Falkenstern, Elke: Einen
Weg ins Offene finden. Einblicke in die Aufarbeitung
sexueller Gewalt. Books on Demand GmbH, Augsburg 2005, 252 Seiten
Warum ein weiteres Buch über die Erfahrung extremer Gewalt,
sexueller Gewalt? Die Antwort ist so naheliegend wie heute unüblich:
Jenseits aller Typisierungen, wozu auch Verwissenschaftlichung
gehört, gibt es individuelle Erfahrung und vor allem
individuelle Zugänge zum Heilwerden. Gerade in der
Psychotherapie, wo ein Wort, auch gut gemeint, kränkend,
verschließend, verschreckend oder aufhellend, verstehend,
annehmend, haltgebend sein kann, zählt Individuelles, zählen
eigens zu findende Worte.
Frau Falkenstern beschreibt ihren individuellen Weg der
Entdeckung der amnesierten Gewalt durch den Vater. Ausgehend von
einer „harmlosen“ Unzufriedenheit mit ihrer beruflichen
Situation und erlebter Insuffizienzgefühle, dem fehlenden
Zutrauen in die eigenen Möglichkeiten, sucht sie eine Beratung
auf. Aus der Beratung wird eine Psychotherapie, denn sie faßt
Vertrauen zu dem Berater.
Der Text ist in zwei Teile gegliedert. Zunächst nimmt Frau
Falkenstern ihre Leser mit in ihre Geschichte und läßt sie
teilhaben an der Entdeckungsreise. Was sie entdeckt ist grausig: die
Kindheit unter einem sadistischen Vater und keinerlei Hilfe in der
Familie und drumherum. Die Rettung, die einzige Chance zum Überleben,
ist die Spaltung mit den individuellen Folgen. Die Autorin erspart
ihren Lesern nichts, ohne dabei tiefer in Details einzusteigen. Das
ist auch nicht notwendig, nimmt dem Text jeden Ansatz für
Voyeurismus oder Exhibitionismus.
Ihre Leser haben Anteil am
Verständnis, das der Autorin entgegengebracht wird. Teilhaben
läßt sie uns aber auch am Unverständnis, ja an
bigotter Verleugnung und mißachtendem Vergebungsgefasel, wobei
sie zugleich die Notwendigkeit dessen aufdecken kann, die
Notwendigkeit, das eigene Weltbild in solchem Gerede zu retten. Aber
es tut weh!
Frau Falkenstern setzt der Angst ihren Mut entgegen,
großen Mut. Und sie hat einen einfühlsamen therapeutischen
Begleiter gefunden. Selbst von dem dummen, weil formalen,
Kassensystem – der Therapeut ist Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeut und die Kasse zahlt die Therapie bei ihm
nicht, weil die Patientin älter als 18 Jahre ist – läßt
sie sich nicht abschrecken, zahlt selbst.
Im zweiten Teil folgt
eine Durcharbeitung des therapeutischen Prozesses, in die Frau
Falkenstern auch ihre Lektürefrüchte mit einfließen
läßt, dabei die – auch in professionellen Texten
kolportierte – Schuldfrage kritisch kommentierend.
Die Idee, Opfer von Gewalt, sexueller und/oder physischer Gewalt,
müßten dem Täter verzeihen, um inneren Frieden zu
finden, ist eine Denkungsart, die im System verbleibt: Dem
Tätersystem. Der Täter entsorgt seine Schuld beim Opfer!
Und Konsorten wie Bert
Hellinger nehmen so die Täterposition ein, wenn sie
Verzeihen fordern. Das Opfer, zumal das kindliche, ist von jeglicher
Schuld frei. Dass mancheiner durch die Vergebung der Schuld des
Täters Erleichterung erfährt, dürfte mehr damit
zusammenhängen, dass so auch die vermeintliche eigene Schuld
Vergebung findet. Auf diesem Umweg läßt mitunter der
Selbsthass nach. Aber dies gelang auch im religiösen Masochismus
und war in historischer Zeit wegen der absoluten Ohnmacht den
Mächtigen gegenüber eine Überlebensstrategie. Auf die
Situation des heute erwachsenen Opfers solcher Gewalt in Kindheit und
Jugend übertragen hieße, die Ohnmacht zementieren, in der
damals realen Abhängigkeit stecken bleiben, z.B. den bösen
Vater verleugnen. In Frau Falkensterns Worten:
„Alles andere ist, jedenfalls als
vermeintlich zwingende Wenn-dann-Verknüpfung ('Wenn du nicht
verzeihst, wirst du als verbittertes Wesen enden'), falsch. Ich
bezweifle nicht, dass es Opfer geben mag, die in ihrem Hass auf den
Täter oder auf sich selbst festhängen. Ich bestreite jedoch
nachdrücklich, dass es Heilung nur geben kann, wenn dem Täter
verziehen wird.“ (205)
Zwei Aspekte waren für den Prozess der Heilwerdung wichtig:
die des Ruins wie die der Schatzbergung – die des Verlustes und
der Trauer wie die der Freude und des „Mehr an Lebendigkeit“.
„Es bleibt bei zwei voneinander
unterschiedenen Seiten, die beide in mir Raum haben, und für die
des Ruins gibt es sozusagen nichts, was da noch getan werden könnte
– außer: sie nicht zu vergessen, sondern zu erinnern. Sie
nicht abzuschieben, wegzusperren, sondern zu akzeptieren. Und so ins
Freie, in das Offene der eigenen Möglichkeiten zu gelangen.“
(226)
Ein wichtiges Buch, das dem auf therapeutischem Minenfeld
Arbeitenden neue Einblicke verschafft. Ein Minenfeld, auf das jeder
Therapeut treten kann, denn selten kommen die so Mißhandelten
mit dem Thema, sondern vergleichsweise marginale Themen führen in
die Behandlung. Als TherapeutIn läßt sich lernen: Laß'
die Finger von solchen Behandlungen, wenn du nicht bereit bist, dich
selbst immer wieder in Frage zu stellen und zu hinterfragen.
Eigentlich für diesen Beruf sowieso selbstverständlich. Der
eventuell anzurichtende Schaden ist jedoch bei zutiefst, also im
Grunde, in ihrem Vertrauen erschütterten Menschen katastrophal.
Somit gehört der Text in jede Literaturliste von
Ausbildungsinstituten. Für Angehörige, Freunde und Bekannte
von Opfern kann dieses Buch Türen zu besserem Verstehen öffnen.
Selbstbetroffene sollten eher vorsichtig sein, denn natürlich
gibt es im Text viele potentielle Trigger also Auslöser für
flash-back-Erlebnisse.
Bernd Kuck, Bonn
Januar
2007
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