Feichtinger, Thomas: Psychosomatik und
Biochemie nach Dr. Schüßler. 420 S., Karl F. Haug Verlag, Stuttgart 2003.
Mit 11 Abbildungen und 6 Tabellen
direkt bestellen:
In aufwändiger Aufmachung
erschien 2003 ein dickes Buch über die Mineralien-Biochemie eines Dr.
Schüßler,
von dem der Autor Thomas Feichtinger behauptet, dass sie sich wieder
zunehmender Beliebtheit erfreut. Das ist schwer nachzuweisen, aber anzunehmen,
werden doch Außenseitermethoden der Heilkunde durch die Erfolge der
wissenschaftlichen Medizin nicht zurückgedrängt - im Gegenteil. Feichtinger,
laut Eigenangaben ein wegen Krankheit frühpensionierter Lehrer und Autodidakt
der Mineralstofflehre nach Dr. Schüßler sowie einer damit eng verbundenen
"Antlitzanalyse", weist zu Recht auf ein Grundübel komplementärer,
meist humanistischer Heilkunde hin: die Ignoranz gegenüber körperlich-biologischen
Vorgängen. Mit der Verbindung von Psychologie und der Biochemie nach Schüßler
glaubt der Autor, diesen Fehler vermeiden zu können und eine Synthese in Form
einer Psychosomatik gefunden zu haben. Für ihn bietet auf der charakterlichen
Ebene die Franklsche Existenzanalyse das, was die Schüßlersche Biochemie auf
der körperlichen Ebene vermag.
Schon die Ärzte des
klassischen Griechenlands waren nicht glücklich mit der Trennung von Körper
und Geist in der Medizin. Die bis heute andauernden Versuche der Integration
und ihre unterschiedlichen Ergebnisse deuten darauf hin, dass wir es möglicherweise
mit einem nicht lösbaren Problem zu tun haben. Eine dieser Richtung sieht den
Körper als "Medium", als "Sprache" der Seele an. Die
Seele "benutzt" den Körper, um sich auszudrücken, der Körper sei
ein "Gleichnis" für emotionale Zustände. Feichtinger betont, alle
körperlichen Phänomene gäben nicht mehr her als Deutungsmöglichkeiten:
"Der Körper ist aber nicht ein Zeichen, das auf etwas anderes hinweist,
sondern selbst integrierender Bestandteil des Wesens Mensch." Der Körper
ist eine unendlich interpretierbare Variable, im Gegensatz zum Abbild, zur
Allegorie, zur Analogie, zum Code, zum Metapher. Dieser Ansatz ist richtig,
doch schon 20 Zeilen später nimmt er jene scheinbar eindeutigen Zuordnungen
vor, vor denen er kurz zuvor warnte, beispielsweise wenn er die
Geschmeidigkeit von Gelenken mit der "Beweglichkeit in der
Kommunikation" zusammenbringt. Diese Attribuierung kann man sich gar
nicht grob genug vorstellen; tief liegende Augen, breite Hüften oder rote
Haare werden schonungslos und ohne jede Zurückhaltung psychisch
interpretiert.
Was nun die Biochemie nach
Schüßler angeht, so soll dieser Arzt zwölf Mineralstoffe identifiziert
haben, die die Zelle für ihr Funktionieren benötigt. Ein Mehr oder ein
Weniger (meist ein Weniger) wirke sich nicht nur auf die Zellen, sondern auch
auf Charakter und Psyche aus. Schüßler, der nicht weiter vorgestellt wird,
war offensichtlich angesteckt von Virchows Zellularpathologie, die er freilich
psychosomatisch missverstand. Was Feichtinger dazu verlautbart, schmerzt. Ob
Lebensmittel vor 100 Jahren nährstoffhaltiger waren als heute, mag
dahingestellt sein, doch dass Schüßler die Mineralstoffe "verdünnte",
damit sie "durch die Zellwand" gehen, ist grober Unfug. Wie stark
Schüßler verdünnte, bleibt ohnehin unklar. Feichtinger glaubt, eine Überdosierung
sei so jedenfalls unmöglich, doch was ist mit einer Unterdosierung und damit
Unwirksamkeit? Im Hauptteil des Buches, der gut 300 Seiten umfasst, werden die
zwölf Mineralstoffe - genauer gesagt deren Fehlen - detailliert mit
psychischen Eigenschaften korreliert. Die Genauigkeit der Angaben und die
Sicherheit, mit denen der Autor seine Aussagen trifft, überraschen. Welche
wissenschaftlichen Erkenntnisse liegen vor, die eine Korrelation (wenn schon
keine Kausalität) nahe legen? Welche Untersuchungen wurden gemacht, um die
offenbar gut 100 Jahre alten Annahmen von Schüßler zu verifizieren? Was hat
Feichtinger in der Hand? Die Antwort lautet: Nichts. Es gibt keine Studien,
keine nachprüfbaren Beobachtungen, keine Experimente und keine Bestätigung
der Experimente durch Dritte. Das Herzstück des Buches, die den einzelnen
Mineralstoffen zugeschriebenen charakterlichen Strukturen, ist nichts weiter
als niemals überprüfte Überlieferung.
Die Begründung für die
Hinwendung zu Außenseitermethoden ist immer die gleiche: der
durchrationalisierte Medizinbetrieb sehe nicht den leidenden Menschen, sondern
nur das zu reparierende Organ. Leider ist da was dran. Aus der Fünf-Minuten-Medizin
beim niedergelassenen Arzt fliehen nicht wenige in die Wärme von
Heilpraktikern, die sich einige Stunden Zeit nehmen, ohne zu ahnen, dass ihnen
dort zunächst einmal mit Erfolg das Geld aus der Tasche gezogen wird. Was
dort geboten wird, spottet jeder Beschreibung. Die Verabreichung von homöopathischen
Tabletten gegen Selbstmordgedanken oder gegen den Heißhunger auf Schokolade
kostet mehrere tausend Euro. Der Placeboeffekt bewirkt, dass die Betroffen
glauben, irgendwie habe ihnen das geholfen. Selbstverständlich kann es keine
Tabletten gegen Selbstmord und gegen Schokoladenhunger geben - es wäre
phantastisch und ein Millionengeschäft. Es gibt nur die Sehnsucht danach vor
dem Hintergrund der Enttäuschung über den etablierten Medizinbetrieb. Was
die Außenseitermethoden ausbeuten, ist die natürliche physikalische Begrenztheit
der Natur.
Der Autor bewegt sich nicht
nur im Umfeld, vielmehr im Zentrum der Gestalttherapie, der Existenzanalyse
und Logotherapie nach Viktor Frankl, der Homöopathie, der "Bach-Blütentherapie"
und der "Energiefeldanalyse". Das Vorwort schrieb Christoph Kolbe,
ein staatlich approbierter Psychotherapeut, Doktor der Pädagogik,
Ausbildungsleiter der Frankl-Leute in Deutschland, ein ausgewiesener
Wissenschaftler einerseits, und dennoch dem Obskuren zugeneigt. Für dieses
Buchprojekt haben sich die beiden Richtigen getroffen, aber warum der
Haug-Verlag in Stuttgart sich zu einer Luxusausgabe hinreißen ließ, bleibt
unerfindlich. Offensichtlich fürchten sie nicht das Gelächter, das nach der
Lektüre ausbricht. Aber das Lachen bleibt einem doch im Halse stecken.
Feichtinger, Kolbe und der ebenfalls mit einem Vorwort vertretene Reinhard
Schaub vertreten diese Richtungen mit einem nicht zu erschütternden Ernst,
der im bizarren Gegensatz zur Unbeweisbarkeit der von ihnen vertretenen
Inhalte steht. Das Erschütterndste freilich ist deren gefährliche Nähe zur
ausgewiesenen und anerkannten Psychotherapie, die es bislang nicht vermochte,
sich von all jenen Richtungen glaubwürdig zu distanzieren, die mit nichts als
unbewiesenen Behauptungen aufwarten können. Mit Christoph Kolbe sitzt ein
Psychotherapeut im System der KV-Krankenversorgung, der all diese abwegigen
Ideen ins Herz der kassenfinanzierten Psychotherapie trägt.
Berlin, März 2004