Deter, Hans-Christian (Hrsg.): Psychosomatik am Beginn des
21. Jahrhunderts - Chancen einer biopsychosozialen Medizin. Verlag
Hans Huber, Bern Göttingen 2001, 696 Seiten, 117 Abbildungen, 51 Tabellen,
34,95 Euro (68 Mark)
Die Psychosomatik steckt in einer tiefen Krise. Die klassische
Psychosomatik hegte die Hoffnung, bestimmte Charaktereigenheiten oder psychische
Dispositionen als Auslöser von einigen Körperkrankheiten dingfest
machen zu können. Doch ihre alten Konflikt- und Stress-Konzepte erwiesen
sich als nicht haltbar, und sie blieb ein Randgebiet der wissenschaftlichen
Medizin. Nicht so in der Bevölkerung: Der Glaube, seelische Faktoren
verursachen organische Krankheiten, hält sich hartnäckig.
Die Psychosomatiker in Klinik und Praxis immerhin sind nachdenklich
geworden. Im wesentlichen ist anerkannt, dass Psyche und Soma (Körper)
sich gegenseitig beeinflussen, aber das genaue Wie entzieht sich nach wie
vor der Beschreibung. Das voluminöse Werk "Psychosomatik am Beginn
des 21. Jahrhunderts", herausgegeben von dem Berliner Kliniker Hans-Christian
Deter (Huber-Verlag, Göttingen 2001), hat diese Selbstzweifel und
Unsicherheiten zum Anlass genommen, am Beginn des 21. Jahrhunderts Bilanz
zu ziehen und einen Ausblick zu wagen.
Das dabei entstandene Werk ist in jeder Hinsicht herausragend, nicht
nur was den Umfang von knapp 700 Seiten angeht, sondern auch von der Breite
der Themen her. Es beginnt mit einem historischen und theoretischen Überblick,
wendet sich der jungen Wissenschaft der Neuroimmunologie als mögliches
Bindeglied zwischen Geist und Körper zu, rekapituliert den Stand der
Psychosomatik in allen großen medizinischen Teilfächern und
fragt, wie der Arzt das vorhandene Wissen konkret in seine tägliche
Arbeit einbringen kann.
Der Ausblick in die Zukunft ist eher verhalten. Bislang verfügen
allenfalls zehn Prozent der deutschen Kliniken über einen psychosomatischen
Konsiliararzt, und es sieht nicht so aus, dass ihre Zahl in naher Zukunft
steigen wird. Der Grund liegt im Fach selbst begründet: Seine Begriffe
sind so verschwommen wie Gestalten in einer Waschküche. Naturwissenschaftlich
gebildete Mediziner können damit kaum sinnvoll arbeiten.
Je mehr die wissenschaftliche Medizin biologische Ursachen für
bestimmte Krankheiten fand, desto mehr musste sich die Psychosomatik zurückziehen.
So macht nicht Stress Magengeschwüre, sondern eher ein Bakterium namens
Helicobacter pylori, und Asthma ist kein psychisches Problem, sondern eine
Autoimmunkrankheit. Lineare oder kausale Zusammenhänge mussten angesichts
der sich zeigenden Komplexität des Körpers aufgegeben werden.
Freud war ein Pionier der Psychosomatik, sein Konversionsmodell aber wurde
schon 1950 fallen gelassen, als Franz Alexander weitere Einflussfaktoren
neben einem ungelösten innerpsychischen Konflikt benannte. Doch auch
Alexanders Theorie gilt seit ein paar Jahren als zu simpel.
Die Rolle des sozialen Kontextes wird seit einigen Jahrzehnten ebenso
beforscht wie die Signalübermittlung im Körper. Arbeitslosigkeit
und Armut erhöhen das Risiko von Krankheit und Sterblichkeit ebenso
wie Ungleichgewichte bei den Botenstoffen im Gehirn. Was ist daran psychisch
im
Sinne einer Psychogenie? Jede Belastung, und sei es Treppensteigen, beeinflusst
das Gehirn, das Ausschüttungen verursacht, unterdrückt oder stimuliert
- oder auch nicht. Die Ausschüttungen können adaptiv sein - oder
auch nicht. Es hat wenig Sinn, einzelne Variablen zu betrachten. Also muss
der ganze Organismus in seinem fortgesetzten Wirken und seine Anpassung
an die Umwelt erforscht werden. Durch die Informationsflut über die
menschliche Physiologie wird aber genau das für den einzelnen Heilkundigen
zunehmend unmöglich.
Als ob es nicht reicht, sich mit Psychologie, Medizin, Sozialpsychologie,
Immunologie und Endokrinologie zu befassen, fordert Herbert Weiner (ehem.
Neuropsychiatrisches Institut der Universität Los Angeles) als Aufgabe
für die Zukunft, die Bedingungen für spezifische Genexprimierung
oder -hemmung anzuschauen. Es sieht so aus, als ob er - diesmal auf genetischer
Ebene - ein Spezifitätskonzept folgt, das sich in der Genetik so nicht
andeutet (vielmehr interagieren viele Gene) und das in der Psychosomatik
längst zum alten Eisen geworfen wurde. Und ist es überhaupt sinnvoll,
sich als Psychologe mit der Genexprimierung eines Individuums zu befassen?
Allenfalls in der genetischen Beratungsstelle. Den "ganzen Menschen" in
einer Therapie zu behandeln, erscheint mir ohnehin unmöglich. Die
Superkompliziertheit des Systems Mensch wird eher (und sinnvoller Weise)
zurückführen zu einer vereinfachenden, am Symptom und dem Therapieziel
orientierten Betrachtung des Individuums, als keineswegs "ganzheitlich",
eher fokussierend. Alles andere ist allein schon von der Zeit und den Kosten
her nicht machbar.
Von der Psychosomatik bleibt nicht viel mehr als eine allgemeine ärztliche
Haltung, die den Kranken als Menschen ernst nimmt. Psychosomatik ist heute
vor allem die befriedigende Beziehung zwischen Patient und Arzt. Die aktuellen Sparzwänge im Gesundheitswesen und die Drei-Minuten-Medizin
niedergelassener Ärzte lassen es jedoch kaum zu, diese humane Haltung
zu bilden und anzuwenden. Trotz der inhaltlichen Schwäche des Fachs
ist dem Berliner Psychosomatik-Professor Deter vom Berliner Universitätsklinikum
Benjamin-Franklin mit diesem Buch ein großer Wurf gelungen. Es dürfte
das beste Buch über Psychosomatik sein, das es derzeit gibt.
Gerald Mackenthun
Berlin, Februar 2002
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