Furman, Ben: Es ist
nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben. Aus dem
Finnischen, 1977. Deutsch Borgmann-Verlag, Dortmund 1999, 5. Aufl.
2005
Kinder, die
in einer ungünstigen Umgebung aufwachsen, haben ein höheres
Risiko für Suchtprobleme, psychische Krankheiten und
Gewalterfahrung. Dies ist eine Aussage über eine
Wahrscheinlichkeit, nicht über eine Determinierung. Es gibt
Kinder mit einer unglücklichen Kindheit, aus denen später
zufriedene Erwachsene werden, genauso wie es glückliche Kinder
gibt, die später in Alkoholismus und Arbeitslosigkeit
abrutschen. Der Finne Ben Furman zieht daraus etwas voreilig und
undifferenziert den Schluss, dass traumatisierende
Kindheitserinnerungen erstaunlich gut verarbeitet werden können.
Für einen kleineren Teil der Betroffenen gilt das gewiss, doch
die Statistik und die Wahrscheinlichkeit sind nicht zu überlisten.
Furman
ist fasziniert von jenen Menschen, denen Schlimmes widerfuhr, die
aber mit diesen Traumata fertig wurden und normale und gesunde
Erwachsene wurden. Furman macht also den üblichen Fehler, den
viele Autoren, die glauben eine neue These oder Theorie gefunden zu
haben, immer wieder begehen: Sie bauen eine Gegenthese, einen Buhmann
auf, die niemand behauptet oder der so nicht existiert, um diese oder
diesen dann gründlich zu demontieren. Natürlich hat Furman
Recht, wenn er den Mythos angreift, dass niemand aus einer
gewalttätigen Kindheit ausbrechen kann. Natürlich kommen
ein Teil der Kinder von Drogensüchtigen gut in ihrer Kindheit
und als Erwachsene zurecht, aber die Frage ist doch, wie groß
dieser Anteil ist und was „gut zurechtkommen“ heißt.
Die Frage, warum die einen gut zurechtkommen und die anderen nicht,
obwohl ihre Kindheitserfahrungen gleich schlimm gewesen waren, ist in
der Tat interessant.
Neu ist diese Frage allerdings nicht. Aaron
Antonovsky hat schon in den 50er Jahren in Israel Überlebende
von Konzentrationslagern befragt und festgestellt, dass ungefähr
15 Prozent von ihnen sich nicht davon abhalten ließen, ein
zufriedenes und glückliches Leben zu führen. Aber es waren
eben nur 15 Prozent.
Und was heißt „gut
zurechtkommen“? Beispielsweise kann es sein, dass man ein
unauffälliges oder gar nützliches Mitglied der Gesellschaft
ist – und dennoch verbittert über seine Kindheit. Der
Mensch ist nicht Gefangener seiner Vergangenheit, das stimmt, aber er
ist auch nicht völlig frei von seiner Vergangenheit.
Furman
veröffentlichte 1996 in zwei Familienzeitschriften kleine
Anzeigen, in welchen Menschen mit einer schwierigen Kindheit gesucht
wurden. Sie wurden gebeten, drei Fragen zu beantworten:
1.
Was hat Ihnen persönlich geholfen, die schwierigen
Kindheitserlebnisse zu bewältigen?
2.
Was haben Sie aus Ihrer schwierigen Kindheit gelernt?
3.
Wie haben Sie später im Leben die Erfahrungen gesammelt, die
Ihnen in der Kindheit gefehlt haben?
Es
kamen ungefähr 300 Antworten, aus denen der Autor dieses Buch
destillierte. Der Hauptteil des Buches besteht aus ausgiebigen
Zitaten aus den Zuschriften. Es zeigt sich u.a., dass die Liste der
schützenden Faktoren sehr lang ist: andere zugewandte Menschen,
Haustiere, um die man sich liebevoll kümmern kann, die Ruhe und
Erhabenheit der Natur, die auch durch Bücher angeregte
Vorstellungskraft, das Tagebuchschreiben, gute Leistungen in Sport,
Musik oder führende Positionen in Vereinen, eine humorvolle
Einstellung, das verstehende Einordnen des Erlebten in einen
größeren, auch religiösen Zusammenhang, die oftmals
erst spät ergriffene Gelegenheit, offen mit den eigenen Eltern
zu sprechen, die Erschütterung durch den Tod naher Verwandter,
der Stolz auf Erfolg im Beruf, der Wunsch und der Wille, nach einer
unglücklichen Kindheit wenigstens sich ein glückliches
Erwachsenenalter zu schaffen, die Nächstenhilfe und –liebe,
die Relativierung des eigenen Leids durch das Leid anderer, und
vieles, vieles mehr.
Auf den Schlussseiten dieses gerade einmal
100 Seiten dünnen Buches beantwortet Furman Fragen, die seine
Gesprächspartner und andere Interessierte an ihn bezüglich
Kindheit, Kindheitsbewältigung und seelische Gesundheit
stellten.
Dieses
Buch ist sozusagen völlig naiv geschrieben. Es basiert –
wie gesagt – nur auf den Antworten der drei Fragen und
diskutiert nicht bzw. kaum wissenschaftliche Ergebnisse. Die
Antworten kommen aus dem gelebten Leben, und das ist die Stärke
dieses Büchleins. Es macht Mut, an die Chance zu glauben, eine
bessere Zukunft gewinnen zu können, relativ unabhängig
davon, wie die Vergangenheit aussah. Die allermeisten Menschen hätten
eigentlich das Potenzial, ihre Entwicklung zu fördern und den
Gang der Dinge in eine bestimmte Richtung zu lenken und den Boden für
positive Veränderungen zu bereiten. Eine schwierige Kindheit
blockiert jedoch oftmals gerade jene grundlegenden Eigenschaften, die
für derartige Entwicklungsrichtungen nötig sind. Die
Beispiele zeigen, dass auch eine späte Entwicklung zum Guten hin
möglich ist, sofern man Verbitterung überwinden und den Weg
des Lernens einschlagen kann. Die Psychologie weiß um die
vielfältigen Hindernisse, sich auf diesen Weg zu machen. Furman
vernachlässigt diese leider völlig.
Gerald
Mackenthun
Berlin, Mai
2008
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Es
ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben