nazis gehörte fast ausschließlich die Psychoanalyse, während sich C.G.Jung um die "Deutsche Seelenheilkunde" verdient machte. Die deutsche Psychologie, die insbesondere als Wehrmachtpsychologie einen enormen Aufschwung nahm, setzte sich nach Gebhardts Worten in der Bundeswehr nahtlos fort. Die Friedenspsychologie tut sie mit einem zynischen Satz ab.

Freud - damit kommt sie zum Bereich Psychotherapie - sieht sie als wirklichen Revolutionär an, trotz der nicht enden wollenden Kritik an ihm. Freud nahm die Neurotiker als erster ernst. Und erstmals kommt dabei ein Autor bei Gebhardt selbst zu Wort. Alles, was an humanistischer Psychologie danach kam, sei nur noch kosmetische Korrektur am Freudschen Kosmos gewesen, als ob die Weiterentwicklungen (Beobachtung des realen Verhaltens von Kindern und ihrer Eltern beispielsweise) eine Marginalie gewesen wäre. Ausgerechnet die orthodoxe Psychoanalyse kommt also bei ihr gut weg, mit dem Argument, jene habe erkannt, dass die Triebe nicht wirklich zu domestizieren sind und allenfalls eine prekäre Zufriedenheit im Leben erreichbar scheint. Freud und seine Anhänger würden in ihrem Pessimismus, was die menschliche Entwicklung angeht, zu den wenigen Psychologen gehören, die sich nicht von der fragwürdigen Leistungs- und Spaßgesellschaft vereinnahmen und instrumentalisieren ließen. Die Psychoanalyse rage wie ein einsamer Felsen aus dem Meer einer Optimierungspsychologie, die psychologische Erkenntnis fast ausschließlich mit Glücks- und Erfolgsversprechungen verkauft. Selbst noch die letzte Neurose wird von der US-Psychologie umfunktionalisiert zu einem "Entwicklungspotenzial", das, richtig genutzt, einem einen Schub nach vorn in Beruf, Freundschaft und Sexualität garantiert.

Ein anderes, von Freud und Alfred Adler lanciertes Credo lautet, die frühe Kindheit determiniert für das ganze kommende Leben. Obwohl die Psychologie als Wissenschaft diesen Satz längst relativieren konnte, prägt er doch nach wie vor die Kindererziehung in Deutschland. Hier wie in allen anderen Bereichen des sozialen Lebens darf nichts dem Zufall überlassen bleiben. Dabei ist nach Freud die neurotische Entwicklung praktisch unvermeidlich. Seiner Ansicht nach (auch dem wird von anderer Seite vehement widersprochen) kann der Mensch nur zwischen dem hemmungslosen Ausleben aller Triebe und einer asexuellen Kulturentwicklung wählen. Balint, Mahler, Kernberg und Kohut entwickelten die Psychoanalyse in ganz unterschiedliche Richtungen weiter. Sie wiesen auf die schlechten Folgen der Unterdrückung der kindlichen Lebendigkeit hin, förderten die Achtung vor dem Kind, predigten Respekt für seine Rechte und forderten Toleranz sowie die Bereitschaft, auf seine Bedürfnisse einzugehen. Würde auf diese Erkenntnisse eingegangen, könnte sich die Gesellschaft zum besseren entwickeln, so lautet ihr Versprechen. Gleiches gilt für die Bindungstheorie Bowlbys und Ainsworths, wie schon früher für die Psychologien Freuds und Adlers: gute Mutter-Kind-Bindungen sind wichtig.

Doch tatsächlich wirken ebenso stark Bildungsgrad und Einkommen der Eltern, Arbeitslosigkeit und Armut, betont Gebhardt. Frühere Erfahrungen seien durchaus revidierbar, anderseits gebe es natürlich genügend Gründe dafür, mit Sorgfalt die kindliche Entwicklung zu begleiten. Elternschulen, Beratungsdienste und Ratgeberzeitschriften nehmen den Eltern jegliche Möglichkeit, ihre Kinder guten Gewissens gründlich missraten zulassen. Die Kindererziehungsmoden des 20. Jahrhunderts haben einen einheitlichen Erziehungsstil nicht aufkommen lassen, aber wie auch immer erzogen wurde und wird: der Stil ist psychologisch belegt und auf Psychologie basierend.

Kämpften bislang die Bewusstseinspsychologie und die Psychologie des Unbewussten um die Vorherrschaft in den Köpfen der Zeitgenossen, trat mit John Watson eine "Psychologie ohne Bewusstsein" in Erscheinung: der Behaviorismus. Die Konditionierungsversuche Watsons waren das krasse Gegenteil zur Psychoanalyse. Wenn man Angst induzieren kann, kann sie auch wieder weg trainiert werden, lautete der Leitsatz. Auch Watson glaubte an die unbegrenzte Macht seiner Erziehungsmethode. Auf Grund einer Dummheit machte er keine Universitätskarriere - er verließ seine Frau wegen einer Studentin, ein unverzeihlicher Fauxpas im prüden Amerika - sondern ging in die Werbebranche. Eine Psychologie ohne Bewusstsein und ohne Unbewusstes suchte einen Verbraucher ohne Bewusstsein zum Kauf zu bewegen, unter Ausbeutung des Unbewussten. Von den Psychologen erhoffte sich die Industrie eine Verbrauchersteuerung.

Watsons einflussreichster Nachfolger, Burrhus Skinner, interessierte weniger der auslösende Reiz als der dem Verhalten nachfolgende Reiz: die Bekräftigung oder Belohnung. Was Ratten lernen können, sollte der Mensch doch wohl auch können, dachte er sich. Neben Skinner popularisierte Carnegie die Verhaltenskonditionierung. Sie durchzieht unser ganzes Leben, vom Verhalten im Verkehr über Diät-Kontrolle bis zur Drogenhilfe - ein Umstand, den die Tiefenpsychologie in ihrer Kritik an der Verhaltenstherapie gern vergisst.

Sexualität: sind wir wirklich aufgeklärt? Nie gab es weniger Sex als heute, der Sexualisierung des Alltags zum Trotz. Es herrscht der Terror der Norm, definiert von Psychologen, immer verbunden mit dem nutzlosen Hinweis, niemand brauche sich zu schämen, wenn er die Normen nicht erfülle. Der gleichzeitige, vollumfängliche, "ozeanische" Orgasmus wurde der Standard.

Nicht nur das Miteinander im Betrieb und in der Sexualität wurden psychologisiert, das alltägliche Leben schlechthin wird von Psychologen definiert und begutachtet. Der Psychoboom ist Teil unserer Alltagskultur geworden. Dieses Phänomen ist in wenigen Zeilen nicht zu umschreiben. Allein 600 verschiedene Therapierichtungsnamen sind bekannt, die zusammen und gleichzeitig mit ebenso vielen esoterischen Erleuchtungsangeboten, eine unüberschaubare Anzahl von Mischformen bilden. Die Therapieinflation hat den klassischen Therapiebegriff - eine relativ umschreibbare Störung wird mit einem relativ gut definierten Verfahren therapiert - aufgelöst. Die Grenzen zwischen Therapie, Beratung, Heilung, Lebensqualität, Sinnsuche, Lebenshilfe und Unterhaltung fielen. Krankheit ist nur noch in den seltenen Fällen, in denen Kassen zahlen, Vorbedingung für eine Therapie. Ein Merkmal des ganzen großen Encouter-Rests ist, dass er nur wirkt, wenn die Teilnehmer daran glauben. Auch in der noch einigermaßen seriösen Therapie geht es um Glaubensdogmen, Menschenbilder, eifersüchtige Abgrenzungen, unrealistische Heilungsversprechen und die einzig richtige Lehre.

Die effektive Verhaltenstherapie sei das legitime Kind der bürgerlichen Leistungsgesellschaft, meint Gebhardt, während der Psychoboom der humanistischen Psychologie die asketische Arbeitsmoral verwirft und die Früchte harter Arbeit in Form von innerer Zufriedenheit im Hier und Jetzt ernten möchte. Das geht weit über das therapeutische Minimalprogramm Freuds hinaus, der von seiner Psychoanalyse realistischerweise nicht mehr erwartete, als dass sie neurotisches Elend in das übliche Unglück verwandelt.

Die Zeiten haben sich aber auch geändert. Die Angebote der Psycho-Szene reagieren auf die Verunsicherungen, die Parzellierung, die Individualisierung der Gesellschaft und Arbeitsdruck hervorrufen. Desorientierte und überforderte Eltern können sich gerade noch selbst über Wasser halten - ihr Nachwuchs muss alleine zurechtkommen mit den Problemen des Lebens. Der Jugendlichkeitswahn sei die aktive Verdrängung dieser Probleme, so die Autorin. Mit der Verantwortung für sein Schicksal alleingelassen, bietet die Psycho-Szene einen Rahmen für die Suche nach dem Selbst. Die seriösen Psychotherapien haben dabei gegenüber den New-Age- und Pop-Gurus den Vorteil, individuelle Antworten zu suchen, während die Esoterik-Szene mit Allerweltsformeln abspeist.

Gebhardt sieht trotz aller Skepsis einen erheblichen kulturellen Fortschritte im Vorhandensein der Psychologien, ersetzen sie doch repressive, monopolistische, undemokratische Glaubens- und Herrschaftssysteme. Psychologien geben den Rahmen ab für die Möglichkeit, Ich zu sagen. Das geht einerseits als Geschwätzigkeit auf die Nerven. Sie hat sicherlich recht, wenn sie seit Wilhelm Wundt und Sigmund Freud nicht nur eine enorme Erweiterung des Wissens über menschliches Denken, Fühlen und Handeln konstatiert, sondern auch eine unangenehme Ausbreitung vulgarisierten psychologischen Halbwissens. Frauenmagazine und Talk-Shows liefern das Vokabular, um über das eigene Seelenleben und dass der anderen scheinbar kompetent zu reden. Ein Beispiel dafür ist die Theorie vom Unbewussten. Seitdem breite Schichten davon Kenntnis erhielten, können Sie Reden und Handeln nicht mehr unbefangen für sich nehmen, sondern müssen immer auch gleich entgegenstehende unbewusste Motive mitdenken. Im schlimmsten Fall versinkt der Laie wie der Psychologe in einen selbst geschaffenen Sumpf: die Deutung unbewusster Motive beruht selbst auf unbewussten Motiven, die Aufdeckung von Rationalisierung und Abwehr ist selbst eine Rationalisierung und basiert auf eigener unbewusster Abwehr. Auf der anderen Seite ist die Psychologie der Neuzeit aber auch der recht erfolgreiche Versuch, dass möglichst jedermann ein zufriedenes und erfolgreiches Leben in einer friedlichen Demokratie führen kann. Erstaunlich ist, dass Gebhardt mit einem Minimum seriöser, wissenschaftlicher Literatur auskommt und trotzdem nicht völligen Unsinn produziert.

100 Jahre Psychologie auf 185 Seiten abzuhandeln ist ein gewagter Wurf. Doch für wen wurde dieser nicht uninteressante, knappe, gewagte Überblick geschrieben? Psychologen und Therapeuten werden es als oberflächlich abtun können; vermutlich wird Gebhardt aus allen psychologischen Bereichen Kritik ernten, wenn das Buch nicht ohnehin ignoriert wird. Für den Laien sind die Voraussetzungen wiederum zu hoch; die Autorin ist durchaus belesen und hat sich in die Materie eingearbeitet. Das Buch setzt Kenntnisse der Psychologiegeschichte voraus. Vielleicht sollte das Werk als Essay verstanden werden, der hauptsächlich durch seine Meinungsbildung besticht. Gebhardts Gesamturteil ist abgewogen, die großen Linien und Brüche der Psychologie werden herausgearbeitet. Psychologie, so könnte man zusammenfassen, ist in Betrieb und Organisation eher ein Disziplinierungsinstrument, in der Therapie jedoch ein Segen für die Menschen, bleibt aber hier wegen der mitunter fahrlässig gesuchten Nähe zur Esoterik-Szene problematisch. Das alles ist ansprechend und anregend zu lesen, doch bin ich mir nicht sicher, ob dieses Buch wirklich zur Lektüre eines jeden Psychologen und Psychotherapeuten gehören muss.
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Gerald Mackenthun
Berlin, November 2002

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