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Dammann R. & Gronemeyer, R.: Ist Altern eine Krankheit? Wie wir die gesellschaftlichen Herausforderungen der Demenz bewältigen. 227 S., Campus Verlag (Frankfurt/New York) 2009


Demenz – hier geht es insbesondere um Alzheimer’sche Demenz, die 75% aller Demenzerkrankungen ausmacht – ist eine sozial-ökonomische Zeitbombe, so sagen die Autoren, eine moderne Epidemie, eine neue Geisel der Menschheit, ein Volksleiden! Weltweit mehr als 25 Millionen diagnostizierte Fälle – allein in Deutschland mehr als eine Million und jährlich kommen eine Viertelmillion hinzu. Die Betroffenen, ihre Angehörigen und Pflegekräfte stehen dem Leiden oft hilflos und nicht ausreichend informiert gegenüber. Infolge der Alterspyramide zieht Demenz schon heute ein gesundheitsökonomisches und vor allem ein menschliches Desaster nach sich. Während heute die Pflege- und Behandlungskosten eines dementen Menschen sich auf den Schultern von 70 Erwerbstätigen verteilen, werden bis 2050 nur noch 16 Arbeitende die horrend steigenden Kosten aufbringen müssen. In Zukunft werden die Sozialkassen das Geld gar nicht haben, um dementen Menschen eine würdige Pflege zu finanzieren. Die gesellschaftlichen Dimensionen des Problems Demenz müssen mehr Aufmerksamkeit bekommen, denn sie werden eines der zentralen sozialpolitischen Themen der nächsten Jahrzehnte darstellen. Ohne dass eine effektive Therapie in Aussicht steht, verschlingt die Bekämpfung von Demenz jährlich Milliarden – eine goldene Kuh im Zeitalter der »Industrialisierung« des Gesundheitswesens. Neben AIDS, Krebs und ADHS gilt Demenz für die Soziologen Dammann und Gronemeyer als die Jahrhundertkrankheit.

Medizinisch wird Demenz als eine degenerative Hirnerkrankung definiert. Für die Autoren gilt sie im doppelten Sinne als eine Krankheit des Vergessens: Demente Menschen leiden unter Vergessen und sie werden vergessen. Sie werden durch die Erkrankung ihrer erwachsenen Persönlichkeit beraubt und sie werden aus der Gesellschaft ausgegrenzt und in Pflegeheimen »entsorgt«. In einer Gesellschaft, in der das Altern als solches und die Demenz im Besonderen zu ein und derselben zu bekämpfenden Krankheit verknüpft werden, gelten demente Menschen als abnorm. Ist Altern eine Krankheit? Die Autoren argumentieren beredt für eine Sichtweise auf Demenz als ein psycho-sozio-biologisches Geschehen des »normalen« Alterungsprozesses, viel mehr als nur ein biologisch-medizinisches Krankheitssyndrom. Statt von der Behinderung der Einzelnen sprechen sie von einer fortschreitenden »Alzheimerisierung« der Gesellschaft.

Die Autoren berichten über die »Erfindung« der Alzheimer-Krankheit 1910 durch Emil Kraepelin (in der achten Auflage seines einflussreichen Psychiatrie-Lehrbuchs). Kraepelin war der Lehrer und Förderer von Alois Alzheimer. Dieser hatte als erster bei einer 51-jährigen Frau, Auguste D., die Fallgeschichte einer »Krankheit des Vergessens«, wie er sie anfänglich nannte, bzw., in Anlehnung an Kraepelin, der »prä-senilen Demenz« samt Verfall des Gehirns dokumentiert. Kraepelins Anerkennung (Alzheimer-Krankheit) erfolgte möglicherweise eigennützig in Konkurrenz zum ihm bedrohlich erscheinenden Renommee der 1901 erschienenen Traumdeutung Sigmund Freuds (S. 23). Neben den Ursprüngen der medizinischen Forschung und der Problematik der Demenz-Diagnostik thematisieren die Autoren den Umgang mit Verwirrten (»Alte Konzepte und neue Ratlosigkeiten«) sowie neue Behandlungsansätze (»Auswege aus dem Demenzdilemma«). Prominente Krankengeschichten (paradigmatisch: Walter Jens) und, besonders lobenswert, aktuelle Betreuungsinitiativen und -einrichtungen werden ausführlich dargestellt.

Nach wie vor sind die Ursachen für Demenz weitgehend unklar, wirkungsvolle Therapie ist nicht in Sicht. Schlimmer noch, die jährlich Milliarden verschlingende medizinische und pharmazeutische Demenzforschung und -pflege gehen mit einer wirtschaftsideologischen »Mentalitätsverschiebung« einher, in der ein gefährlich verkürztes, neoliberales Menschenbild sich Geltung verschafft. Kritisiert wird vor allem die »demenzförderliche Pathologisierung« des Alterns in einer postmodernen Wellnesskultur, die immer mehr Allüren einer Ersatz-Religion ausstrahlt – Stichwort »Gesundheitsapostel«, »Gesundheitskirche«. Die Soziologen Dammann und Gronemeyer halten einen Paradigmenwechsel für erforderlich: An die Stelle der eingeschränkten Sicht auf ein biologisch-medizinisches Krankheitssyndrom müsse ein »gesellschaftszentriertes« Verständnis von Altern und Demenz treten. Sie plädieren für eine Perspektivenerweiterung auf die sozialen Dimensionen, »so dass Menschen mit Demenz durch intensive Zuwendung und ein einfühlsames, dem jeweiligen Gegenüber angepasstes Kommunikationsverhalten durchaus ihre Sprache und einen Teil ihrer Erinnerungen zurückgewinnen können« (S. 55). Anstatt demente Menschen, neben Vergesslichkeit und dem Verlust kognitiver Fähigkeiten, auch unter der Last der »Alzheimerisierung« der Gesellschaft und der verordneten Entpersönlichung der Krankheit leiden zu lassen, sollte ihnen geholfen werden, ihr Leben menschenwürdig abschließen zu können. Paradigmatisch greifen die Autoren immer wieder auf die bekannte Langzeitstudie 2001 von David Snowden an katholischen Nonnen des Notre Dame Ordens in Kentucky, USA (S. 42ff.) zurück: Frauen, die im hohen Alter über Jahre keinerlei Gedächtnis- oder kognitiven Verlusterscheinungen aufwiesen, zeigten bei der post mortem histologischen Untersuchung des Gehirns zum Teil einen Demenzgrad 6, »das absolute Alzheimer-Endstadium«. Sie hatten ein degeneriertes Alzheimer-Gehirn, ohne irgendwelche Krankheitssymptome aufzuzeigen, was die Autoren der körperlich-seelisch-geistig gesunden Lebensweise und dem geschützten, förderlichen Gemeinschaftsleben der Klosterfrauen zuschreiben.

Den Autoren geht es nicht nur um individuelle Umgangsformen. Sie beschreiben auch bereits konkret erprobte Ansätze zur besseren sozialen Integration von Dementen durch »Akzeptanz, Einfachheit und Liebe« (S. 137–175) und die Erschaffung neuer personenbezogener sozialer Milieus. Eine »demenzfreundliche Kommune« zeichnet sich durch Respekt, Achtung der Menschenwürde und Schutz der Privatsphäre von körperlich und geistig schwächelnden alten Menschen aus. Einzelne Initiativen (»Aufbrüche«) in Gießen, Ravensburg, Augsburg, Berlin, Ostfildern und Freiburg werden dargestellt. Prof. Gronemeyer ist langjähriger Vorsitzender des »Vereins Aktion Demenz e.V. – Gemeinsam für ein besseres Leben mit Demenz«. Auch wenn die vorgeschlagenen Maßnahmen zeitweilig utopisch erscheinen mögen, das Fortschreiben gegenwärtiger Versorgungsdefizite potenzieren nur den katastrophalen Ist-Zustand. Die Lage verschärft sich zusehends über die persönliche und soziale Schmerzgrenze hinaus.

Angesichts der überhand nehmenden Verbürokratisierung in heilkundlichen und pflegerischen Berufsfeldern – z.B. die menschenunwürdige Pflege nach einem Leistungskatalog von rein körperorientierter Minimalversorgung –, plädieren die Autoren für eine »Re-Vergesellschaftung der Verantwortung« und rufen nach Akzeptanz, Sensibilität des Hinhörens, Geduld und Zuwendung im Umgang mit dementen Menschen. Obwohl Psychotherapie nicht direkt im Blickfeld der Autoren steht, sind dies aus Sicht des Rezensenten alles Eigenschaften, die zum Kernbereich der psychotherapeutischen Tätigkeit gehören. Gelingt es, über die rein individuell ausgerichtete Psychotherapie hinaus die therapeutische Arbeit paradigmatisch und operationell-handelnd als soziales und kulturelles Werk zu verstehen und umzusetzen, können Psychotherapeuten einen spezifischen Beitrag zur Erschaffung eines »dritten Sozialraum[s] der Nachbarschaft« neben der privaten und der institutionellen Pflege leisten. Demenz ist nicht nur ein biomedizinisches Syndrom. Sie beinhaltet eine psychische und psychosoziale Infragestellung unserer gesamten Gesellschaftsordnung. Diese Anliegen der Autoren berühren einen wichtigen Nerv der heutigen Gesellschaft und unseres eigenen Berufsethos.

Meine einzige Kritik an das Buch bezieht sich auf dessen verkürzenden antithetischen Gegenentwurf-Charakter. Die Autoren ziehen gegen ein eng gefasstes, biomedizinisches Demenzmodell hirnphysiologischer Veränderungen mit fortschreitendem Verlust kognitiver Fähigkeiten zu Felde. »Das niederschmetternde Ergebnis: Die meisten der vorherrschenden und mithin meinungsbildenden Forschungs- und Erklärungsansätze können bis heute in Wahrheit kein nennenswertes Verständnis oder gar einen Heilungserfolg für sich verbuchen« (S. 47). Die Kritik der Autoren an der Milliarden verschlingenden medizinischen und pharmazeutischen »Industrialisierung«, an der damit einhergehenden Gesundheitsideologie und am verkürzten Menschenbild ist durchaus berechtigt. Eine vertiefte Sensibilisierung für die moralischen und gesellschaftlichen Konsequenzen ist sicherlich vonnöten. Dennoch ist es bedauerlich, dass die Schattenseiten des medizinischen und pflegerischen Behandlungs- und Forschungs-»Betriebes« vor allem als Gegenfolie dienen, um ein nicht nur in der Medizin- und Pharmaforschung vorherrschendes »gefährliches« Menschenbild anzuprangern. Eine Würdigung der Lichtseite medizinischer und pharmazeutischer Forschung kommt hier zu kurz.

Das Buch schließt mit einem düsteren Blick in die Zukunft, »Was geschieht, wenn nichts geschieht« (S. 176–193) und »Zu guter Letzt« (S. 194–204), noch einmal mit einem Plädoyer für einen radikalen Perspektivenwechsel: »Lassen wir den Gedanken zu, dass die Demenz-Epidemie auch und vielleicht sogar in erster Linie ein soziales Phänomen ist, in seinen Ursachen und in seinen Konsequenzen […] eine Herausforderung für die Veränderungsfähigkeit unserer sozialen Milieus« (S. 198). Ein empfehlenswertes, spannendes, leicht verständliches und zeitweilig auch fragwürdiges Sachbuch.

Robert Ware      
November 2016

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