Dürr, Hans-Peter: Warum es ums Ganze geht. Neues Denken für eine Welt im Umbruch. Fischer Verlag Frankfurt/M., 4. Auflage 2014, 189 S.


Hans-Peter Dürr, der Quantenphysiker und Träger des Alternativen Nobelpreises verstarb am 18. Mai 2014 im Alter von 85 Jahren. Der vorliegende Text erschien bereits 2009 und hier fasst dieser Querdenker seine wichtigsten Gedanken - auch für Laien verständlich - zusammen und gibt Einblick in seinen persönlichen Werdegang. Dabei ist nicht raus, ob hier von Begreifen die Rede sein kann, denn die zentralen Überlegungen, die unser Weltbild eigentlich schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts hätten erschüttern können, entziehen sich der Fassungsfähigkeit unseres Gehirns. Auch unsere Sprache lässt uns dabei im Stich, die im eigentlichen Sinne eine alltagspraktische ist. Die Zusammenhänge lassen sich in mathematischer Sprache darstellen; in allgemein verständlicher Sprache können die komplexen Zusammenhänge nur in Bildern und Metaphern zu einer Annäherung führen. Wer von uns kann sich schon etwas unter einem n-dimensionalen Raum vorstellen? Bei drei Dimensionen ist Schluss und selbst wenn wir die Zeit dazu nehmen, sind auch das nur Begrifflichkeiten aus der dem Menschen fassbaren Welt.

Auf jeden Fall mach Dürr deutlich, dass das alte mechanistische physikalische Weltbild nur im Groben seine Gültigkeit hat. Was wir für die Wirklichkeit der Materie halten, ist in der Welt der Quantenphysik gleichsam die ständige Reproduktion 'einfallsloser', 'unkreativer' "Beziehungen der Formstruktur".

Im Grunde gibt es nur Geist. Aber dieser Geist "verkalkt" und wird, wenn er verkalkt, Materie. Und wir nehmen in unserer klassischen Vorstellung den Kalk, weil er "greifbar" ist, ernster als das, was vorher da war, das Noch-nicht-Verkalkte, das geistig Lebendige.

Es gibt nunmehr eine – auch physikalisch verstehbare – Verbindung zwischen belebter und unbelebter Natur. Sie werden nicht mehr als Teile oder Teilaspekte der Wirklichkeit verstanden. Damit sind sie nicht mehr grundsätzlich unterschiedlich. Sie werden als dynamisch stabile bzw. statisch stabile Manifestationen oder „Artikulationen“, als „geformte Teilhabende des Ganz-Einen“ aufgefasst. Mensch und Natur stehen sich nicht mehr als getrennt gegenüber. Zwar hat der Mensch als angebliche „Krone der Schöpfung“ insofern eine Sonderstellung, als er aktiv und mit Plan seine Umgebung verändern kann – aber der Mensch steht in keiner Weise über der Natur. Vielmehr tanzt er auf der Spitze eines Kartenhauses, ja er zieht sogar unten Karten aus dem Kartenhaus, denn nach seiner Auffassung brauchen wir dieses Tierchen oder jene Pflanze eigentlich nicht (S. 105). Tatsächlich kam vor Längerem in einem Radiofeature ein Mensch zu Wort, der die Existenzberechtigung von Bibern anzweifelte. Ingritt Sachse (www.ingrittsachse.de/gedichte/gedi711.html) dichtete dazu:

zerstört liegen die burgen die
dämme
erschlagen am ufer die bewohner
ihnen das fell über die ohren das
fell. wozu
brauchen wir biber fragt einer hat
waldfrevel begangen muss sterben
aus
kerbigem plattschwanz
kriechen die asseln. wozu
fragen sie
brauchen wir menschen und
kriechen breite ströme wie asphalt
über straßen und häuser und
kriechen. da liegt
unter aschgrauem tuch
begraben
formlose masse
mensch

In dieser Welt gibt es keine Materieteilchen, die sich streng gegeneinander abgrenzen lassen – obwohl uns dies so erscheint. Es gibt nur noch kreative Prozesse, keine Entwicklung mehr in der Zeit. So wie ein Elektron an einer Stelle erscheint und wieder in das Nichts eingeht, dann eines an anderer Stelle erscheint und wir glauben, es hätte sich von A nach B bewegt, so gibt es möglicherweise ebenso in der Evolution keine zeitliche Abfolge. Es findet keine Entwicklung in der Zeit statt („wie ein zerknülltes Papier sich auswickelt“ [S. 105]), sondern die Welt ereignet sich in jedem Moment neu, hat allerdings eine "Erinnerung" daran, wie sie vorher war.

Was wir für stabil halten – beeindruckt durch die scheinbare Festigkeit dessen, was wir Materie nennen –, ist nur ein labiles Gleichgewicht, das durch Dynamik eine gewisse Stabilität erlangt hat. Dürr vergleicht dies mit dem Gehen. Solange wir auf einem Bein stehen, sind wir, statisch betrachtet, instabil. Wir wechseln aufs andere Bein und sind in der gleichen instabilen Lage. Beim Gehen jedoch wechseln wir dynamisch von einer Instabilität in die andere und erreichen so einen dynamisch stabilen Gang (S. 106).

Diese Art, die Welt zu begreifen, löst ebenfalls die Grenze zwischen Natur- und Geisteswissenschaft auf. In der Quantenphysik herrscht eine mehrwertige Logik. Dies ähnelt wesentlich den Gefühlen, die sich einem wirklichen Greifen entziehen. Beschreibend können wir uns verstehend annähern, aber auch bei ihnen bleibt eine „Unschärferelation“. Hier behelfen wir uns mit Begriffen wie „atmosphärisch“ oder dass wir etwas „ahnen“. Etwas bewegt uns, bringt uns zum Schwingen, bringt uns in Resonanz. Letztlich aber gilt immer noch das Heine Wort: „Was Liebe ist, das hat noch keiner herausgefunden“.
Diese Unschärfe gibt es ebenfalls in der modernen physikalischen Welt. Und daher mag Dürr nicht mehr von Teilchen oder vom Atom sprechen.

Jene Welt, die die alte Physik mit ihrem mechanistischen Weltbild beschreibt, mag für unseren Alltag ausreichen, trifft aber nicht das Ganze. Deshalb gebrauche ich ja die Begriffe Teilchen oder Atom nicht mehr und sage stattdessen Wirks oder Passierchen. Diese Wirks oder Passierchen sind eine winzige Artikulation der Wirklichkeit, etwas, das wirkt, das passiert, das etwas auslöst. Betrachten wir ein instabiles System wie etwa ein nasses Schneefeld: Dort kann ein kleiner Fuß eine riesige Lawine auslösen (S. 111).

Dürr begegnete als junger Physiker in Amerika der ihn sehr beeindruckenden Hannah Arendt. Er hörte verschiedene ihrer Vorlesungen und führte einige Gespräche mit ihr. Dies brachte ihn später zu einer politischen Haltung, die ihn sich in die Debatte um Atomkraftwerke und Ökologie einbringen ließ. Er ist zugleich ein Vertreter der Auffassung, dass es keine wertfreie Wissenschaft gibt, woraus dem Wissenschaftler und eben auch dem Physiker eine Verantwortung erwächst. Nicht alles, was wir etwa tun können, dürfen wir tun, wenn wir eine ethische Haltung einnehmen. Auch sollten wir die Hybris aufgeben, wir wüssten genau, was wir tun. Die sogenannten objektivierenden Wissenschaften befassen sich letztlich immer nur mit einem Ausschnitt dessen, was wir Wirklichkeit nennen. Und jede Wissenschaft ist Ausdruck unseres Denkens, mit dem wir der Welt unseren Stempel aufdrücken und somit wertend ihr gegenübertreten. Mag sein, dass die Naturwissenschaften in ihren Laboren und soweit sie Grundlagenwissenschaft betreiben, eine gewisse Wertfreiheit bezielen. Sobald sie aber angewandte Wissenschaft werden, verlieren sie endgültig ihre Unschuld. So unterschrieben u.a. viele Wissenschaftler der Max-Planck-Gesellschaft eine von der Regierung Helmut Schmidt erwünschte Erklärung zur Unbedenklichkeit der Kernenergie in Kraftwerken. Dürr unterschrieb nicht, womit er einigen Mut bewies. Für seine fundierte Kritik der strategischen Verteidigungsinitiative (weltraumgestützter Abwehrschirm aus Ronald Reagens Zeiten) erhielt er den Alternativen Nobelpreis. Leider hat er auch das Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik von Otto Schily entgegen genommen, obwohl seine Verdienste für das Gemeinwohl sicherlich unbestritten sind.

B. Kuck      
Juli 2014

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