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Chamberlain, Sigrid: Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind., Psychosozial Verlag, 5. Auflage, Gießen 2010, 231 Seiten.


Welche Auswirkungen die nationalsozialistische Erziehung bis in die heutigen Tage hat, ist noch weitgehend unerforscht. Die Autorin analysiert die Inhalte besonders von zwei Erziehungsbüchern aus der Nazi-Zeit, in denen eine junge Ärztin, Johanna Haarer (1900 - 1988), den Umgang mit Säuglingen und Kleinkindern propagiert, der uns heute schaudern lässt. „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, sowie „Unsere kleinen Kinder“ sind von der nationalsozialistischen Ideologie geprägte Erziehungsratgeber, die in hoher Auflage erschienen. Unter leicht verändertem Titel („Die Mutter und ihr erstes Kind“) erschien das Erstlingswerk der Johanna Haarer zuletzt 1987, bei dem ihre Tochter, Anna Hurzel, als Co-Autorin mitwirkte.
Frau Chamberlain arbeitet heraus, dass die nationalsozialistische Erziehung nicht einfach mit der autoritären gleichzusetzen ist. Zwar ist sie auch autoritär und knüpft somit an den schon vor der Nazi-Zeit herrschenden Autoritarismus an. Es kommt jedoch wesentlich hinzu, dass in Haarers Texten eine systematische Störung der Bindung zwischen Mutter und Kind propagiert wird, die zu einer Bindungsunfähigkeit führt. In der „Kombination mit Gehorsam, Ordnungswut, Pflichtbewußtsein, Pünktlichkeit“ und Kamerratschaftsgeist wurden so empathiefreie Nazi-Schergen erzogen. Dabei war die „Säuglingspflege“ nach Haarers Muster das erste Glied in der nationalsozialistischen Erziehung, dem Hitler-Jugend oder BDM (Bund Deutscher Mädchen), Arbeits- und schließlich Militärdienst folgten.

Bereits zu Beginn des Lebens wurde der so wichtige Hautkontakt zwischen Mutter und Kind unterbunden. Berührung und Streicheln regen das Nervensystem des Kindes an und stimulieren so wichtige Funktionen wie das selbständige Atmen. Der Saugreflex des Kindes ist ungefähr 20 Minuten nach der Geburt am stärksten ausgeprägt. Wird das Kind nun, wie von Haarer gefordert, erst nach 24 Stunden erstmals angelegt, so ist es sehr wahrscheinlich, dass das Kind Schwierigkeiten mit dem Saugen hat. Auch die Milchbildung bei der Mutter wird durch das frühe Anlegen wesentlich stimuliert. Nur in den ersten zwei Tagen gibt es die sogenannte Kolostralmilch, die sehr reich an Antikörpern ist und unabdingbar für das relativ krankheitsanfällige Neugeborene ist, dessen eigenes Immunsystem sich erst noch entwickelt (vgl. Montagu, Körperkontakt, Stuttgart 2004).
Darüber hinaus reagieren Mütter, die unmittelbar nach der Geburt von ihren Kindern getrennt wurden, eher uneinfühlsam auf ihr Kind. „Sie waren ungeschickter bei der Versorgung des Babies; sie hatten mehr Schwierigkeiten beim Stillen, sie hielten das Baby seltener in En-Face-Position, das heißt, sie erschwerten den Blickkontakt“ (S. 29). Dass Versäumnisse in dieser sensiblen Phase nachgeholt werden könnten, dafür standen die Chancen schlecht, wenn die Mutter – und die Umgebung – nach den Richtlinien von Haarer vorgingen. Da heißt es etwa:

„Von vornherein mache sich die ganze Familie zum Grundsatz, sich nie ohne Anlaß mit dem Kind abzugeben. Das tägliche Bad, das regelmäßige Stillen und Wickeln des Kindes bieten Gelegenheit genug, sich mit ihm zu befassen, ihm Zärtlichkeit und Liebe zu erweisen und mit ihm zu reden.“ Oder auf derselben Seite: „Das Kind wird gefüttert, gebadet und trockengelegt, im übrigen aber vollkommen in Ruhe gelassen“ (S. 25f).

Die ganze Pflege sollte nach rigidem Plan geschehen, bei der nicht „gebummelt“ oder gar gespielt, geschweige denn an der Brust gelutscht oder sonst „getrödelt“ werden sollte. Immer nur das Nötigste.
Zärtlichkeiten und ausgiebige Zuwendung stehen im Geruch der Verwöhnung, wodurch ein kleiner Tyrann herangezogen werde. Dem soll dadurch vorgebeugt werden, dass der Säugling und später auch das Kleinkind, isoliert, ja eigentlich abgelegt oder -gestellt wird. Geschrei wird ignoriert, was die Isolation noch zu Todesängsten steigern dürfte.

Und Todesangst steht es [das Baby, BK] aus, wenn es Nacht für Nacht und Tag für Tag bis auf kurze Zeiten zwischendurch und wirklich von den ersten Minuten nach der Geburt an allein gelassen wird (S. 27).

Nach Haarer schreien Kinder aus drei Gründen: Fehler in der Pflege, etwa zu warm gekleidet; zarte Babies können Hunger haben und ihnen dürfen dann regelwidrig kürzere Abstände zwischen den Mahlzeiten eingeräumt werden, aber nur vorübergehend, bis sie kräftiger sind; kräftige Kinder schreien aus Zeitvertreib, weshalb hier der „dringende Rat“ gilt: „Schreien lassen“ (S. 34).

aus Haarer (1940, S. 114)Die „richtige“ Haltung beim Stillen kommt der Verweigerung des Antlitzes gleich. Die Augen sind jedoch das „Fenster zur Seele“ (Merleau-Ponty) und die En-Face-Position ist ein wesentlicher Teil der Interaktion. Die Erkundung des Gegenübers wird jedoch strikt unterbunden, was sich dann später beim Füttern fortsetzt, wo nicht „rumgeschmiert“ wird, weshalb dem Kleinkind die Ärmchen festgehalten werden.

Gemälde von Mary CassattWie anders ist da die Haltung auf dem Gemälde der amerikanischen Malerin Mary Cassatt (1844 – 1926).

Chamberlain erwähnt Gruen („Der frühe Abschied“, München 1988), der der Ansicht ist, dass der frühe Kindstod mit dem mangelnden „Augentanz“ zwischen Mutter und Kind in Zusammenhang steht. Wegen diesem grundlegenden Mangel ist der Akt der Selbstvergewisserung des Kindes nicht gelungen. Nach Gruen bedeutet es für den Säugling nicht nur Stress, wenn er einem Übermaß an Reizen ausgesetzt wird, sondern auch, wenn Reize ausbleiben, die er für seine Entwicklung unbedingt benötigt. „Gelegentlich wird der suchende, starre Blick beschrieben, durch den Babies, die mit Augenkontakt unterversorgt zu sein scheinen, ihre Bezugspersonen fixieren. Gruen nennt diesen Blick auch den Radar-Blick“ (S. 39).
Gefühlsabwehrende Menschen haben meist ein großes Interesse an Ordnung und Sauberkeit, da Gefühle in ihrem Erleben mit Unordnung und Strukturverlust einher gehen. Wen wundert es da, dass der Abschnitt über die sogenannte Reinlichkeit im ersten Halbjahr des Kindes in dem Buch „Die deutsche Mutter...“ mehr als 25 Seiten umfasst, indes die körperliche und geistige Entwicklung des Kindes in dieser Zeit mit einer halben Seite erledigt ist. Bei der Pflege ist viel von Ekel die Rede und vom Kampf um Sauberkeit.

„Es wird zunehmend unglücklich und unbehaglich, wenn es naß oder schmutzig ist. Es verlangt nach Sauberkeit. Haben wir es erst so weit, dann ist der Kampf schon halb gewonnen“ (Haarer 1940b, S.48)
Möglich, daß das Kind hier unglücklich ist, weil es spürt, daß der Ekel der Mutter ihm gilt, diesem kleinen Menschen, der all das Abscheuliche immer wieder hervorbringen und tun muß. Der Kampf, von dem hier die Rede ist, gilt dem Kind (S. 50f).

Überall ist vom Kampf die Rede, als befänden die Kinder sich bereits in Feindesland – und darauf sollten sie ja schließlich vorbereitet werden. Das Ergebnis sind emotional isolierte Massenmenschen, soweit sich die Individualität tatsächlich zerstören ließ. Dann gibt es keine Freundschaft unter den Menschen, höchstens Kameradschaft. Und die wird vom Massenmenschen, vor allem auch von unverbesserlichen Kriegern, immer wieder betont, eben weil sie der emotionalen Bindung nicht fähig sind.

Freunde stehen in einer direkten Beziehung zueinander. Kameraden hingegen tun das nicht. Sie sind nicht unmittelbar miteinander verbunden, sondern auf dem Umweg über eine Ideologie, einen Führer, ein Idol über Symbole, an die jeder einzelne symbiotisch gekettet ist, ohne die er ein Nichts ist (S. 83).

Es ist das erklärte Ziel dieser nationalsozialistischen Ratgeber, die Individualität nicht entstehen zu lassen. So ist denn oberstes Gebot der Gehorsam des Kindes. Die nach Haarer „aufgezogenen“ Kinder stehen unter ständiger Spannung, da sie auf der einen Seite strikten Regeln unterworfen sind und auf der anderen Seite von ihren Bedürfnissen bedrängt, die von den Erwachsenen nicht befriedigt werden oder durch deren harte Behandlung unterdrückt werden müssen. In alter psychoanalytischer Sprache wird hier ein Mensch herangezogen, der ständig von drohenden Triebdurchbrüchen bedrängt wird und nun aus Angst die eigene Kontrolle verstärkt.

Die Sprache in Haarers Texten ist von militärischen Begriffen durchsetzt. Da geht es um den Kampf mit dem Kind, aus dem die Mutter siegreich hervorgehen müsse. Da werden im Kommandoton Schlachten geschlagen, deren Ziel die Unterwerfung des Feindes (des Kindes!) ist. Um die Kapitulation des Feindes im eigenen Hause herbei zu führen, wurden mehr oder weniger drastische Mittel eingesetzt.

Über das schreiende Baby heißt es in einem typischen Satz: Es „wird nach Möglichkeit an einen stillen Ort abgeschoben, wo es allein bleibt, und erst zur nächsten Mahlzeit wieder vorgenommen wird. Häufig kommt es nur auf einige wenige Kraftproben zwischen Mutter und Kind an – es sind die ersten! - Und das Problem ist gelöst“ (Haarer 1938, S. 165). Das Leben mit dem Säugling ist aber, das wird immer wieder betont, noch relativ einfach. Denn, auch wenn er sich nicht fügen will, so muß er letztlich doch immer „tun oder mit sich geschehen lassen“, was die Mutter will (Haarer 1940b S. 167). […]
„... Auch das schreiende und widerstrebende Kind muß tun, was die Mutter für nötig hält und wird, falls es sich weiter ungezogen aufführt, gewissermaßen 'kaltgestellt', in einen Raum verbracht, wo es allein sein kann und so lange nicht beachtet, bis es sein Verhalten ändert. Man glaubt gar nicht, wie früh und wie rasch ein Kind solches Vorgehen begreift“ (Haarer 1938, S. 260) (S. 105).

Das ganze Vorgehen hat mehr von Dressur als von Erziehung, ja mutet die Sprache eher der Dingwelt entlehnt an. Der sogenannte Laufstall findet hier ebenfalls Anwendung. Er wird nicht dazu genutzt, vielleich mal für eine gewisse Zeit das Kind in modernen Kleinwohnungen 'aus den Füßen' zu haben, wobei immer noch Sichtkontakt und Interaktion möglich ist. Vielmehr war er ein Instrument, um das Kind abzustellen und zu isolieren. Die Empfehlung, den Laufstall in den Garten zu stellen, macht es kein bisschen besser.

Es ließen sich noch viele Beispiele anführen, die in dem vorliegenden Text zitiert sind. Es gibt auch positive. Die stammen allerdings nicht aus den Machwerken der Frau Dr. Haarer. So wurde der Autorin berichtet, dass es bis in die dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts im dörflichen Milieu in Hessen üblich war, die Kinder in einem Tuch bei sich zu tragen, eine Umgangsart mit dem Säugling, die von Haarer als „äffisch“ verhöhnt wurde.

Frau Chamberlain kann ihre These von der systematischen Erziehung zur Bindungslosigkeit nachvollziehbar und stimmig belegen. Sie greift dazu auf die Ergebnisse der modernen Säuglingsforschung und Bindungstheorie zu, die dazu reichlich Untersuchungen und Belege bereitgestellt haben. Eine Erziehung nach Haarer führte sicherlich zum unsicher ambivalent oder unsicher vermeidend gebundenen Menschen, vermutlich – strikt angewandt – sogar zu sogenanntem familiären Hospitalismus (S. 131).

Die Auswirkungen sind noch bis in die heutigen Tage zu bemerken, ähnlich, wie immer noch Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden werden. Mädchen, die der Nazidressur nach Haarer unterworfen wurden, wurden zu Müttern, die vom lebendigen Fühlen abgeschnitten sind und ihre eigenen Kinder in einem unvorstellbaren Ausmaß emotional allein lassen – sich oft dessen natürlich überhaupt nicht bewußt sind.
Ein Kind, dass seine Schmerzen nicht äußern darf, bzw. dafür geschlagen wird, lernt, dass es wichtig ist, Gefühle abzutöten, möglichst nicht mehr wahrzunehmen. Was Frau Chamberlain für die erste Generation „neuer Mütter“ beschreibt – und die Nazibarbarei währte ja „nur“ knapp 12 Jahre – wurde aber an spätere Generationen weitergegeben. Sei es direkt durch die Mütter oder direkt und indirekt durch Großmütter. Noch heute sehen wir PatientInnen in der Praxis, die unter den Folgen einer nicht aufgearbeiteten transgenerationalen Naziindoktrination leiden, ja von nicht unmittelbar verständlichen Selbsttötungsimpulsen gequält sind. Sie sind etwa Kinder in der vierten Generation und deren Geschichte, Erleben und Verhalten lässt sich durchaus in Chamberlains Worten beschreiben:

Das nationalsozialistische Kind hat früh erfahren, daß seine Geburt für die Mutter tödliche Gefahr heraufbeschwor. Es spürt auch immer wieder, daß es die starren, unlebendigen und gleichzeitig äußerst fragilen Strukturen der Mutter tatsächlich in Gefahr bringt: und zwar durch seine potentielle Eigenständigkeit, Spontaneität und Lebendigkeit. Kümmerliche Reste von Spontaneität könnte man im kindlichen Nicht-Funktionieren sehen, daß sich in kleinen Fehlern ausdrückt, die dem Kind „aus Versehen“ passieren. Gerade solche provozierten oft besonders heftige Wutausbrüche der Mutter (S. 158f).

Der vorliegende Text räumt in einem Kapitel mit dem Mythos vom liebenden Nazivater auf, der angeblich tagsüber an der Vernichtung unwerten Lebens beteiligt war und am Abend den liebevollen Vater gab. Möglich allerdings, dass diese Spaltung im Sinne der Borderline-Struktur gelang. Dann wird es aber auch im eigenen Hause immer wieder unkontrollierbare „Triebdurchbrüche“ gegeben haben.
Das Buch schließt mit einem Kapitel über Adolf Hitlers eigene Erziehung, die kaum einer übermäßig innigen und zärtlichen Beziehung zur Mutter entsprang, „wie immer wieder gemutmaßt wird, sondern das Verhältnis war mit großer Wahrscheinlichkeit von Anfang an gestört, vonseiten der Mutter mit Anforderungen an das Baby überfrachtet und damit anfällig dafür, symbiotisch zu entgleisen“ (S. 203).

Die Folgen der Naziideologie sind durchaus noch nicht überwunden. Der vorliegende Text macht einen wichtigen Schritt in Richtung einer Aufarbeitung „pädagogischer“ Einflüsse bis in die Jetztzeit und kann nur dringend der Lektüre empfohlen werden.

Dr. Bernd Kuck Bonn, April 2012     email

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