Evers, Getraud:
Sprech-Stunden. Erzählte Psychotherapie, Schattauer
Verlag, Stuttgart 2007, 151 Seiten, geb. 29,95 €, 47,90 CHF.
Frau
Dr. Evers, Psychiaterin und Psychotherapeutin, vormals in Wien, nun
in Gießen niedergelassen, ist es gelungen einen Erzählraum
zu öffnen, der i.d.R. der Fachliteratur für Psychotherapie
verschlossen bleibt. Bis auf Irvin Y. Yalom (Psychiater und
Psychoanalytiker), dem Meister des Geschichtenerzählens in immer
wieder gelungener Kombination mit Wissenschaft und existentieller
Psychotherapie und Yoram Yovell, einem israelischen Psychoanalytiker,
der jedoch in seinen erzählten Fallbeispielen eher Yaloms Art
des Erzählens nachzuahmen scheint, ist mir keine weitere
Autorin/ kein weiterer Autor in diesem Bereich der erzählenden
Psychotherapie bekannt. Und es bedeutet sicherlich eine große
Herausforderung, neben dem weltweit bekannten Irvin Y. Yalom, die
eigene Erzählsprache in diesem Genre zu finden. Die Autorin hat
es gewagt und gewährt Fachleuten wie Laien den Blick über
die Schulter in ihre Arbeit mit Patientinnen, sie lässt
teilhaben an ihren Gedanken und Gefühlen von Zweifel, Freude,
Zögern, Abneigungen, Unbehagen und erotischen Phantasien u.a..
Im Gegensatz zu den häufig zurechtgestutzten und so „perfekt
passend“ scheinenden Fallvignetten, hat die Leserin hier Teil
am gesamten Verlauf psychotherapeutischer Behandlung, freut sich über
Fortschritte, über Sternstunden, durchleidet quälende
Sitzungen, Durststrecken und Rückschläge. Frau Evers gibt
dabei immer wieder Einblicke in ihre therapeutische Denkweise,
kommentiert weitere Schritte – sie nimmt die Leserin mit und
zaubert nichts aus dem Hut. Mit „technischen Fehlern“,
mit „unkontrollierten Einlassungen“ hält sie nicht
hinterm Berg, reflektiert dabei zum größten Teil
nachvollziehbar ihr Verhalten, ihre Affekte, was sich erweiternd auf
den jeweiligen Therapie- sowie erhellend auf den Verstehensprozess
auswirkt. Parallel dazu gehen der Leserin eigene Therapiestunden
durch den Sinn – eine in jedem Falle bereichernde
Begleiterscheinung.
Wie
die Autorin in der Einleitung schreibt, ist sie eine
Psychotherapeutin, die gern liest und schreibt und die sich für
die Geschichten ihrer Patienten und Patientinnen interessiert. Da,
wie sie schreibt, aus guten Gründen die psychotherapeutische
Praxis hinter verschlossenen Türen stattfindet und damit wenig
Gelegenheit gibt, besonders als Berufsanfängerin durch Zuhören
und Zuschauen von erfahrenen Therapeutinnen zu lernen, ist es ihr ein
Anliegen, mit diesem Buch, Einblick in die verborgenen Räume der
therapeutischen Arbeit zu geben. Auf der Schwelle zwischen „Innen“
und „Außen“, d.h. zwischen dem Zugang zur inneren
Welt der Patientin und der Welt der Therapeutin, ist für Frau
Evers das Schreiben angesiedelt – das Schreiben als Verbindung
dieser beiden Welten.
In
vier Kapiteln sowie einer ausführlichen Einleitung zur
Motivation dieses Buches stellt die Autorin vier Therapieverläufe
vor. Den jeweiligen Unterkapiteln ist dabei eine Art Motto bzw. ein
Schlaglicht aus dem folgenden Inhalt vorangestellt. Der Stil der
Autorin ist flüssig und atmosphärisch den jeweiligen
Therapiegeschichten angepasst. So unterstützen die kurz und
knapp in den Text geworfenen Erinnerungs- und Traumsequenzen der
Patientin Nelly (3. Fallgeschichte) die Wahrnehmung beklemmender
Gefühle, beschleunigen gleichzeitig das Lesetempo und
hinterlassen Stimmungen des Grauens, die es auch als Leserin
auszuhalten gilt.
Frau
Evers arbeitet tiefenpsychologisch fundiert mit maximal 100 Stunden,
das Theoriegebäude der relationalen Psychoanalyse (Stephen A.
Mitchell), sowie die interaktionelle Psychoanalyse („Prinzip
Antwort“) von A. Heigl-Evers stehen ihr nah. Gleichzeitig ist
sie für viele Ansätze offen, die sie in ihre Arbeit
integriert, was sich beim Lesen der Falldarstellungen unaufdringlich
mitteilt.
Neben
diesem theoretischen Gerüst, das eher den Hintergrund für
alles bildet und, abgesehen von einigen Erläuterungen und
sparsam verwendeten Begriffen, nicht explizit genannt wird, lässt
sie ihren Assoziationen zum Therapieprozess freien Lauf, bezieht
eigene unterschiedlichste Einfälle aus Erzählungen,
Romanen, aus dem Bereich der Kunst, aus Filmen, Gedichtanfängen
u.a.m. in die Gespräche mit ein. Sie verwendet lebendige,
nachvollziehbare Bilder und Metaphern in ihrer Sprache mit den
Patientinnen, ohne dabei an die derzeit in Mode gekommene
„Therapiemethode“ zu erinnern, in denen die Arbeit mit
Metaphern zu einer Art Masche zu verkommen scheint.
Gerne hätte
ich als Leserin und Kollegin von den Stellen erfahren, wo sich die
Autorin Unterstützung in Supervision und Intervisionsgruppe
holte. Bis auf ein Beispiel (S. 45), wird hier nichts weiter dazu
erwähnt. Da sie sich jedoch in ihrer Danksagung auch bei diesen
bedankt, muss es Gespräche gegeben haben.
Alles in allem ist
das vorliegende Buch eine bereichernde Ergänzung im weiten Feld
der Fachliteratur zur Psychotherapie, als Anregung für junge
Kolleginnen aber auch für erfahrene Therapeutinnen bereichernd.
Zugunsten
der flüssigen Lesbarkeit verzichtet die Autorin darauf, in ihrem
Buch die weibliche Form anzuführen und bittet Leser und
Leserinnen, die entsprechenden Endungen mitzudenken. Hier entstand
die Frage bei mir als Rezensentin, weshalb Frau Evers als Autorin
nicht dazu überging, die weibliche Form zu wählen und Leser
sowie Leserinnen bat, die entsprechend männliche Form
mitzudenken?
Dipl.-Psych. Ingritt Sachse, Bonn
Februar
2007